Der Nestor: Richard Abel Musgrave - aus Königstein
Seite 1 von 1 Neuester Beitrag: 26.03.06 19:38 | ||||
Eröffnet am: | 26.03.06 13:44 | von: kiiwii | Anzahl Beiträge: | 10 |
Neuester Beitrag: | 26.03.06 19:38 | von: antoinette | Leser gesamt: | 4.196 |
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obwohl ich seine Werke aus Studienzeiten kenne...
Der Nestor
Er stammt aus Königstein im Taunus. In Amerika wurde er zum wichtigsten Finanzwissenschaftler des 20. Jahrhunderts. Und lobt Marx
Von Karen Horn
Santa Cruz, Kalifornien. Ein strahlend schöner Morgen, Punkt elf Uhr. Die Luft schmeckt nach Salz, Möwen kreischen. Unterhalb der Straße rollen die mächtigen Pazifikwellen auf die Felsklippen zu und brechen mit Getöse. Ein bunt bemaltes Schild kündet von den Bewohnern eines der letzten Häuser in der "Residential Community", einer aus bescheidenen Bungalows bestehenden Seniorensiedlung in Nachbarschaft des hiesigen Ablegers der University of California: "Musgrave" steht da.
Musgrave - das sind Richard und Peggy, beide Finanzwissenschaftler; der Nestor der "Theory of Public Finance", dem nach Ansicht vieler Fachkollegen längst der Nobelpreis gebührt hätte, und seine einstige Schülerin und ständige intellektuelle Sparringspartnerin. Jedem Studenten der Volkswirtschaftslehre in Deutschland sind sie bekannt durch ihr Standardwerk "Die öffentlichen Finanzen", ein gemeinsam verfaßtes Lehrbuch, das auf Musgraves wichtigstem Werk "Finanztheorie" aufbaute. Es gibt kaum ein finanzwissenschaftliches Thema, in dem Musgrave keine prägenden Akzente gesetzt hat.
"Sie sind ja pünktlich!" entfährt es dem 95 Jahre alten Richard Musgrave an der Haustür fast vorwurfsvoll. Seine Frau, eine gebürtige Britin, habe nun also recht behalten. "Ich hatte ihr gesagt, Pünktlichkeit, das war das alte Deutschland. Jetzt ist das junge Deutschland dran."
Musgrave ist seit 1940 Amerikaner, geboren wurde er 1910 als Deutscher - in Königstein im Taunus. Sein deutsches Erbe hat ihn nachhaltig geprägt. Nicht nur sein Akzent verrät die Herkunft, mehr noch ist es die staatswissenschaftliche Tradition, in der Musgrave intellektuell verankert ist.
In dieser Tradition geht es darum, das kollektive Handeln effizient zu organisieren. Mit seiner Theorie des öffentlichen Haushalts hat Musgrave ein mittlerweile als selbstverständlich geltendes Ordnungsschema erfunden. Es skizziert die Ansatzpunkte zur Legitimierung von Staatseingriffen und stellt zugleich ein Raster für die praktische Budgetpolitik dar: "Allokation", "Distribution" und "Stabilisierung". In der Marktwirtschaft sorgt zwar üblicherweise der Wettbewerb dafür, daß Produktionsfaktoren wie Arbeit und Kapital dort eingesetzt werden, wo sie am produktivsten sind. Manchmal klappt das aber nicht - zum Beispiel dann, wenn Menschen die Nebenwirkungen ihrer wirtschaftlichen Entscheidungen auf die Allgemeinheit nicht berücksichtigen. Da muß nach Musgrave der Staat in die Bresche springen - und beispielsweise eine Kohlendioxydsteuer erheben, die das Tun der Emittenten verteuert.
Daß solches Marktversagen durch kollektives Handeln zu korrigieren ist, ist für Musgrave selbstverständlich - und sogar eine Art positive Facette der Conditio humana. "Ich bin den himmlischen Mächten - welche auch immer es sein mögen und wenn es sie überhaupt gibt - dankbar, daß sie den Markt mitsamt dem Marktversagen erfunden haben. Wenn der Markt alles lösen könnte, wäre die menschliche Vernunft überflüssig", sagt Musgrave, im Gespräch hoch konzentriert und präzise wie stets. Im Grunde sei es schön, daß den Menschen Raum bleibe für Moral und bewußte Gestaltung.
Am wichtigsten ist ihm selbst die Verteilung. "Das Thema Verteilung ist für das, was man unter einer ,guten Gesellschaft' versteht, entscheidend, sowohl in ethischer als auch in praktischer Hinsicht." Um so mehr befremdet es den Gelehrten, der sich als "Labour Party Man" begreift, daß Karl Marx heute weitgehend tabu sei: "Der Klassenkampf ist doch noch heute sehr real: zum Beispiel zwischen Alt und Jung, zwischen Arm und Reich, zwischen Arbeitsplatzbesitzern und Erwerbslosen, zwischen Mitgliedern verschiedener religiöser Gruppen." Mit seinem Hinweis auf die Spannungen in der Gesellschaft habe Marx doch recht gehabt, auch mit dem Hinweis auf den Klassenkampf zwischen den Einkommensgruppen. Ihn zu ignorieren, wie es die amerikanische Regierung mit ihrer "lächerlichen und absurden" Steuerpolitik tue, sei einfach dumm.
Musgrave empfindet es zudem als naiv und zugleich frevelhaft, die Ungleichheit der Menschen als etwas Naturgegebenes hinzunehmen und wie die meisten Liberalen statt dessen vor allem auf die Herrschaft des Rechts zu achten, mit gleichen Regeln für jedermann - ohne Rücksicht auf deren praktisches Ergebnis. "Ich bin ein ergebnisorientierter Mensch", sagt Musgrave herausfordernd.
Und noch eine Katze läßt er aus dem Sack: Auch mit einem zweiten wesentlichen Element des liberalen Ansatzes fühle er sich gar nicht wohl, und zwar mit der naturrechtlichen Begründung des Privateigentums des Menschen an sich selbst und den Früchten seiner Arbeit, wie sie John Locke formuliert habe. Auch die von den Liberalen hoch gelobten Institutionen Markt und Wettbewerb seien, vom ethischen Gesichtspunkt aus betrachtet, doch "nicht eben hübsch". "Eine soziale Ordnung, die den Wettbewerb zu ihrer moralischen Grundlage macht, finde ich abscheulich und inakzeptabel." Der einzelne sei stets Mitglied einer Gemeinschaft - was mindestens ebenso wichtig sei wie das Individuum in seiner Rolle als eigeninteressiertes Wirtschaftssubjekt. Dabei bittet Musgrave, man möge ihn nicht mißverstehen: "Ich will nicht so wahrgenommen werden, als ob ich nahelegte, daß der Individualismus überwunden werden kann, und als ob ich einer organischen Gesellschaftsvision anhinge."
Und doch fragt sich: Wie paßt ein solcher wissenschaftlicher Ansatz zu einer Biographie, die von den Schrecknissen einer aus dem Ruder gelaufenen politischen Macht zu künden weiß? Schließlich hatte Richard Musgrave zwei jüdische Großeltern und verließ Deutschland in den dreißiger Jahren angesichts der Bedrohung durch das Nazi-Regime auf Dauer. Ein Stipendium führte ihn 1933 - nach dem Studium der Nationalökonomie in München ("Da ging's vor allem ums Skifahren"), in Exeter und in Heidelberg - an die amerikanische University of Rochester. Und da blieb er dann.
Zum Politikskeptiker wurde er trotz der Geschehnisse in der Heimat nicht. Anders als der eigene Vater, mit dem ihn die Vielfalt der Interessen und Talente ebenso verband wie das polyglotte internationale Dasein.
Curt Abel, der sich aus unbekannten Gründen schon früh Abel-Musgrave nannte, führte ein faszinierendes Leben zwischen Medizin, Chemie, Lehrtätigkeit, Journalismus und literarischer Aktivität. Er übersetzte das "Dschungelbuch" von Rudyard Kipling, er verfaßte Romane, Dramen und sozialkritische Werke. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde der enttäuschte Monarchist erst recht zum Zweifler an der Demokratie, der den Glauben an den wohlmeinenden Politiker verloren hatte.
Sein Sohn hingegen ist dafür offenbar viel zu fest in der idealistischen Tradition Deutschlands verankert. "Ich kam immer aus einer Ecke, wo man dem Staat zutraute, etwas ausrichten zu können, eher jedenfalls als dem Markt", bekennt Musgrave. Prägender noch als die praktische Anschauung der zwanziger Jahre seien für ihn der aus dem 19. Jahrhundert ererbte Zeitgeist gewesen sowie die beflügelnde Aufbruchstimmung in der Weimarer Republik - eine gewisse Romantik und der Traum von Gemeinschaft. "Daß der deutsche Staat 1933 ins Verderben steuerte - das war ja nicht das, worauf sich unsere politischen Hoffnungen richteten."
Und was dann geschah, änderte nichts an dieser optimistischen Sichtweise? "Im Saldo ist die Demokratie doch eine gute Sache, auch wenn Fehler passieren." Natürlich könne auch ein demokratisch verfaßtes Gemeinwesen aus dem Ruder laufen, aber das sei in der Regel nicht so schlimm. Beispielsweise habe das Chaos der sechziger Jahre in Amerika immerhin zur Befreiung der Schwarzen und zur "Civil Rights Legislation" geführt.
Nicht einmal der Freiburger Schule fühlt sich Musgrave sonderlich verbunden - jener Gruppe von Wissenschaftlern, die aus den Erfahrungen des Dritten Reiches gelernt hatte, daß es den Staat wirksam zu begrenzen gilt, aus den Erlebnissen der Weimarer Republik aber auch, daß der Staat zugleich "stark" sein muß, um die Bürger und ihre Freiheit schützen zu können. "Ich bin verteilungsorientierter", sagt er. Seine eigenen Vorbilder waren - noch in Deutschland - Otto von Zwiedineck-Südenhorst und Otto Pfleiderer sowie - dann in Amerika - vor allem Paul Samuelson ("der größte Ökonom des Jahrhunderts") und der Keynes-Interpret Alvin Hansen. Und der große Schwede Knut Wicksell.
In das geistige Klima im Amerika des New Deal fügte sich der emigrierte Musgrave nahtlos ein - damals, als enthusiastische junge Wissenschaftler unter dem fernen Einfluß von John Maynard Keynes daran arbeiteten, eine neue, aktive Wirtschaftspolitik zu begründen. "Wir glaubten alles neu zu erfinden", sagt Musgrave, und er lächelt milde. Zahlreiche Konterfeis der Weggefährten und geistigen Väter zieren sein Arbeitszimmer, teilweise ausgeschnitten aus der "Geschichte der politischen Ökonomie" von Horst Recktenwald.
"Mögen Sie nicht noch ein wenig Kaffee?" unterbricht Peggy Musgrave. Was sie in die bereitstehenden Tassen gießt, ist ein ganz unamerikanisches, wohlschmeckendes Gebräu, das Tote zum Leben erwecken könnte. "Ich mag es, wenn der Kaffee ein bißchen Körper hat", sagt die zupackende Professorin und lacht. "Und ein wenig Stollen? Amerikanischen Stollen, fürchte ich", sagt sie und zeigt auf ein in der Küche angerichtetes Gebäck mit buntem Zuckerguß. Zum Abschied muß dann noch ein Foto gemacht werden - und zwar vor dem farbenfrohen Ölgemälde einer mediterranen Landschaft in des vieltalentierten Meisters vollgepacktem Arbeitszimmer, signiert: R.A.M.
Text: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 26.03.2006, Nr. 12 / Seite 48
Der Mensch
Richard Abel Musgrave wurde am 14. Dezember 1910 in Königstein geboren. Nach dem Studienabschluß als Diplom-Volkswirt in Heidelberg emigrierte Musgrave 1933 in die Vereinigten Staaten. Zunächst setzte er seine Studien an der University of Rochester und dann an der Harvard University fort. 1937 wurde er promoviert und errang die amerikanische Staatsbürgerschaft. Von 1941 bis 1947 arbeitete er in der Forschungsabteilung des Board of Directors im Federal Reserve System, dann ging er als Lecturer an das Swarthmore College und 1948 für zehn Jahre als Professor of Economics an die University of Michigan nach Ann Arbor. Es folgten drei Jahre an der John Hopkins University, wo er Peggy traf und heiratete, und vier Jahre an der Princeton University. Von 1965 bis zu seiner Emeritierung 1981 lehrte Musgrave an der Harvard University; dann folgte er seiner Frau als Adjunct Professor an die University of California in Santa Cruz.
Das Werk
Richard Musgrave ist der wohl einflußreichste Finanzwissenschaftler der Nachkriegszeit. Er hat das zuvor wenig strukturierte Fachgebiet logisch geordnet; seine Gliederung der Budgetfunktionen in die Abteilungen Allokation, Distribution und Stabilisierung ist nicht mehr wegzudenken.
Gemeinsam mit dem Nobelpreisträger Paul Samuelson hat er das Konzept der "öffentlichen Güter" entwickelt - jener Güter, die vom Markt theoretisch nicht in der gesellschaftlich erwünschten Menge bereitgestellt werden, weil ihr Nutzen bei den Bereitstellern nicht hinreichend ins Gewicht fällt. Auch hat Musgrave das Konzept der "meritorischen Güter" erfunden - jener Güter, die von Individuen wider besseres Wissen nicht genügend nachgefragt werden und die nach seiner Ansicht von einem wohlmeinend paternalistischen Staat deshalb trotzdem bereitgestellt werden sollten - zum Beispiel Pausenmilch für Schulkinder.
Text: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 26.03.2006, Nr. 12 / Seite 48
MfG
kiiwii
US-Amerikaner.
Erstaunlich, Königstein ....
Solche Genies wollten die Verbrecher
von Nazis vernichten.
Grüße
B.
Ich war im Inet und habs nicht gesehen.
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Phoenix
Sendetermin Sa, 25.03.06, 20.15 Uhr
Fr, 31.03.06, 18.30 Uhr
Sa, 01.04.06, 14.00 Uhr
Das Reisebüro des Josef Schleich
1938 erfolgt der Anschluss Österreichs an Hitlerdeutschland. Für die jüdische Bevölkerung beginnt die systematische Diskriminierung und Verfolgung. Juden wird die Ausreise gestattet, wenn sie ihr gesamtes Vermögen zurücklassen.
Der Grazer Josef Schleich findet eine Möglichkeit, Juden außer Landes zu bringen. Zwischen 1938 und 1941 hat er vermutlich 20.000 Juden geholfen - vielen, ohne Geld dafür zu verlangen.
Das erlaubte Reisegeld für die Juden beträgt 10 Reichsmark. Nur wenige Staaten sind bereit, die mittellosen Flüchtlinge aufzunehmen. Josef Schleich betreibt zu dieser Zeit eine Hühnerzucht. Für die jüdische Kulturgemeinde hält er landwirtschaftliche Kurse ab und stellt dafür Zeugnisse aus. Viele Juden erhalten mit diesem Zeugnis seiner "Landwirtschaftsschule" ein begehrtes amerikanisches Visum.
Bald organisiert Josef Schleich auch selbst die Ausreise Tausender Juden über die steirisch-slowenische Grenze nach Zagreb. Sonderbar scheint, dass die deutsche Gestapo den Menschenschmuggel duldet, doch Schleich hat offenbar gute Kontakte. Schließlich eröffnet er mit Genehmigung der Behörden in Wien ein Ausreisebüro für Juden. Zu dieser Zeit befinden sich hier fast 130.000 Juden und die ersten Transporte rollen in die Konzentrationslager. Über das Ausmaß von Schleichs Tätigkeit gibt es keine genauen Aufzeichnungen, möglicherweise hat der Grazer Geschäftsmann von 1938 bis 1941 20.000 Juden außer Landes gebracht, viele ohne dafür Geld zu verlangen.
Der elegante Geschäftsmann, der sich gerne mit schönen Frauen und Luxus umgibt, befindet sich mit seinen Aktivitäten immer auf Messers Schneide. Zwölf Mal wird er von der Gestapo verhaftet , kommt aber immer wieder frei. Im März 1941 wird er endgültig von der Staatspolizei in Graz festgenommen und vor Gericht gestellt.
Dokumentation von Elisabeth Stratka und Gerald Navara (2001)