Die Diktatur der Aktualität // Mediale Perfidität
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Eröffnet am: | 28.01.06 22:47 | von: prochsikomi | Anzahl Beiträge: | 5 |
Neuester Beitrag: | 29.01.06 13:05 | von: prochsikomi | Leser gesamt: | 2.094 |
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Götz Kubitschek
Wer ein Beispiel für jahrzehntelang vorgetragene und dennoch ohnmächtige konservative Kulturkritik sucht, wird dort fündig, wo es um die moderne Informations- und Kommunikationstechnik geht. Bereits das Telefon gab Anlaß zu einem ebenso scharfsinnigen wie wirkungslosen Kommentar: Als ein französischer Adliger einen Industriellen aufsuchte, bei dem er hoch verschuldet war, präsentierte ihm dieser sein neues Telefon, eines der ersten überhaupt in der Stadt. Der Zufall wollte, daß es klingelte, während man beim Abendessen saß. Der Industrielle sprang auf und dröhnte ausführlich in den Hörer. Dann kam er zurück und fragte stolz: „Nun? Was sagen Sie dazu?“ Der Adlige hatte seine Mahlzeit beendet und sprach: „Dies also ist das Telefon: Man klingelt, und Sie laufen.“
In dieser kleinen Anekdote steckt schon das ganze Problem. Es wird sichtbar, wenn man den Industriellen kurz stutzen und dann modern erwidern läßt: „So ist es. Und deshalb verdiene ich Geld, während Sie in Ruhe zu Ende speisen.“
Kurz gesagt: Wer sich aufscheuchen läßt, wenn es darum geht, als erster aus einer Information ein Geschäft zu machen, verliert seine Ruhe und gewinnt einen Wettlauf. Und weil die Neugier auf dieses Neue eine Konstante des Mensch-seins ist, bleibt jeder konservative Appell zum Verzicht auf ein Weiterdrehen des Rads so aussichtslos wie romantisch: Der Mensch ist, wie er ist, und der Erfindung von Fernsehen, Mobiltelefon und Internet eignet Zwangsläufigkeit.
Das bedeutet: Konservative Kritik an der „Perfektion der Technik“ (um einen berühmten Buchtitel Friedrich Georg Jüngers zu nennen) ist scharfsinnig und hilflos zugleich, denn sie benennt mit frappierender Weitsicht eine Entwicklung, die unausweichlich im Menschen angelegt ist. Der Soziologe Arnold Gehlen (siehe auch den Beitrag auf Seite 14 dieser Ausgabe), gewiß einer der stärksten Köpfe von rechts, sprach deshalb stets davon, daß es keine zwingende Kulturkritik am technischen Fortschritt gebe. Allenfalls ließe sich sagen, daß die revolutionierte Kommunikations- und Informationstechnologie janusköpfig sei – wie jede Neuerung übrigens. Vor dem Fernseher sitzen Idioten und Gebildete, und letztere verarbeiten im besten Fall das Gesehene und machen es fruchtbar.
Solches festzustellen, ist gleichzeitig eine Kapitulation vor dem Unvermeidlichen und eine Verlagerung des Einwirkens auf die Wenigen und auf den richtigen Umgang mit den Mitteln, die nun einmal da sind. Auf die Lehrbarkeit dieses „richtigen Umgangs“ setzte noch 1976 der konservative Publizist Gerd-Klaus Kaltenbrunner in einem sehr aufschlußreichen Vorwort zu dem von ihm herausgegebenen Bändchen über die „Macht der Meinungsmacher“.
Heute sind wir ernüchtert: Den Umgang mit der elektronischen Grundausrüstung eines jeden Haushalts kann man – dreißig Jahre später – getrost und ohne jede Übertreibung als verheerend bezeichnen. Die von dem Verhaltensforscher und Nobelpreisträger Konrad Lorenz prophezeite Verhausschweinung des Menschen hat längst einen unappetitlichen Grad erreicht.
Bereits bei den Jüngsten beginnt die Verarbeitung des Gehirns zu Brei. Unglaubliche 800.000 Kleinkinder sitzen in Deutschland abends nach zehn noch vor dem Fernseher, seelisch malträtiert vom TV-Mord, rasenden Bildwechseln, menschlichem Abgrund. Der Nachmittag selbst gehört so oder so dem „Babysitter Fernsehen“: Pro Kind (bis 15 Jahre) beträgt der Fernsehkonsum in Deutschland über drei Stunden täglich, die Programmgestaltung erfolgt wahllos oder ist dem Kind selbst überlassen. In jedem fünften Kinderzimmer steht ein Fernseher, und es gibt Berichte, wonach selbst in manchen deutschen Kindergärten ständig der Kanal für die Kleinsten läuft.
Über die Folgeschäden des hemmungslosen Fernsehkonsums gibt es grundsätzlich keinen Streit mehr: Abstumpfung der Sinne, geistige Trägheit und körperliche Verfettung, verzögerte Sprachentwicklung bis hin zur Sprachstörung, soziale Isolation und schwere seelische Störung sind periodisch diskutierte Probleme, gestritten wird allenfalls darüber, ob es für kleine Kinder überhaupt so etwas wie sinnvolles Fernsehen gibt, oder ob nicht das Medium an sich frühestens mit der Einschulung genutzt werden sollte, aber auch dann nur für höchstens eine halbe Stunde am Tag. Dafür plädiert unter anderem der Psychiater Manfred Spitzer (siehe Interview auf Seite 3).
Jedoch ist’s damit nicht genug: Wenn der Fernseher aus ist, fährt der Computer hoch, starren Kinderaugen auf den Gameboy, klingelt das Mobiltelefon. Spätestens in der vierten Klasse sind zwei Drittel aller Schüler Besitzer eines Handys, und es gibt Schulen, an denen es den Lehrern nicht gelingt, zumindest während des Unterrichts ein Telefonverbot durchzusetzen.
Die Auswirkungen vollverkabelter, dauerinformierter Existenz auf Geist, Seele und Körper Erwachsener werden im Vergleich zu den Studien am Kinde so gut wie gar nicht thematisiert. Dabei geht es gar nicht um jene schrecklichen Beispiele völlig verwahrloster freaks, die Wochen und Monate vor dem Bildschirm sitzend ihre Existenz nurmehr als eine virtuelle begreifen können.
Es geht vielmehr um ein weiteres Massenphänomen: um die „Diktatur der Aktualität“ (Kaltenbrunner). Diese Diktatur beginnt dort, wo selbst jene ständig auf dem neuesten Stand gehalten werden, die aus dem, was sie in Echtzeit aus allen Teilen der Erde vernehmen, gar keine Handlungen ableiten können oder müssen. Wie viele Millionen Stunden saßen die Deutschen vor den Fernsehern, um möglichst rasch den jüngsten Sprung in der Opferzahl eines Tausende von Kilometern entfernten Tsunami zu erfahren? Darin steckte kein Mitleid, sondern der Wahn, informiert sein zu müssen.
Eine „Diktatur der Aktualität“ liegt aber auch in dem Trend, die Form mit dem Inhalt zu verwechseln. Man kann geradezu von einer Powerpoint-Seuche sprechen, die jeden ergriffen hat, der mit Hilfe zahlloser, sich bewegender Diagramme die Inhaltsleere seines Vortrags zu vertuschen sucht. Zuletzt ist auch das millionenfache Kurztelefonat („Stehe gerade an der Kasse bei Lidl“), beliebt auch als Kurzmitteilung (SMS), eine Spielform des Zwangs zum stündlichen Abgleich des neuesten Stands.
Auf der Strecke bleibt dabei alles, was Zeit zum Reifen benötigt: im Bereich des Denkens das Durchdachte, im Bereich der Seele das Stabile. Der Halt: Das ist der Anruf, die Kurznachricht, die E-Post. Nicht erreichbar zu sein, nicht informiert zu werden, ist der Alptraum unserer Zeit. Nicht erreichbar zu sein, ist jedoch die Grundvoraussetzung, sich der Diktatur der Aktualität zu entziehen.
Schöne neue Medienwelt: Wenn der Fernseher aus ist, fährt der Computer hoch, starren Kinderaugen auf den Gameboy, klingelt das Mobiltelefon foto: Picture-Alliance / OPS
Grünes Licht für "Rohtenburg"
Der in Frankfurt vor Gericht stehende Armin Meiwes wird wider Willen zum Filmstar. Der Antrag seiner Anwälte auf eine Einstweilige Verfügung gegen den Start des Kannibalen-Dramas "Rohtenburg" wurde abgelehnt. Termingerecht zur Urteilsverkündung soll der Film deutschlandweit anlaufen.
Berlin - Die Rolle sei ein "echter Leckerbissen" erklärte Schauspieler Thomas Kretschmann ("King Kong") der "Bild". Für Armin Meiwes, der die Macher von "Rohtenburg" inspirierte, ist der Film ein geschmackloses Projekt, das seine Person ausbeutet. Sein Widerstand gegen das von Atlantic Streamline produzierten Drama mit Kretschmann in der Hauptrolle blieb jedoch bislang folgenlos: Das Landgericht Kassel hat den Antrag auf Erlass einer Einstweiligen Verfügung gegen die Aufführung abgelehnt, wie der Senator Film-Verleih heute in Berlin mitteilte. Der Kinostart am 9. März sei somit nicht gefährdet.
REUTERS
Meiwes bei einer Gerichtsverhandlung im Januar: Filmstar wider Willen
Für diesen Tag ist auch die Urteilsverkündung in dem neu aufgerollten Mordprozess gegen Meiwes am Frankfurter Landgericht angesetzt. Meiwes' Anwalt Harald Ermel hatte den Antrag damit begründet, der Film sei reißerisch und stigmatisiere seinen Mandanten.
Der Vorstand von Senator Entertainment, Christopher Borgmann, zeigte sich mit dem Urteil zufrieden. "Wir waren von Anfang an sicher, dass Herr Meiwes mit seinen Anschuldigungen bei Gericht nicht durchkommen würde", sagte Borgmann. Er betonte: "'Rohtenburg' ist eine intensive Erfahrung der Extraklasse und letztlich nur inspiriert von wahren Ereignissen. Deshalb lassen wir uns von einem Straftäter wie Herrn Meiwes eine Herausbringung nicht verbieten." Anwalt Ermel erwägt laut einem Bericht des Magazins "Focus" weitere rechtliche Schritte.
Meiwes hat die Rechte an seiner Lebensgeschichte der Hamburger Fernsehproduktionsfirma Stampfwerk überlassen; Firmeninhaber Stampf erklärte der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", er habe dafür keinen Cent gezahlt. Meiwes sei an einer objektiven Darstellung des Falles interessiert, er wolle sich über seine Tat nicht bereichern. Auch hätten mehrere Hollywood-Firmen bei Meiwes angefragt und Summen von mehreren hunderttausend Euro geboten. Meiwes habe aber kein Interesse gezeigt.
Stampf plant für Ende 2006 einen Dokumentarfilm über Meiwes, bis dahin wird womöglich auch Rosa von Praunheims "Dein Herz in meinem Hirn" in den deutschen Kinos gelaufen sein. Auch gegen diesen, von der Tat Meiwes' inspirierten Film erwäge Ermel juristische Schritte, so der "Focus".
BILDER DIE KEINER SEHEN WILL UND SOLLTE!
die würde des menschen ist unantastbar!
KATTOWITZ
Messehalle eingestürzt - Tote und Verletzte
Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Fieberhaft versuchen Rettungskräfte in Kattowitz die Menschen aus den Trümmern einer eingestürzten Halle herauszuholen. Es herrscht strenger Frost. Bisher bargen sie mindestens zwölf Tote und Dutzende Verletzte, noch immer sind etwa hundert Menschen verschüttet. mehr...
Der Neurowissenschaftler und Buchautor Manfred Spitzer über die katastrophalen Auswirkungen des Fernsehens
Moritz Schwarz
Herr Professor Spitzer, den Satz „Fernsehen macht dumm“ halten viele Zeitgenossen in seiner Pauschalität selbst für eine dumme Aussage. Es komme ganz auf die Inhalte an. - Falsch, sagen Sie in Ihrem Buch „Vorsicht Bildschirm!“, Fernsehen an sich ist das Problem.
Spitzer: Im Kindergartenalter ist Fernsehen tatsächlich aus rein formalen Gründen schon ein Problem. Stellen Sie sich vor, Sie wollen sich die Welt erschließen mit all ihren Objekten und komplexen Zusammenhängen. Hierzu brauchen Sie die ganze Welt, das heißt mehr als nur eine bunte Bild- samt einer Klangsoße. Sie müssen die Dinge anfassen können, in den Mund stecken, es muß riechen und schmecken, die Bilder müssen eine Tiefe haben etc. Wir wissen, daß sich Säuglinge gerade dadurch, daß sie alle Sinne benutzen, die Welt erschließen. Wenn man ihnen dann nur einen Bruchteil der Sinneserfahrungen anbietet, ist das ungünstig für die Gehirnentwicklung.
Klingt zwar einleuchtend, könnte aber auch nur eine oberflächliche Annahme sein. Bitte erläutern Sie Ihre Datenbasis.
Spitzer: Der Zusammenhang ist empirisch nachgewiesen: Fernsehen im Kindergartenalter führt nach einer groß angelegten Längsschnittstudie an über 1.000 Kindern zu einer starken Beeinträchtigung der beruflichen Karriere. Diese Kinder wurden in den Jahren 1972 und 1973 in einer kleinen Stadt in Südneuseeland erfaßt. Dann gingen die Wissenschaftler alle zwei bis drei Jahre zu den Familien, erhoben genaue Daten über beispielsweise Intelligenz der Kinder und der Eltern, über die Aktivitäten, das Umfeld etc. Heute sind diese Menschen über dreißig und man kann sich genau anschauen, was aus ihnen geworden ist. Unter anderem kam
heraus: In der Gruppe, die mit fünf Jahren weniger als eine Stunde ferngesehen hatten, befinden sich mehr als vierzig Prozent Hochschulabgänger und weniger als zehn Prozent Schulabbrecher. In der Gruppe, die mehr als drei Stunden täglich ferngesehen hatte, waren es weniger als zehn Prozent Hochschulabgänger und etwa 25 Prozent Schulabbrecher.
Die Erklärung ist doch ganz einfach, die „Dummen“ schauen mehr fern!
Spitzer: Nein! Man hat den Intelligenzquotienten der Kinder und auch den der Eltern gemessen und kann diese Daten aus dem Zusammenhang herausrechnen. Er bleibt dann immer noch bestehen.
Wenn Sie auf fremde, ältere Experimente zurückgreifen statt auf eigene Untersuchungen, was ist dann so spektakulär neu an Ihrem Buch, das ein beachtliches Medienecho hervorgerufen hat?
Spitzer: Das Neue an meiner Art, die Dinge zusammenzufassen, besteht in der Neurowissenschaft.
Sie sprechen von Ihrer naturwissenschaftlichen Perspektive als Gehirnspezialist, während die Dinge sonst von Soziologen untersucht werden?
Spitzer: Eben, wir haben heute nicht nur soziologische, statistische Zusammenhänge, die Neurowissenschaft liefert Wirkungsmechanismen, das heißt sie zeigt uns, wie das Fernsehen auf die Gehirnentwicklung ungünstig einwirkt.
Nämlich?
Spitzer: Mäuse, die in einem reizarmen, langweiligen Käfig aufwachsen, haben unterentwickelte Gehirne. Nun scheint das Fernsehen zwar bunt und laut, aber für das Kleinkind ist es reizarm: Da gibt es nichts zu riechen und zu schmecken, man kann nichts anfassen, das Gesehene hat keine Tiefe. Es fehlen also etwa zwei Drittel des normalen Input. Wenn nun Kinder im Alter von zwei Jahren zwei Stunden vor dem Fernseher verbringen, also etwa zwanzig Prozent ihrer wachen Zeit, dann muß das negative Auswirkungen auf die Gehirnentwicklung haben.
Der Erziehungswissenschaftler und Medienpädagoge Stefan Aufenanger von der Universität Mainz zum Beispiel wirft Ihnen „Polarisierung“ vor und meint, „daß Fernsehen nicht nur durch seine Inhalte, sondern auch durch seine Struktur kognitiv anregend sein kann“.
Spitzer: Es gibt eine kleine Gruppe von Menschen - Journalisten, Medienleute, zum Teil auch solche, die sich Medienpädagogen nennen -, die derartige Zusammenhänge einfach nicht zur Kenntnis nehmen wollen. Ich denke aber, die Fakten sprechen eine eindeutige Sprache.
Also, die auch von Eltern sehr geschätzte „Sendung mit der Maus“ ist in Wirklichkeit Gift für die Gehirnentwicklung der Kleinen?
Spitzer: Wenn Kinder gelegentlich fernsehen, wird es wahrscheinlich nicht sehr viel schaden. Und wenn dies geschieht, ist es sicherlich kein Fehler, wenn gute Sendungen laufen. Die „Sendung mit der Maus“ oder „Sesamstraße“ sind vom Inhalt her für Kinder nicht schädlich.
Sie bezeichnen die Teletubbies, ein für Kleinkinder konzipiertes Programm, als „kriminell“. In Baden-Württemberg sendet seit Ende Dezember gar ein Säuglings-Sender namens „Baby TV“. Drei Millionen Kabelkunden können ihn bereits empfangen.
Spitzer: „Baby-TV“ grenzt aus meiner Sicht in der Tat an ein kriminelles Angebot: Wir wissen, daß kleine Kinder durch das Fernsehen nur Schaden nehmen können. Dies ist geistig und körperlich zu verstehen: Wir wissen, daß der Stoffwechsel der Kinder vor dem Fernseher geringer ist als in Ruhe - weil die muskuläre Aktivität vor dem Fernseher abnimmt -, und wir wissen weiterhin, daß Bewegungsarmut der Knochenentwicklung schadet. Auch hier sind die negativen Effekte des Fernsehens nachgewiesen. Fernsehen macht also nicht nur dumm, es macht auch dick und schadet der Knochenentwicklung. Wenn man dies weiß, ist eigentlich klar, daß man sein Kleinkind nicht vor den Fernseher setzen sollte.
Also gilt doch: Es kommt auf den richtigen Umgang mit dem Medium an!
Spitzer: Dies gilt für Jugendliche. Wenn man schon das Medium nicht ganz abschaffen kann - und übrigens, man kann: Jede Familie mit Kindern kann den Fernsehapparat abschaffen und damit einen wesentlichen Beitrag für die positive kindliche Entwicklung leisten! -, so sollte man dafür sorgen, daß so wenig wie möglich ferngesehen wird. Die heute üblichen drei Stunden - im Durchschnitt! - sind definitiv zuviel.
Das Schlüsselwort heißt also weiterhin „Medienkompetenz“ erlernen?
Spitzer: Hierzu gibt es einige wenige Studien, die nahelegen, daß Anleitung und Training zum Umgang mit Fernsehen bei Kindern und Jugendlichen leider keinen günstigen Effekt haben. Auf deutsch, es ist gut gemeint, bringt aber nichts.
Soziologen beklagen neben Sex und Gewalt im Fernsehen vor allem den Konsum seichter Massenunterhaltung als sozialschädlich. Wie sieht das aus neurobiologischer Sicht aus?
Spitzer: Die von Ihnen sogenannte „seichte Massenunterhaltung“ ist wahrscheinlich das geringste Problem. Sie wird vor allem von älteren Menschen konsumiert, wo das Fernsehen am wenigsten schadet. Ältere Menschen müssen lediglich abwägen, ob sie durch das Fernsehen nicht zu stark vereinsamen, denn hierzu trägt Fernsehen bei allen Menschen, jung und alt, deutlich bei.
Also was empfehlen Sie? Den Fernseher abschaffen?
Spitzer: Das ist in der Tat am einfachsten, insbesondere wenn man Kinder zu Hause hat.
Sie haben Ihren Fernseher in den Keller gestellt, moderieren allerdings selbst wöchentlich die Sendung „Geist und Gehirn“ im Bayerischen Fernsehen.
Spitzer: Ich habe den Fernseher nicht nur in den Keller gestellt, sondern ganz abgeschafft. Meine Sendung kann ich deswegen nicht sehen, meine Kinder auch nicht. Hier muß man abwägen: Ich habe fünf Kinder, die keineswegs nur ihren Papa am Freitagabend auf BR-Alpha sehen würden. Als wir früher noch einen Fernsehapparat hatten, gab es jeden Abend Diskussionen darum, wer wann was sehen darf oder warum nicht. Das war mir irgendwann zuviel: Ich wollte nicht, daß sich unsere Konversation nur noch um den Fernsehkonsum dreht. Der Fernseher kam weg, und ich bin heute sehr froh darüber. Meine Kinder mittlerweile auch: Ich höre gelegentlich Kommentare wie: „Ach Papa, das ist eigentlich gar nicht schlecht, daß wir keinen Fernseher mehr haben.“
Eine weitere zentrale These Ihres Buches: Fernsehen steigert die Gewaltbereitschaft. Fernsehen an sich oder nur gewalthaltige Inhalte?
Spitzer: Natürlich sind es die Inhalte, die dafür sorgen, daß der Fernsehkonsum zu mehr realer Gewalt führt. Zu beachten ist hier, daß 1980 über fünfzig Prozent der in Deutschland gezeigten Fernsehprogramme Gewalt enthielten - mittlerweile sind es über achtzig Prozent! Zu beachten ist weiterhin, daß gerade im Kinderprogramm sehr viel Gewalt zu sehen ist und daß das reine Erwachsenenprogramm gar zu 100 Prozent Gewaltdarstellungen enthält. Bedenken Sie weiterhin, daß in Deutschland abends um 22 Uhr noch 800.000 Kinder im Kindergartenalter fernsehen, um 23 Uhr sind es noch 200.000, und auch um Mitternacht sind es noch 50.000.
Wo ist der Beweis, daß dies auch zu mehr Gewalttaten führt?
Spitzer: Genaue Daten liegen für die USA vor. Ein Epidemiologe hat dort ausgerechnet - und die Ergebnisse in einer angesehenen wissenschaftlichen Zeitschrift publiziert -, daß allein auf das Konto der Einführung des Fernsehens in den USA jährlich etwa 10.000 Morde, 70.000 Vergewaltigungen und 700.000 weitere Gewaltdelikte gehen. Für Deutschland gibt es nur eine gute Untersuchung zum Thema Selbstmord: Es wurde ein Film ausgestrahlt, bei dem der Held sich vor einen Zug warf. Die Anzahl der Eisenbahnsuizide ging in den Wochen nach der Ausstrahlung deutlich in die Höhe. Durch entsprechende statistische Vergleiche konnte man weiter zeigen, daß tatsächlich mehr Selbstmorde verübt wurden und nicht nur diejenigen, die sich sonst vielleicht erschossen hätten, sich nun, weil sie ein anderes Vorbild hatten, vor den Zug geworfen haben. Der Autor der Studie hat daraufhin versucht, beim Fernsehen zu erwirken, daß der Film nicht noch einmal ausgestrahlt wird. Dies geschah trotzdem - mit entsprechendem „Erfolg“: Wieder brachten sich eine ganze Reihe von Menschen um. Der Vorgang ist aus meiner Sicht unglaublich!
„Fernsehtote“ - und gemeint sind nicht die Toten im „Tatort“ - ist ein Begriff, den wir nach Ihrer Meinung in unseren Sprachschatz aufnehmen sollten.
Spitzer: Wie schon vorhin angedeutet, hat das Fernsehen enorm negative Auswirkungen auf unsere Gesundheit. Und natürlich sterben Menschen am Fernsehkonsum. Allein an der fernsehbedingten Dickleibigkeit sterben in Deutschland jährlich mehrere tausend Menschen.
Doch auch für Skatrunden, Kaffeekränzchen und Büroarbeit gilt: null Bewegung und vermehrter Verzehr von Kuchen, Keksen, Schokolade und Knabberzeug.
Spitzer: Die Mechanismen, warum Fernsehen dick macht, sind vielfältig: Beispielsweise bezieht sich die an Kinder gerichtete Fernsehwerbung zu 65 Prozent auf Nahrungsmittel, die zu hundert Prozent ungesund sind. Wer sie ißt, wird dick. Fernsehkonsum führt weiterhin zu ungesunderem Eßverhalten - weniger Essen zu den Mahlzeiten, mehr Snacks zwischendurch - und führt dazu, daß man sich weniger bewegt, insbesondere die unwillkürlichen kleinen Bewegungen nehmen ab. Deswegen führt das Fernsehen selektiv zur Dickleibigkeit, anders als beispielsweise das Lesen. - Im übrigen ist das Lesen kein Problem, denn rein zeitlich ist es bedeutungslos: Bei der deutschen Jugend stehen drei Stunden täglichem Fernsehen ganze 17 Minuten täglichem Lesen gegenüber.
Wenn sich Fernsehen so destruktiv auf unsere Gesellschaft auswirkt, warum wird dies dann von den etablierten Parteien nicht ernsthaft und vorrangig thematisiert?
Spitzer: Es wird Zeit, daß wir umdenken. Fernsehen verschmutzt die Köpfe der Kinder und Jugendlichen. Man muß es deswegen behandeln wie Umweltverschmutzung! Auch bei diesem Thema galt vor dreißig Jahren, daß die Leute geglaubt haben, man könne nichts daran ändern; die Produktion verdrecke nun einmal die Umwelt. Wir haben erlebt, daß dies kein „Naturgesetz“ ist. Wenn wir uns Mühe geben, können wir etwas ändern. Natürlich sind die Politiker gefragt.
Kinderschutzaktivisten - etwa wie die Aktion „Kinder in Gefahr“ - gelten nicht selten als „Spinner“ oder gar „autoritäre Ewiggestrige“.
Spitzer: Ich selbst wurde auch schon oft als „oberlehrerhaft“ oder als „Spaßbremse“ bezeichnet. Aber wer schreibt das? Natürlich die Medien selbst!
Wen halten Sie für diese Mißstände konkret für politisch verantwortlich?
Spitzer: Einiges von diesen Effekten des Fernsehkonsums haben diejenigen zu verantworten, die in den achtziger Jahren das kommerzielle Fernsehen eingeführt haben.
Das war nicht allzu konkret. - Genau gesagt wurde das Privatfernsehen unter einer CDU-Regierung eingeführt. Zu welcher demokratischen Sanktionsmaßnahme würden Sie Eltern und Wählern gegenüber dieser Partei raten?
Spitzer: Ich würde allen Eltern raten, sich mit den politischen Repräsentanten welcher Partei auch immer auseinanderzusetzen.
Ist es nicht geradezu ein Skandal, daß dies ausgerechnet durch die „konservative“ CDU geschehen ist, der doch in dieser Frage viel eher eine behütende politische Kompetenz zuzuschreiben ist als den „progressiven“ Kräften?
Spitzer: Nun, auch der König von Bhutan, ein Buddhist und sehr human denkender Mensch, der 1998 die Maximierung des Bruttosozialglücks - nicht des Bruttosozialprodukts! - als Staatsziel formuliert hat, hat 1999 das Fernsehen eingeführt. Wichtig erscheint mir: Es kann nicht sein, daß sich eine Gesellschaft überhaupt nicht darum kümmert, was Kinder und Jugendliche mit dem größten Teil ihrer Zeit anfangen. Es kann auch nicht sein, daß wir die Inhalte den Marktinteressen einiger weniger überlassen. Wir müssen hier neu nachdenken - wenn wir dies nicht tun, dann wird unsere Gesellschaft kulturell und vor allem auch wirtschaftlich sehr rasch weiter an Bedeutung verlieren. Wir dürfen nicht weiter zusehen!
Prof. Dr. Manfred Spitzer Der Wissenschaftler und Publizist ist Autor des derzeit vieldiskutierten Buches „Vorsicht Bildschirm! Elektronische Medien, Gerhirnentwicklung, Gesundheit und Gesellschaft“ (Klett, 2005), das erstmals den Einfluß der „Bildschirm-Medien“ aus neurowissen-schaftlicher Sicht untersucht. Spitzer, der im Bayerischen Fernsehen auch die Sendung „Geist und Gehirn“ moderiert (freitags auf BR-Alpha), ist Leiter des Psychiatrischen Universitätsklinikums in Ulm und Inhaber des Lehrstuhls für Psychiatrie. Zwei Gastprofessuren in Harvard und ein Forschungsaufenthalt am Institut for Cognitive and Decision Sciences der Universität Oregon prägten seinen For-schungsschwer-punkt im Grenz-bereich der kognitiven Neuro-wissenschaft und Psychiatrie. Geboren wurde er 1958 in Darmstadt. Foto: privat
Zoten und Quoten
Von Peter Luley
Seine Gäste interessieren ihn eigentlich nur mäßig, seine Gags sind zotig statt charmant. Dennoch hat "Wetten, dass..?"-Moderator Thomas Gottschalk wieder die Konkurrenz ausgestochen: 13,7 Millionen Zuschauer, Marktanteil von über 40 Prozent fürs ZDF. Das kann nur der Mähnenmann.
Gesetzt den Fall, eines Tages dächte sich jemand die Wette aus, jede einzelne "Wetten, dass..?"-Sendung anhand eines Gastes, eines Showacts und einer Wette exakt datieren zu können - mit der gestrigen Auftakt-Ausgabe des Jahres 2006 hätte er eine harte Nuss zu knacken. Auf der Couch Tennisheld Boris Becker, dazu die Popper von Depeche Mode und als sportive Außenveranstaltung ein Motorrad, dass mit Beiwagen schneller eine Piste runtersausen will als Ski-Ass Stephan Eberharter auf zwei Brettern: Diese Kombination wäre in den achtziger Jahren genauso vorstellbar gewesen wie in den Neunzigern oder eben gestern.
"WETTEN DASS...?": BEWÄHRTES VOM MÄHNENMANN
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Böswillig gewählte Beispiele, natürlich. Mit den Stichworten "zur Feier des 250. Mozart-Geburtstags aus Salzburg gesendet" sowie "sehr viele Kinder bieten Herz- und Trommelfell-erweichend die 'Kleine Nachtmusik' dar" ließe sich die Show leichter einordnen. Insgesamt aber war tatsächlich alles wie immer und irgendwie zeitenthoben bei dem ZDF-Unterhaltungs-Großformat, das am 14. Februar 1981 mit Frank Elstner zum ersten Mal über die Bühne ging - wobei das eigene 25-jährige Jubiläum gestern dezent unerwähnt blieb.
Moderator Thomas Gottschalk, 55, abgesehen von einer kurzen Unterbrechung durch Wolfgang Lippert 1992/93 nun auch schon seit fast 20 Jahren dabei, erledigte seinen Job zum 112. Mal gewohnt routiniert - was bei ihm bekanntlich heißt, in Interviews keinen Hehl aus seinem nur oberflächlichen Interesse zu machen, die Leute ihren Kram promoten zu lassen und irgendwie zu versuchen, möglichst viele Pointen zu setzen.
Hochstimmung und tiefe Dekolletés
Zur Hebung seines Frivolitätsniveaus hatte er die passenden Gäste eingeladen: Neben dem neuerdings als Synchronsprecher tätigen Boris Becker ("Himmel und Huhn"), der nach verlorener Wette vorübergehend als Mozart verkleidet dasitzen musste, waren der in Salzburg lebende Rennfahrer Ralf Schumacher nebst Gattin Cora, der österreichische Finanzminister Karl-Heinz Grasser und seine Frau Fiona Swarovski, die Schauspieler Friedrich von Thun und Jan Josef Liefers sowie die Operndiva Cecilia Bartoli als Wettpaten im Einsatz.
Die Damen sorgten für die nötige Dekolleté-Tiefe und wirkten auf diese Weise kommunikationsstiftend: Ob seine Frau nicht viel zu schön sei für einen Politiker, warf Gottschalk Grasser hin - "gibt's da nicht EU-Richtlinien? Bei Eichel war das Erotischste ja der Name". Im selben Stil wurde später Becker bekalauert, er wisse ja auch nicht, wen er gerade umgelegt habe.
Zu wirklicher Entertainer-Form lief Mähnenmann Gottschalk erst gegen Ende auf, als er Wettschulden in Form eines Papageno-Duetts mit Cecilia Bartoli beglich und die Abmoderation inklusive Schalte ins mal wieder nach hinten gedrängte "Aktuelle Sportstudio" mit schönem Schmäh auf Österreichisch erledigte. Das hatte tatsächlich den Charme des Unperfekten und - nicht nur wegen des pflichtgemäßen Überziehens - die Aura der großen alten Samstagabend-Shows. Mit Willen zur Sentimentalität konnte man den großen Blonden kurz als letzten Show-Dino aus der Tradition Hans-Joachim Kulenkampffs und Peter Frankenfelds empfinden.
Da war doch noch was - die Wetten!
Zunehmend nebensächlich sind im Lauf der Jahre die Wetten selbst geworden. Taugte die Frage, was der kleine Mann zu Hause so alles einstudieren und leisten kann, früher zum Mitfiebern, so verfolgt der gesättigte Zuschauer von heute eher achselzuckend, ob es das Mitglied einer Berliner Rhythmus-Comedy-Gruppe schafft, innerhalb von zwei Minuten 45 von 50 aufgespannten Regenschirmen einhändig zu schließen (nein) oder ob 20 Menschen auf einer Schubkarre Polka spielen können (ja). Da muss schon ordentlich Begleitprogramm serviert werden, um das Interesse wach zu halten: Gestern gab's neben Depeche Mode viel Geschmachte von Eros Ramazzotti/Anastacia bis zu James Blunt und den Sugababes.
"Moderiert Gottschalk noch mit 70 'Wetten, dass..?'", fragte die "Bild"-Zeitung am Samstag unentschieden zwischen Besorgnis, Ehrfurcht und Fassungslosigkeit und stellte ein computersimuliertes Bild des greisen Showmasters daneben. Ganz auszuschließen ist das wohl nicht. Zwar hat Gottschalk seinen gut dotierten ZDF-Vertrag zunächst nur um ein Jahr bis Ende 2007 verlängert. Aber wenn weiterhin über zwölf Millionen Zuschauer einschalten - gestern im Durchschnitt gar 13,7 - und dem ZDF Marktanteile von über 40 Prozent bescheren, dann kann das noch ewig so weitergehen.
Die anderen Sender haben ohnehin resigniert: Die ARD trat mit der Komödie "Suche impotenten Mann fürs Leben" an (9,3 Prozent Marktanteil), und RTL erreichte mit der x-ten Wiederholung des Fantasy-Abenteuerfilms "Die vergessene Welt" lediglich 2,18 Millionen Zuschauer.
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gruß
proxi