List der Geschichte


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Neuester Beitrag: 27.03.03 14:00
Eröffnet am:27.03.03 14:00von: calexaAnzahl Beiträge:1
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4691 Postings, 8708 Tage calexaList der Geschichte

 
  
    #1
27.03.03 14:00
Im Schatten des Irak-Krieges wird sich die Bundesregierung leise aus den schwierigen innenpolitischen Reformen zurückziehen - diese Einschätzung hört man in diesen Tagen häufiger. Doch das Gegenteil wird passieren.

Die von der Außenpolitik kommenden Impulse verstärken den Reformdruck, statt von ihm abzulenken. Eine Auswirkung der Irak-Krise ist klar absehbar: Frankreich und Deutschland wollen die EU-Sicherheitspolitik schneller als bislang zu einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunion (ESVU) weiterentwickeln. Das erfordert politischen Willen, aber auch Geld. Wie soll es jedoch bereit gestellt werden, wenn die gestressten Sozialsysteme nicht nur stets höhere Beiträge, sondern auch erhebliche Staatszuschüsse erfordern?

Die Bundesregierung kommt gar nicht an Reformen vorbei, die die Sozialsysteme, aber auch den Bundeshaushalt entlasten und mehr Wachstumsdynamik schaffen. Andernfalls leidet die europapolitische Gestaltungskraft Deutschlands weiter. Wer als kranker Mann Europas empfunden wird, den nimmt man schwerlich ernst, wenn er mit Initiativen zur beschleunigten Integration wuchern will. Schon deshalb ist der Versuch der Bundesregierung, die Krise der EU zu überwinden, kein Ablenkungsmanöver, sondern verstärkt eher den Druck auf Reformen. Der Koalition ist das durchaus bewusst.


Höhere Ausgaben für Verteidigung

Hinzu kommen die unmittelbaren budgetären Zwänge. Selbst wenn es in Berlin noch keine fertige Planung gibt, wie die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) zu retten und dann weiterzuentwickeln ist, steht eines fest: Die Verteidigungskomponente wird dazugehören. Sowohl der Kanzler als auch der Außenminister machen sich derzeit mit dem Gedanken vertraut, dass selbst begrenzte Schritte hin zu einer europäischen Verteidigung höhere Ausgaben erforderlich machen. In der neuen Ausgabe der Zeitung "Die Zeit" hat der Kanzler erstmals eingeräumt, dass "wir uns über die Ausrüstung der Bundeswehr und über ihre Finanzierung unterhalten müssen". Anders werde Europa keine eigenständige Rolle spielen können.

Nicht nur in Deutschland ist die Armee nicht mehr auf die heutige Gefährdung zugeschnitten. Voraussichtlich Mitte des Jahres wird die EU feststellen, dass ein 1999 in Helsinki beschlossenes Planziel (Headline Goals) erreicht ist. Das bedeutet, dass die Mitgliedsstaaten Streitkräfte von 60.000 Mann für friedenserhaltende und friedensschaffende Maßnahmen innerhalb von maximal 60 Tagen verlegen und mindestens ein Jahr lang einsatzfähig halten können. Fast vier Jahre hat die EU, in deren Mitgliedsstaaten über eine Million Soldaten unter Waffen stehen, für dieses bescheidene Ziel gebraucht.

Die Lücken, die bei den militärischen Fähigkeiten der EU-Partner klaffen, sind bekannt. Die Verteidigungsgruppe des EU-Verfassungskonvents hat die Schwächen zusammengefasst: Sie betreffen das Führungs- und Kommunikationssystem, die strategische Aufklärung und Absicherung der eingesetzten Verbände, den Luft- und Seetransport und die "Fähigkeit zum effektiven Einsatz".

Mit diesen Fragen werden sich Franzosen, Belgier, Luxemburger und Deutsche beschäftigen müssen, wenn sie Ende April ihren Sondergipfel zur Rettung von GASP und ESVU abhalten. Denn selbst wenn die Briten nach Tony Blairs Fiasko in der Irak-Politik wirklich kooperativer sein sollten, wie sie es jetzt andeuten: Sie verweisen zu Recht darauf, dass alle schönen Pläne die Europäische Union wenig weiterbringen werden, solange die Mitgliedsstaaten das "harte Ende der GASP", so der Labour-Abgeordnete Peter Hain, nämlich die Verteidigung, vernachlässigen.

Es wäre allerdings falsch, einfach den Etat aufzustocken. Deutschland wird auch schneller als bislang geplant die Bundeswehr umbauen müssen. Das bedeutet: Verzicht auf Wehrpflichtige und auf Gerät, das für die künftigen Aufgaben nicht erforderlich ist. Vermutlich wird das auch schwierige Entscheidungen über Standortschließungen und den Verzicht auf ganze Waffengattungen bedeuten - vorausgesetzt, dass die Bundesregierung die von ihr selbst propagierte Rollenspezialisierung tatsächlich will.


Institutionelle Reformen

Selbst wenn die Stärkung der militärischen Fähigkeiten gelingen sollte, würde sie der EU noch nicht zu einer Außen- und Sicherheitspolitik verhelfen, die sie zum ernst zu nehmenden Mitspieler auf der internationalen Bühne macht. Die von Frankreich und Deutschland vorgeschlagenen institutionellen Reformen, wie die Mehrheitsabstimmung und die Einsetzung eines EU-Außenministers, sind eine notwendige Ergänzung.

Doch auch dann fehlt noch ein entscheidendes Element, sozusagen das weiche Ende: das gemeinsame außenpolitische Verständnis, etwa über das Verhältnis zu den USA und zu den multilateralen Institutionen. Man wird darüber keine endlose Selbstfindungsdebatte führen können; völlig ausklammern lassen sich diese Fragen jedoch nicht, wenn eine neue Spaltung wie beim Irak-Konflikt verhindert werden soll.

Gerhard Schröder ist mit einem fast pazifistisch anmutenden Nein zum Krieg gestartet. Nun muss er die Rüstung stärken, um Europas Spaltung zu überwinden und die EU-Außenpolitik voranzutreiben. Eine List der Geschichte, die wohl niemand erwartet hat.
© 2003 Financial Times Deutschland

So long,
Calexa
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