Rind und Bock als Gärtner


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Neuester Beitrag: 05.12.02 22:02
Eröffnet am:05.12.02 22:02von: foscaAnzahl Beiträge:1
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2504 Postings, 9119 Tage foscaRind und Bock als Gärtner

 
  
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05.12.02 22:02
Artenreiche Biotope machen hierzulande viel Arbeit. Die sollen nun Tiere übernehmen

von Jörg Albrecht

Es gibt nicht viele Menschen, die von sich behaupten können, sie hätten jemals einen Wachtelkönig gesehen. Der amselgroße Rallenvogel trifft bei uns, wenn überhaupt, spät aus seinem Überwinterungsgebiet ein, erledigt unauffällig sein Brutgeschäft und verschwindet im August schon wieder nach Afrika. Ganz im Gegensatz zu seinem unscheinbaren Wesen steht der Bekanntheitsgrad von Crex crex: Baudezernenten oder Straßenplanern schwillt die Zornesader, wenn sie den Namen nur hören. Denn Crex crex ist geschützt, und wo er vorkommt, da kann es schwierig werden mit der Neubausiedlung oder dem Autobahnzubringer.

Auch Naturschützern bereitet die Ralle gelegentlich Kopfschmerzen. Unter der Hand nennen sie ihn "Problemvogel des Feuchtgrünlandes". Warum Problemvogel? Das hat schon Eugen Roth treffend geschildert: "Die Wiesenralle, Knarrer, Schnärz, kommt erst im Mai anstatt im März. Ihr Nest macht sie im grünen Gras, als wäre sie der Osterhas. Die Kinderliebe lässt zu fest sie manchmal sitzen auf dem Nest, den Bauern merkt sie erst zu spät, drum wird sie oft mit abgemäht." Was müsste man tun, um den Wachtelkönig zu schützen? Erstens feuchte Wiesen unter Schutz stellen. Zweitens spät mähen, am besten nicht vor September. Drittens aber unbedingt mähen, denn verstrauchte oder verbuschte Wiesen schätzt die Ralle gar nicht. Weil aber der Bauer seine Wiese gern trocken hat und sein Heu zeitig einfährt und nächstens den Laden ohnehin wegen der Milchquote dichtmacht, hat der Wachtelkönig schlechte Karten.

Wie sieht "potenziell natürliche Vegetation" in Deutschland aus?

Man fragt sich sowieso, wie die Natur einen Vogel mit derart speziellen Ansprüchen hat hervorbringen können. Schließlich gibt es die Sichel erst seit der Bronzezeit, die Sense fand frühestens seit den Karolingern Verbreitung, und das Mähen von Grünland zur Heugewinnung kam erst richtig auf, als der Bauer seine Schweine und Rinder nicht mehr zur Mast in den Wald treiben durfte. Und der Wachtelkönig ist ja nicht allein mit seinen Extravaganzen; auch Schmetterlinge und andere Insekten sind auf bestimmte Mahdrhythmen angewiesen - wenn eine Pfeifengraswiese zur Unzeit flachgelegt wird, verschwindet, um nur ein Beispiel zu nennen, der Wiesenknopf-Ameisenbläuling im Handumdrehen.

In solchen Fällen behilft man sich gern mit dem Begriff "Kulturfolger". Da in Deutschland aber jeder Quadratmeter Boden irgendwann unter den Pflug genommen, gerodet, beweidet, gemäht, bewässert, trocken gelegt, aufgeforstet, eingedeicht oder sonstwie bearbeitet wurde, kann man getrost alles, was hierzulande grünt und kreucht, als Kulturfolger bezeichnen.

Das hat den Naturschutz schon immer vor ein Dilemma gestellt. Natur ist zwar noch da. Aber praktisch nirgends in Mitteleuropa sieht sie so aus, wie sie möglicherweise aussähe, hätte der Mensch sie nicht in Besitz genommen. In ihrer Verlegenheit haben Vegetationskundler den Ausdruck "potenzielle natürliche Vegetation" (pnV) ersonnen. Immer dann, wenn es darum geht, sich vorzustellen, welchen Anblick ein bestimmter Landstrich böte, wenn man ihn einfach in Ruhe ließe, fällt irgendwann das Kürzel pnV. Und immer dann gibt es Streit. Potenzielle natürliche Vegetation sei in Deutschland, abgesehen von wenigen Extremstandorten wie dem Hochgebirge oder dem Wattenmeer, dichter, in sich geschlossener Wald, sagen die Geobotaniker. Als Beweis dient ihnen erstens Tacitus ("Germanien ist schrecklich mit seinen Wäldern"). Zweitens der Augenschein: Zäunt man eine ausreichend große Fläche ein und wartet lange genug, dann keimen nacheinander Stauden, Sträucher, schließlich Bäume. Eine Art verdrängt die andere, und in einem abgeriegelten Deutschland würde wohl irgendwann die Buche dominieren. Drittens, und hier geht es zu den harten Fakten, führen Botaniker die Pollenanalyse ins Feld. In Mooren und am Grunde mancher Seen finden sich konservierte Pflanzensamen. Diese zeigen, dass vor der letzten Eiszeit, während des so genannten Eem-Interglazials vor 120 000 Jahren, Deutschland zunächst von der Birke, dann von der Kiefer, der Eiche, der Hasel, der Eibe und der Linde besiedelt wurde. Gräsersamen, überhaupt irgendwelche Samen, die nicht von Bäumen stammen, finden die Palynologen erst viel später, im Holozän, als der moderne Mensch erschien, sein Vieh in den Wald trieb, Bäume schneitelte und erste Ackerböden rodete. Was in den Augen der meisten Geobotaniker beweist: Deutschland ist eigentlich Urwaldland, nicht besonders artenreich, aber immerhin Natur pur.

Dumm für den Wachtelkönig, den Wiesenknopf-Ameisenbläuling oder was sich sonst noch auf Feld und weiter Flur herumtreibt. Bei konsequent betriebenem Naturschutz im Sinne eines "Prozessschutzes", der den Dingen einfach seinen Lauf lässt, wäre es bald vorbei mit der heimischen Artenvielfalt. Wer Arten schützen will, das weiß man längst, muss Biotope schützen. Das sind im Zweifelsfall: Trockenrasen, die gemäht werden wollen. Heideflächen, die entkusselt, Schafsweiden, die behütet werden müssen. Hecken, die auf den Stock zu setzen sind. Die artenreichsten Biotope, muss man leider sagen, machen hierzulande die meiste Arbeit. Weshalb sie auch akut bedroht sind. Nach der kleinbäuerlichen Landwirtschaft geht es mittlerweile dem gesamten Agrarsektor an den Kragen. Grünland rechnet sich nicht mehr, weil moderne Hochleistungskühe ihre exorbitanten Milchmengen nur dann liefern, wenn sie mit speziellem Kraftfutter gepäppelt werden. Die Heubauern auf der Schwäbischen Alb verkaufen inzwischen ihr Raufutter bis nach Norddeutschland, in die Niederlande oder in die Schweiz - an Großstädter, die ihren Pferden etwas Gutes gönnen. Klingt kurios, ist es aber nicht. Überall, von der Eifel bis zur Rhön, vom Westerwald bis nach Oberbayern, stehen Grünflächen zur Disposition. Fachleute schätzen, dass in den nächsten Jahren rund eine Million Hektar aufgegeben werden müssen. Die Frage ist: Was geschieht dann?

Im Ernst glaubt niemand, dass ehrenamtliche Helfer Deutschlands Kulturlandschaft nach Feierabend instand halten könnten. Wer aber soll Landwirte dafür bezahlen, dass sie keine Milch produzieren, sondern überschüssiges Gras, das dann, ja was, verbrannt? kompostiert? jedenfalls entsorgt werden müsste? Mit der potenziellen natürlichen Vegetation ist es auch so eine Sache. Selbst bis zum Buchenwald bleibt ein dorniger Weg, angefangen bei der Distel und noch lange nicht zu Ende mit der Schlehe.

In dieser Zwickmühle steckt der Naturschutz seit Jahren. Gesucht wird ein Weg, Kulturland wenigstens teilweise verwildern zu lassen, ohne seinen Charakter ins Barbarische zu kehren. Den will jetzt ein wachsender Kreis von Enthusiasten gefunden haben. Nicht ohne dabei ein Dogma zu schlachten. Und nebenbei, natürlich, ein neues zu errichten.

Die Holländer, seit je nicht zimperlich beim Umkrempeln ihrer Landschaft, machten in den achtziger Jahren den Anfang. Eingepolderte Teile von Flevoland, mühsam dem Meer abgerungen, stellten sie unter Naturschutz, nachdem es mit der geplanten Industrieansiedlung nicht recht klappen wollte. Und dann machten sie den Bock zum Gärtner. Genauer gesagt: Sie setzten Heckrinder und Konik-Pferde aus. Das Heckrind, eine Rückzüchtung aus den zwanziger Jahren, ähnelt im Aussehen dem ausgestorbenen Auerochsen. Und die Konik-Pferde, eine polnische Rasse, kommen dem gleichfalls ausgestorbenen Tarpan nahe. "Entdomestikation" lautete das Ziel. Keine Fütterung, kein Überwintern im Stall, die Milch der Kühe tranken die Kälber. Das Erstaunliche geschah: Rinder und Pferde kamen zurecht und betätigten sich erfolgreich als Landschaftsgestalter. Hielten die Vegetation kurz, aber so, dass ein abwechslungsreiches Muster entstand. Im Schutz einzelner Gebüsche wuchsen junge Bäume heran, die vom Vieh nicht verbissen werden konnten. Mittlerweile ähnelt das Gebiet Oostvardersplassen, in dem die Herden umherziehen, einer halb offenen Parklandschaft.

Das holländische Beispiel hat Schule gemacht. "Neue Modelle zu Maßnahmen der Landschaftsentwicklung mit großen Pflanzenfressern" diskutierten kürzlich die Teilnehmer einer Tagung in Brakel, Westfalen, initiiert von dem Paderborner Tierökologen Bernd Gerken. Da zeigte sich: Die großen Graser haben eine erstaunliche Verbreitung gefunden. Heckrinder weiden in Westfalen, Galloways im Landkreis Mühldorf am Inn. In der südlichen Frankenalb experimentiert man mit Schafen und Ziegen, im Solling mit Rotwild, in Polen mit dem Wisent und dem Mufflon. Nicht immer werden die Tiere sich selbst überlassen, aber immer handelt es sich um kleine Herden, also um extensive Beweidung unter möglichst natürlichen Bedingungen.

Was das Schönste ist: Es gibt inzwischen die passende Theorie. "Megaherbivoren" wie Wildpferd und Wildesel, aber auch Mammut, Waldelefant, Wollnashorn, Bison oder Wasserbüffel hätten die Landschaft Mitteleuropas demnach bis ins späte Pleistozän systematisch offen gehalten und artenreiche Lichtungen garantiert. Nur muss anschließend etwas schief gelaufen sein. Denn vor knapp zehntausend Jahren starben die meisten dieser großen Grasfresser aus. Kamen sie mit dem Klima nicht mehr zurecht? Hat sie der Homo sapiens ausgerottet? Jedenfalls gab es damals ein massives Vordringen des Waldes, dem mit einer gewissen Verzögerung Ackerbau und Viehzucht entgegenwirkten. Der neuen Theorie zufolge gab es also den Sündenfall des Menschen - nur sei er in Windeseile darangegangen, das Paradies, aus dem er sich leichtsinnig selbst vertrieben hatte, unter Einsatz seiner Nutztiere halbwegs zu rekonstruieren.

Die Megaherbivorentheorie klingt ein bisschen zu schön, um wahr zu sein. Und mit den Dogmatikern von der Pollenanalysefront liegen ihre Anhänger selbstredend im schönsten Streit. Wie hätten wir's denn ursprünglich gern? Wachtelkönig oder Schwarzspecht, Wiesenbläuling oder Buchenrotschwanz? Die Wahrheit liegt, wie ein Teilnehmer der Diskussion in Brakel anmerkte, ganz sicher nicht in der Mitte.  

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