Wg Amok-Lauf: die armen Lehrer - von wegen
Seite 2 von 2 Neuester Beitrag: 24.03.09 01:56 | ||||
Eröffnet am: | 20.11.07 01:27 | von: daxcrash200. | Anzahl Beiträge: | 44 |
Neuester Beitrag: | 24.03.09 01:56 | von: daxcrash200. | Leser gesamt: | 6.559 |
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Noten - schulpädagogisch bedacht
Das Thema „Leistungsmessung“ in der Schule wäre an sich ja eine Erklärung durchaus wert. Dass es in Sachen Ausbildung des Nachwuchses um die Erbringung von Leistung geht, d.h. sachgerechte Anstrengung pro Zeit, versteht sich ja durchaus nicht von selbst. Vielmehr ist die Forderung, sich einen bestimmten Stoff in festgelegter Zeit anzueignen (oder gar nicht) und ihn in limitiertem Zeitrahmen auf Anforderung zu reproduzieren, eine dem Wissen und seiner Vermittlung völlig fremde, gegensätzliche Auflage. Dann geht es offensichtlich darum, den in den verschiedenen Fächern präsentierten Unterrichtsstoff zur Kenntnis zu nehmen, um in Prüfungen regelmäßig messen zu lassen, in welchem Verhältnis die eigene Leistung zu den gestellten Anforderungen steht, und welchen Platz man dabei im Verhältnis zu seinen Mitkonkurrenten einnimmt. Bei der so mit den Noten hergestellten Leistungshierarchie der Schüler wird dann am Ende jedes Schuljahres aus einer (zu) schlechten Bewertung der schlichte Schluss gezogen, Schüler deswegen von weiterer Ausbildung auszuschließen: Weil einer etwas (noch) nicht kann, könne er es offensichtlich nicht können. Dies der Rassismus, der mittels Noten eingerichteten Selektion: Ein negativer Befund über die erbrachte Leistung gilt als Beweis dafür, dass so etwas wie eine natürliche Unfähigkeit, eben „schlechte Begabung“ vorliege. (Die durch die Leistungsmessung produzierte Hierarchie der Schüler schließt dann - entsprechend den Stufen des etablierten Bildungswesens - nicht nur jeweils von weiterer Bildung, sondern auch von den höheren Stufen der institutionalisierten beruflichen Hierarchie aus.)
Noten dienen also dazu, mittels des am Wissen durchgeführten Leistungsvergleichs eine Auslese an den Schülern durchzuführen, die auf die Herstellung von Unterschieden dringt, um die Zöglinge danach auf eine festgelegte Hierarchie zu sortieren.
Ein klassischer Schulpädagoge wie Hartwig Schröder (Leistungsmessung und Schülerbeurteilung) sieht die Sache etwas anders: Für ihn sind Noten von Anfang an eine Gegebenheit, für die schon irgendwie allein die Tatsache spricht, dass der Lehrer „verpflichtet“ ist, „seine Schüler zu benoten“. Deswegen sind sie für ihn kein Anlass, sich für die Klärung des Zwecks der Noten zu interessieren, sondern er stellt seine Besprechung unter die Fragestellung, ob dieses selbstverständlich unterstellte Verfahren auch „verantwortlich“, „als pädagogischer Akt“ und damit „begründet“, d. h. legitimiert erfolgt.
Wer so nur noch auf der Suche nach dem Ausmaß und dem Grad ist, mit dem er zustimmen darf, wird sich die Erfüllung dieses tiefen Wunsches kaum nehmen lassen: Sich getrennt von der inhaltlichen Bestimmung der Noten nur noch mit dem „Wie“ und der moralischen Haltung dabei zu beschäftigen, damit man sie als „begründet“ erklären kann, verdankt sich der Suche nach guten Gründen für die Leistungsmessung jenseits dessen, was sie ist. Und deren Auffinden hängt damit einzig vom eigenen Gutdünken ab. „Als pädagogischer Akt“ sollen sie begriffen werden - das wird sich bei den Noten ja wohl noch machen lassen; man fragt sich ja umgekehrt, als was sonst sie erfolgen könnten oder sollten. Schröder hält dies jedoch keineswegs für eine unsinnige Verdopplung: die pädagogische Maßnahme solle auch als solche erfolgen, sondern für ein Kriterium, von dem die „Güte“ der Noten abhänge. Ganz abstrakt gibt er damit Zeugnis von seinem unwissenschaftlichen Idealismus, der unter „pädagogisch“ nicht das verstehen will, was in der Erziehung passiert, sondern ein höheres Ideal davon, das er der existierenden Notengebung als ihr eigentliches Wesen und Anliegen unterstellen will - sonst ließe es sich nicht daran messen.
Noten sind gut für Notenprobleme
Dass auf diese Weise kein richtiges Urteil mehr über die Leistungsmessung abfällt, aber jede Menge Verklärung und Legitimation, zeigt sich an den verschiedenen Wirkungen und Leistungen, die die Schulpädagogik den Noten zuschreibt, und mit denen sie sie als „pädagogisch begründet“ sehen will. Ihre Besprechung folgt dabei durchweg dem Schema, die „Notengebung“ für angebliche Funktionen zur Lösung von Problemen zu beglückwünschen, die es allenfalls wegen der Noten und durch sie gibt.
Dazu drei Beispiele:
1. „Motivation“:
„Leistungen, von denen der Schüler weiß, dass sie zur Kenntnis genommen und qualifiziert werden, widmet er größere Aufmerksamkeit und nimmt er ernster …“
Daran ist nichts wahr. Erstens: Wenn die Schüler die „Leistungsmessung“ in der Schule ernst nehmen, dann nicht deswegen, weil ihre Leistungen „zur Kenntnis genommen“ werden, und auch nicht, weil sie „qualifiziert“ werden, sondern wegen der an die Benotung geknüpften, weitreichenden Konsequenzen in Sachen Ausschluss von den höheren Stufen der Berufshierarchie.
Zweitens ist das eine grobe Verwechslung von „Kenntnisnahme“ bzw. Qualifizierung einerseits mit Notengebung andererseits. In letzterer ist ja gerade jedes bestimmte (Nicht-)Wissen ausgelöscht, sind die unterschiedlichsten Fehler recht gewaltsam gleichgesetzt: Den Fehlern wird eine Ziffer (Note) zugeordnet, womit endgültig jeder Bezug zum Inhalt der jeweiligen Denkanstrengung getilgt ist.
Drittens aber und vor allem gibt‘s den Ruf nach „Motivation“, d.h. den Wunsch, die Schüler zum Mitmachen zu bewegen, trotz ihres Unwillens oder Desinteresses, nur wegen des im Schulsystem institutionalisierten Gegensatzes gegen die Schüler, sich im Leistungsvergleich und für diesen bewähren zu müssen. Bei Schröder sollen umgekehrt ausgerechnet die Noten die Beseitigung und Lösung dieses „Problems“ sein!
2. „Information“:
„Die grundlegendste Bedeutung von Schulnoten ist ihre Informationsfunktion. Sie informieren den Schüler und seine Eltern, inwieweit die Leistungen des Schülers den Anforderungen der Schule entsprechen.“
Ein schönes Kompliment an die Noten: Wofür ist eine Schulnote gut? Dass man erfährt, was man für eine Note hat! Über mehr als über sich selbst „informiert“ sie tatsächlich nicht, eben darüber, wie die erbrachte Leistung bewertet wird, und welchen Platz man dabei im Vergleich einnimmt. Das in der Schule aufgemachte Verhältnis der erbrachten und bewerteten Leistung zu den gestellten Anforderungen gibt‘s gar nicht getrennt und unabhängig von den Noten. Diese sind eben Instrument der Schule zur Durchführung der Auslese; nicht Information für den Schüler, sondern Zwang und Drohung: Wenn der Vergleich negativ ausfällt, ist Schluss mit dem weiteren Vergleichen. Als Leistung der Notengebung kann man dies nur dann honorieren, wenn man unterstellt, dass es das Interesse an ihr quasi naturwüchsig, unabhängig vom institutionalisierten Leistungsvergleich gäbe. Wenn es nicht um die Bewährung am festgelegten Maßstab ginge, wäre dieser Wunsch aber ziemlich unsinnig und die „Information“ gar keine; etwas anderes als dessen bewertetes Resultat teilt sie ja gar nicht mit. Und nur wegen der damit verbundenen praktischen Konsequenzen stößt die Note auf Interesse - an ihr.
3. „Auslese“:
„Die Schulnoten bestimmen entscheidend sowohl das Vorrücken in den Jahrgangs- und Leistungsklassen der einzelnen Schulstufen, als auch das Überwechseln von einer Schulart in die andere …“ (Stimmt!) „Dabei wird ungeprüft vorausgesetzt, dass ein Schüler, der seither den Anforderungen entsprach, auch den neuen Anforderungen gerecht wird.“
Genaugenommen ist es in der Schule mit der Auslese so, dass aus als unzureichend bewerteten Ergebnissen der „Schluss“ gezogen wird, den betreffenden Schüler von den weiteren Stufen der Ausbildung auszuschließen. So bestätigt sich der pädagogische Rassismus, für den ein vorliegendes Nicht-Können am Ende eines Schuljahres ein klarer Beweis dafür ist, dass das so bleiben muss, weil einer das „offensichtlich“ nicht können kann: minderbemittelt! Und diesen ziemlich schwachsinnigen Rückschluss möchte Schröder und mit ihm die gesamte Pädagogik gerne nicht so vorschnell und „ungeprüft“ ziehen lassen. An welche „Prüfung“ hätte man denn da gedacht, damit die bisherigen Noten mit ausreichender Sicherheit auf die zukünftigen „Leistungen“ schließen lassen? Vielleicht noch eine „Leistungsmessung“ mehr pro Schuljahr? Während die Schule mit ihrer Selektion per eingerichtetem Leistungsvergleich an ihrem Schülermaterial entsprechende Unterschiede (genauer: eine Hierarchie) praktisch herstellt, betrachtet ein Schulpädagoge die Welt lieber umgekehrt, als ginge es darum, unabhängig von der Schule existierende Differenzen an den Zöglingen möglichst genau zu messen, festzustellen. Das Ideal der gerechten, überprüften Selektion meldet da - ganz methodisch - leichte Zweifel an der Sicherheit und Ausgewiesenheit dieses Verfahrens an, dessen ganzen Widerspruch man dabei teilt: Der Wunsch nach objektivem Rassismus.
Von da aus sind die Noten einerseits unglaublich wichtig und andererseits gleichzeitig etwas problematisch: Können sie tatsächlich die ihnen zugeschriebene ideale Funktion erfüllen? Dazu von der Schulpädagogik ein klares: Jein! Man kennt nämlich durchaus auch „Mängel der Notengebung“, die sich weitgehend im Vorwurf der „Scheinobjektivität“ zusammenfassen und die sich v. a. subjektiven „Störfaktoren“ wie Vorurteilen des Lehrers etc. verdanken sollen.
Nun gibt es an den Noten ja einiges zu kritisieren, den Vorwurf mangelnder Objektivität sollte man ihnen jedoch nicht machen. Erstens sind nämlich die Noten prinzipiell immer ziemlich „objektiv“ in dem Sinn, als durch sie eine sehr handfeste und mit Konsequenzen rechtsgültige Beurteilung und Einordnung praktiziert wird. Zweitens teilt die Kritik der Schulpädagogik den Zweck der Notengebung, die Herstellung einer Hierarchie über Leistungsvergleich und will die Durchführung gleichzeitig an einem Maßstab bemäkeln, dem eine Note nie entsprechen kann: Sie soll ganz ausschließlich die einzelne Leistung für sich erfassen, wo eine Note aus nichts als dem Verhältnis zur Bewertung der Leistungen der anderen sich ergibt. Oder welcher Note entsprechen denn „ganz objektiv“ und für sich z. B. 7 Fehler im Diktat? Weil also diese Warnung vor „Störfaktoren“ etc. gerade keine Kritik an der Vergabe von Noten an sich ist, sondern diese umgekehrt möglichst perfekt und optimal erfolgen lassen will, interessiert ein Schulpädagoge sich nach langen Ausführungen über die diversen angeblichen Störeffekte am Ende für seine eigenen Einwände selbst nicht weiter. Da zeigt sich dann in herzerfrischend offener Art ein affirmativer Realismus und der bringt das schlagendste Argument für die Noten: Sie sind nun mal in „unserem Schulsystem so verankert“, und „deswegen wird es wohl noch lange Zeugnisnoten und ihre entsprechenden Konsequenzen geben“. Da wollte pädagogische Verantwortung nicht abseits stehen.
Zitate aus: Schröder, Leistungsmessung und Schülerbeurteilung
Aber wo nimmst du nur immer diese Perlen der Kritik her?
Sorry, spätestens bei "Weil einer etwas (noch) nicht kann, könne er es offensichtlich nicht können. Dies der Rassismus, der mittels Noten eingerichteten Selektion: Ein negativer Befund über die erbrachte Leistung gilt als Beweis dafür, dass so etwas wie eine natürliche Unfähigkeit, eben „schlechte Begabung“ vorliege." wars vorbei mit dem Lesen. Dümmlicher Schwachfug, vom falsch eingesetzten Rassismusbegriff mal ganz zu schweigen. Es geht auch nicht um "Begabung". Noten sollen keine Hierarchie innerhalb der Klasse erzeugen, sie dienen einem anderen Zweck.
Es gibt genug Kritik am Notensystem, da muss man nicht einen solchen Schund anführen.
Gruß
Talisker
Lehrer, Oberlehrer und Leerer! ggg
Meine Meinung zu #1, #28 und der genannten Internetpräsenz ist nach wie vor: Hier zeigen sich die Ritter der Schwafelrunde in nie gekannter Höchstform. Lässt man die Wortsuppe auf dem Feuer, um sie auf die Substanz zu reduzieren, bleibt ein fast leerer Topf übrig.
*g*
kein inhalt widerlegt,
lediglich eine differenz zu deiner geisteswelt festgehalten
bring doch mal ein arguement gegen das dort angeführte - dann kann man dadrüber streiten
übrigens "Ritter der Schwafelrunde"
daß dir allein schon die geistige theoretische befassung mit dingen zuviel ist...
nun denn das ist eben kein geistiges strammstehen kein schon per gefühl vorhandenes dafürsein...
das war schon mal einem politiker in den 30-ern sehr verdächtig
Nur soviel: Dass Schulnoten als Leistungsmessung zu einer Hierarchisierung der Schüler führen, ist eigentlich eine triviale Erkenntnis, die man -wie Du siehst- durchaus auch in einem Satz formulieren kann.
Ich halte das insofern für angebracht, als die Schüler ja schließlich ihr gesamtes Post-Schul-Leben ebenfalls in Hierarchien verbringen werden.
Dass diese Art der Leistungsbeurteilung optimal ist, behaupte ich nicht. Da mag es bessere Alternativen geben. Möge der Autor von #1 doch mal eine vorschlagen. Aber diesmal prägnant und platzsparend formuliert, wenn ich bitten darf :-)
Es ist ihr Zweck (was Du mit dem "angebracht"-Satz ja auch irgendwie zugestehst).
Und das ist doch ein absoluter Hammer/ ein Skandal: Man wird von weiterem Wissen ausgeschlossen, sowie man zeitlich nicht so fix irgendwelchen Stoff reproduzieren kann.
Darüberhinaus ist es so, daß insbesondere Pädagogen das selten gerne so direkt (wie Du) sagen. da muß eine ganze Theorie her, daß die Noten auch der Natur/ dem Wesen der jeweiligen Schüler entsprächen (das ist der hinweis mit dem Rassismus (die äußere Anforderung an Schüler als deren Natur ausgegeben). Das ist übel und ekelhaft.
Leistungsbeurteilung: Macht an der Ideologie, man entspräche dem Schüler, weiter.
Noten haben nicht diesen Zweck, sonst würde man ja nach der beurteilung gezielt da rangehen wo es mit dem Wissen hapert...
Alternativen sind in einer Gesellschaft, die den genannten Zweck organisiert, nicht nötig, da muß schon mehr überdacht werden.
Ich bin wertvoll
Die Sache mit dem Selbstbewusstsein / Von Freerk Huisken
Was immer noch über den Amoklauf von Winnenden gerätselt wird: Ein Zufall ist es vermutlich nicht, dass der junge Mann - wie dies auch bei Robert S. und Sebastian B. der Fall war - seine ehemalige Schule aufsuchte, und seine Waffen nicht etwa in einer Fußgängerzone oder im Kaufhaus zum Einsatz brachte. Er suchte diese Schule offensichtlich auf, um mit einem Massaker Rache zu nehmen - für Erfahrungen, die sich ihm als seelische Beschädigungen darstellten. Mit dem Wort "School Shooting" zollt bereits ein Begriff diesem Zusammenhang Anerkennung.
Schüler und Ehemalige treten dabei - wie auch in Erfurt und Emstetten - als Rächer in Erscheinung, wenn sie demonstrativ und rücksichtslos gegenüber dem eigenen und fremden Leben beweisen wollen, dass der erfahrene und nicht selten auch praktisch an ihnen vollzogene Befund, sie seien (Schul-)Verlierer, mit ihrem Selbstbefund nicht übereinstimmt. Sie selbst halten sich vielmehr für "coole Typen", für Gewinner, höchst wertvolle Personen "mit viel Potential", die in der Lage sind, Macht auszuüben, sogar Macht über Leben und Tod. An Selbstbewusstsein mangelt es ihnen also nicht. Sie leiden vielmehr an der Differenz zwischen dem hohen Urteil, das sie sich über sich selbst zugelegt haben, und einer "entwürdigenden" Einordnung im Ranking in der Schule. Und zwar so sehr, dass das Verlangen nach einer öffentlichen Korrektur dieser Differenz von ihnen vollständig Besitz ergriffen hat. Sie haben dieses Anliegen zur Frage ihrer Ehre gemacht und exekutieren es so, wie es sich für Ehrfragen ziemt: mit Blut.
Diese jungen Menschen sind also keine defekten Monster, die ihre Mordgelüste eine Zeit lang hinter der Fassade des "unauffälligen, ruhigen Jungen" verstecken. Es sind Lehrlinge eines pädagogisch und politisch intendierten Curriculums, mit dem sie in Schule und Gesellschaft von Kindesbeinen an traktiert werden. Was haben sie nicht schon alles gelernt: Was die Schule mit ihnen anstellt, wenn diese per Lernleistungskonkurrenz die Mehrheit des Nachwuchses früh von weiterführenden Bildungswegen ausschließt, geht selbstverständlich allein auf ihr Konto. Dann sind sie es, die sich nicht angestrengt haben, dann fehlt es ihnen an Lern- oder Leistungswillen, vielleicht sogar an Begabung - wie die wohlfeilste aller pädagogischen Ausreden lautet, mit der Lehrer den Grund für ihre Entscheidung über ein Schülerschicksal in dessen Natur verlegen. Diese Verschiebung enthält bereits die nächste Lektion: Ein schulischer Misserfolg wird zum Urteil über die komplette Schülerperson ausgebaut. Der Schüler hat dann nicht etwa nur versagt, sondern ist ein - vielleicht sogar geborener - Versager.
Es darf nicht verwundern, dass sich eine Anzahl junger Menschen beiderlei Geschlechts findet, die sich diesen im Schulsystem vergegenständlichten Fehlschluss zu eigen machen, sich selbst entweder als Versager oder umgekehrt als Sieger fühlen und entsprechend aufführen. Sie huldigen einem Kult des Selbstbewusstseins, der es inzwischen bis zum Erziehungsziel gebracht hat. Diesen Rang hat das Selbstbewusstsein erhalten, weil seine Anpassungsleistung geschätzt wird: Zur Bewältigung der unvermeidlichen "Schicksalsschläge", vom Sitzenbleiben bis zur Hartz-IV-Karriere, braucht es eben nicht Einsicht in die Gründe gescheiterter Anliegen, sondern Selbstbewusstsein: ein Trugbild, eine idealistische Konstruktion der eigenen Persönlichkeit, in der sie im Unterschied zu der tatsächlich an ihr vollzogenen gesellschaftlichen Einordnung ins "Sozialgefüge" immer gut weg kommt.
Daran soll der kleine und große Mensch festhalten, wenn "das Leben" ihn wieder einmal wenig freundlich behandelt hat. Natürlich leistet dieses Verfahren, sich mit einer ebenso abstrakten wie leeren Persönlichkeitspflege über das schlechte Zeugnis oder die aufgekündigte Lehrstelle hinweg zu trösten, jene Kompensation nicht, die die Psychologie des Selbstbewusstseins verspricht. Wie auch? Über Sieg und Niederlage in der Bildungs- und Berufskarriere entscheiden eben nicht "der Kopf" und nicht die optimistische Einstellung zu sich selbst, sondern jene gesellschaftlichen Kräfte, die Verfahren, Vorgaben und Zwecke der Konkurrenz in Schule und Arbeitsleben in der Hand haben.
Dass vom gestärkten Selbstbewusstsein Wunderdinge erwartet werden, sich seiner Aufmöbelung inzwischen gut besuchte, teure Trainings-Workshop annehmen, erklärt sich aus einer Fehldeutung der "Siegermentalität". Stellen die Erfolgreichen ihr berstendes Selbstbewusstsein zur Schau, dann reißt schon einmal eine Verwechslung von Grund und Folge ein, und das hochgefahrene Selbstbewusstsein wird zum Grund für den Erfolg erklärt.
An der Entwicklung und Stärkung dieses psychologischen Selbstbetruges arbeiten Lehrer, wenn sie zum Beispiel beim Sechser-Diktat die adrette Handschrift des Schülers loben oder dem Hauptschulaspiranten, dem sie wegen fehlender "theoretischer Begabung" die Berufsperspektive Hartz-IV eröffnet haben, "praktische Begabung" attestieren.
Erziehung zur "Frustrationstoleranz" heißt es neuerdings, wenn der Schüler darauf gedrillt wird, mit dem "Frust", den ihm Schule, Familie und Straße bereiten, tolerant umzugehen, ihn also zu dulden. Und zu den fast schon gemeinen Höhepunkten dieser Erziehung zählt die Aufforderungen an Schüler, sich den Satz "Ich bin wertvoll" hinter die Ohren und ins Heft zu schreiben und ihn schon bei der Morgentoilette dem eigenen Spiegelbild zuzurufen.
Es gibt allerdings nicht wenige Schüler und Schulklassen, die den Selbstbewusstseinskult unter sich zu einer Form der Anerkennungskonkurrenz ausgestaltet und sie über die andere Konkurrenz, die Lernkonkurrenz, gestülpt haben. In der Konkurrenz der Anerkennung füllen sie die leeren Selbstbefunde von sich als "wertvollem Menschen" mit Inhalten, die von allen Formen der Angeberei, über Mobbing und absurde Mutproben bis hin zu Gewaltexzessen reichen. Dass sich an Konkurrenz, jener Veranstaltung, in der es immer viele Verlierer und wenige Sieger gibt, alles entscheidet, haben sie gelernt, sich zu eigen gemacht und mit Inhalten ausstaffiert, die zwar schulisch weniger Bedeutung haben, aber sonst hoch im Kurs stehen: Schönheit und Körperkraft, Trinkfestigkeit, Klamotten- und Führerkult. So erstellen sie ihr eigenes Ranking, erheben "Klassenkameraden" zu "coolen Typen", denen sie nacheifern, und schließen andere aus.
Diese anderen müssen dann versuchen, ihre Portion Anerkennung dadurch zu erhalten, dass sie den unter ihnen herrschenden Standard an physischen und geistigen Rohheiten überbieten. Vielfach gehen Schülerinnen und Schüler in dieser Konkurrenz auf, leben in dieser durch Chats, Blogs und You Tube angereicherten Trugwelt und stellen damit das Verhältnis zwischen jenen Konkurrenzveranstaltungen, in denen sich wirklich etwas für Schule und Beruf entscheidet, und ihrem eigenen Anerkennungskult auf den Kopf.
Es kann nicht ausbleiben, dass Schüler so oder so aus der Rolle fallen, Schüler, die all dies gelernt haben und zugleich tagtäglich erfahren, wie wenig ihre Erfolge auf dem Nebenschauplatz der Anerkennungskonkurrenz dann auf den Hauptschauplätzen zählen. Wer sich den Spruch "Ich bin wertvoll" tatsächlich zu Herzen nimmt, aber in keiner Ecke seines kleinen und ohnmächtigen Lebens Material zu dessen Bestätigung sammeln kann, dem es folglich immer schwerer fällt, mit dem Glauben an die psychologische Idealkonstruktion von sich selbst die realen Anforderungen wunschgemäß zu bewältigen, gibt dem Spruch dann schon einmal die selbstzweiflerische bis selbstzerstörerische Wendung: "Bin ich wirklich wertvoll?" Welche Verlaufsformen dieser Selbstzweifel annehmen kann, muss nicht ausgemalt werden.
Die umgekehrte Entscheidung trifft jener Anhänger der realitätsentrückten Selbstsicht, der aus derselben Erfahrung heraus den Beschluss fasst, "es denen einmal ordentlich zu zeigen, dass ich wertvoll bin!" "Denen", das sind die vorgesetzten Erwachsenen, die ihn zu "seinem Besten" traktieren. Von Selbstzweifel ist hier keine Spur. Im Gegenteil. Es offenbart sich dann, ganz der Logik des Selbstbewusstseins folgend, dass Tötung und Selbsttötung nahe beieinander liegen können. Es gleicht deswegen der Installierung von Tretminen, wenn ein ums andere Mal gefordert wird, die Schule müsse den Schülern, "die es etwas schwerer haben", Gelegenheiten zum Auftanken ihres Selbstbewusstseins bieten. Den Gedanken, eine Schule, die es den Schülern so schwer macht, einmal prinzipiell auf den Prüfstand zu stellen, wird abgewiesen. Dann soll man sich aber nicht wundern, wenn demnächst erneut junge Menschen, deren Kopf randvoll ist mit unbewältigten Lebens- und Anerkennungsproblemen, meinen, der Welt mit Gewalt Beweise ihres "Potentials" abliefern zu müssen.