Der ewige Sozialdemokrat packt aus...
Seite 1 von 4 Neuester Beitrag: 02.09.08 15:55 | ||||
Eröffnet am: | 11.08.06 18:46 | von: Karlchen_II | Anzahl Beiträge: | 80 |
Neuester Beitrag: | 02.09.08 15:55 | von: PRAWDA | Leser gesamt: | 5.761 |
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Literatur-Nobelpreisträger Günter Grass hat erstmals in seiner im September erscheinenden Autobiografie zugegeben, dass er kurz vor Kriegsende zur Waffen-SS einberufen wurde. In einem Gespräch mit der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" bestätigte er diesen Sachverhalt.
Bislang hieß es in den Biografien des am 16. Oktober 1927 geborenen Schriftstellers, er sei 1944 als Flakhelfer eingezogen worden und habe dann als Soldat gedient. In seinem Erinnerungsbuch "Beim Häuten der Zwiebel " schreibt Grass außerdem, dass er sich mit 15 Jahren freiwillig zur U-Boot-Truppe habe melden wollen, aber er wegen seines jungen Alters nicht genommen wurde. Als 16-Jähriger sei er wie der gesamte Jahrgang 1927 einberufen worden. Er, Grass, sei zur Waffen-SS gekommen. Freiwillig gemeldet habe er sich nicht.
In dem Interview mit der "FAZ" berichtet Grass auch über seine Bekanntschaft mit dem heutigen Papst, der wie Grass als Kriegsgefangener im bayerischen Bad Aibling interniert war. Am 19. August erscheint in der "FAZ" eine achtseitige Sonderbeilage mit Auszügen aus den Erinnerungen mit Zeichnungen des Autors.
**Joseph Ratzinger wurde 1941 mit 14 Jahren - wie alle Seminaristen seit 1939 - zwangsweise in die Pflicht-HJ aufgenommen. Nahezu alle Jugendlichen wurden zu diesem Zeitpunkt gemäß der Dienstpflicht des Gesetzes über die Hitler-Jugend (1936) in die Jugendorganisation integriert. Ein Zeitzeuge berichtete der FAZ, dass die Seminaristen ein rotes Tuch für die Nazis waren und verdächtigt wurden, Widerstand gegen das Regime zu leisten.
Im Alter von 16 Jahren wurde Joseph Ratzinger als Flakhelfer für den Schutz einer BMW-Fabrik außerhalb Münchens eingesetzt. Während dieser Zeit besuchte er das Maximiliansgymnasium. Auf die Frage eines Vorgesetzten nach seinem Berufsziel gab er schon damals das Priesteramt an. 1944 wurde er zur Grundausbildung eingezogen und ins österreichische Burgenland zum Reichsarbeitsdienst versetzt, wo er unter anderem bei der Errichtung von Panzersperren eingesetzt wurde.
In den letzten Kriegstagen desertierte er. Dennoch kam er 1945 kurzzeitig in amerikanische Kriegsgefangenschaft in einem Lager bei Neu-Ulm. Als Seminarist des in Traunstein ansässigen damaligen Priesterseminars machte er das Abitur auf dem Chiemgau-Gymnasium in Traunstein.**
Desertierte er vom Arbeitsdienst ?
Oder war er doch noch eingezogen worden und ist es dann vom Militär desertiert ?
Da ist ne Lücke...
Und wenn eingezogen, war es dann, wie bei Grass, die Waffen-SS, bei der er Dienst leistete ? (Vom Jahrgang 1927 sind fast alle zur Waffen-SS und nicht mehr zur Wehrmacht gezogen worden)
...und wenn er mit Grass in Bad Aibling gewesen sein soll, war das in der Nähe von Rosenheim. (Vielleicht war er dann davor oder danach "in einem Lager bei Neu-Ulm")
Aibling wird aber nicht erwähnt. "Neu-Ulm hingegen schon...
hm...
MfG
kiiwii
btw: gibt der "ewige Sozialdemokrat" eigentlich seinen Nobelpreis zurück ?
MfG
kiiwii
Dennoch ist es natürlich ein qualitativer Unterschied, ob jemand "gezogen" wurde oder ob er sich freiwillig gemeldet hat...
(wie es ja wohl bei dem verehrten Herrn Grass der Fall gewesen zu sein scheint)
MfG
kiiwii
Eine zeitgeschichtliche Pointe
Von Frank Schirrmacher
Der Auskunftgeber schwieg: Günter Grass
12. August 2006
Tätowiert wurde er nicht. Im Herbst 1944 hatte die Waffen-SS, die bis dahin jedes ihrer Mitglieder mit einer Blutgruppentätowierung kennzeichnete, offenbar keine Zeit mehr für derartige Prozeduren. (...btw: das stimmt nicht; es wurden auch später gezogene noch tätowiert...k.) Aber die Uniform trug er. Er war siebzehn. Und er, der in Fragen der historischen Schuld zum womöglich wichtigsten Auskunftgeber der Deutschen wurde, hat darüber bis heute geschwiegen.
Niemand wußte davon, nicht einmal seine Kinder; nur seine Frau. Alle Biographien - zuletzt die aus unzähligen Gesprächen über die Jugend des Schriftstellers im Dritten Reich schöpfende von Michael Jürgs - verzeichnen den Günter Grass des Jahres 1944 als Flakhelfer.
Verschweigen als Lebensthema
Zweiundsechzig Jahre sind seither vergangen. Jetzt offenbart der fast Achtzigjährige in seinen Erinnerungen die Zugehörigkeit zur Waffen-SS. Grass war Panzerschütze der 10. SS-Panzerdivision „Frundsberg“. Einer ihrer Kommandeure - er verließ die Division im Herbst 1944 - war Karl Fischer von Treuenfeld, berüchtigt, weil er nach dem Mord an Heydrich die Vergeltungsmaßnahmen in Prag leitete.
Warum jetzt, warum überhaupt? Im Gespräch mit der F.A.Z sagt Grass: „Mein Schweigen über all die Jahre zählt zu den Gründen, warum ich dieses Buch geschrieben habe. Das mußte raus, endlich.“ Wer die Rhetorik der Nachkriegs-Entschuldigungen und -Beschuldigungen kennt, glaubt, nicht recht zu hören. Der Autor, der allen die Zunge lösen wollte, der das Verschweigen und Verdrängen der alten Bundesrepublik zum Lebensthema machte, bekennt ein eigenes Schweigen, das, folgt man nur seinen eigenen Worten, absolut gewesen sein muß. Mit keinem seiner Kollegen hat er je darüber geredet, und auch in den großen Debatten der Nachkriegszeit hat er in diesem Punkt geschwiegen.
Das Mal trug er bis heute
Was wäre gewesen, wenn Franz Schönhubers Waffen-SS-Traktat „Ich war dabei“ auf seine Gegenstimme gestoßen wäre, unter der Überschrift „Ich auch“? Wie wäre die Bitburg-Debatte verlaufen, wenn er sich damals erklärt hätte - und sei es im selbstbezweifelnden goetheschen Sinne, daß er noch nie von einem Verbrechen gehört habe, das er nicht auch selbst hätte begehen können? Statt dessen nannte er den Besuch von Reagan und Kohl auf dem Soldatenfriedhof, wo, wie wir nun wissen, womöglich Angehörige seiner eigenen Division lagen, „eine Geschichtsklitterung, deren auf Medienwirkung bedachtes Kalkül Juden, Amerikaner und Deutsche, alle Betroffenen gleichermaßen verletzte“. Mag sein, daß es so war - aber wäre die Debatte nicht wahrhaftiger gewesen, wenn man gewußt hätte, daß aus einem verblendeten Mitglied der Waffen-SS (so stellt Grass selber sich dar), einem der Jugendlichen, die da lagen, einer wie er hätte werden können - nicht nur ein Verteidiger, ein Protagonist von Freiheit und Demokratie? Grass wurde nicht tätowiert, gewiß, aber das Mal trug er bis heute.
Das ist, um es deutlich zu sagen, keine Frage von Schuld und Verbrechen. Grass war ein halbes Kind. Auch später hat er sich nie zum Widerstandskämpfer stilisiert. Daß er bis zum Nürnberger Prozeß an Hitler geglaubt und den Holocaust für eine Erfindung der Alliierten gehalten habe, hat er immer wieder erklärt. Der Film „Kolberg“, im Januar 1945 als Durchhaltefilm in die Kinos gekommen, hat ihn stark beeindruckt. Auch hatte die Waffen-SS, in die Grass als Kriegsfreiwilliger 1944 eintrat, bereits Züge des letzten Aufgebots.
Zurückgeworfen in den Mahlstrom von 1945
Immer wieder ist von den Angehörigen dieser Generation überliefert, wie sie sich über die jungen Leute wundern, die sie einst gewesen sind - die Beschäftigung mit der eigenen Jugend wird zu einem Akt der Selbsterziehung, und es ist kein Wunder, daß fast alle ihre Erinnerungsbücher in dem Augenblick aufhören, da die Jugend vorbei ist. Alle diese Achtzigjährigen, von Grass bis Joachim Fest, der ebenfalls in diesem Herbst Jugenderinnerungen vorlegt, sind in allen Erfolgen gleichsam festgefrorene, gebannte Jugendliche geblieben - wie unerlöst und immer wieder zurückgeworfen in den Mahlstrom des Jahres 1945, trotz aller Bewältigungsversuche der Nachkriegszeit.
Es ist eine zeitgeschichtliche Pointe, wie kein Romanschriftsteller sie sich ausdenken könnte, daß die große Nachkriegserzählung der Deutschen von Schuld und Scham, die Galerie der Täter, der Verstrickten und Mitläufer, jetzt - denn es ist jetzt wohl das Ende - mit Günter Grass und seinem Eingeständnis endet. Grass ist der letzte, der sagt: Ich habe zu lange geschwiegen. Und: Es hat mich belastet. Grass!
Die erklärende Stimme fehlte
Im Licht dieser Selbstoffenbarung werden Kritiker und Germanisten das Leben des oft beneidenswert selbstgewissen, das Schaffen des oft genialen Mannes einer behutsamen Revision unterziehen. Noch im Gespräch mit der F.A.Z. beklagt er das Fehlen von „Bewältigung“ und ist nun doch selbst zum Symbol der Schwierigkeiten solcher Bewältigung geworden.
Grass wird im nächsten Jahr, hoch geehrt, seinen achtzigsten Geburtstag feiern. In den fast fünftausend Seiten politischer und autobiographischer Prosa umgeht er, was nun auf ein paar Seiten seiner Erinnerungen angesprochen wird. Aber verständlich wird heute die fast unmäßige Wut auf die Eltern- und Großelterngeneration, in seinen Augen symbolisiert durch Adenauer und Kiesinger.
Als vor einigen Jahren bekannt wurde, daß der Romanist Hans Robert Jauß mit achtzehn in die Waffen-SS eingetreten war, beschädigte dies irreversibel sein wissenschaftliches Renommee. Damals hätte eine erklärende Stimme gutgetan. Keine, die beschönigt, was die SS gewesen ist, sondern eine, die klarmacht, daß kaum jemand für sich als Siebzehn- oder Achtzehnjährigen garantieren kann. Es geht nicht, schon gar nicht im Jahre 2006, um Schuldzuweisungen, sondern um jenes Gran von Skepsis und Selbstverunsicherung, die einem beibringen, daß das Leben kein Hollywood-Film ist, in dem man immer auf seiten der Guten das Kino verläßt.
Text: F.A.Z., 12.08.2006, Nr. 186 / Seite 1
MfG
kiiwii
Er hat gesagt, daß er in Aibling einen mit ihm etwa gleichaltrigen "Joseph" getroffen (und mit ihm geknobelt) hat, der davon sprach, später im kirchlichen Dienst arbeiten zu wollen.
Das kann Ratzinger gewesen sein, muß es aber nicht. Der Name Joseph ist ja nicht so selten. Da wurde schon mal einer mit diesem Namen Außenminister - auch wenn er sich gern hinter seinem Sandkastennamen versteckte.
Und wenn das tatsächlich Ratzinger war? Es war sicher kein Verbrechen, in Aibling Kriegsgefangener gewesen zu sein. Substanzlos weiter zu spekulieren, ist zumindest sehr voreilig.
Interessant ist in diesem Zusammenhang der Hinweis von Grass, daß er sich mit "Joseph" zu diesen Knobelrunden in einem Erdloch getroffen hatte, das man sich "als Regenschutz" gebuddelt hatte. Und daß es in Aibling 100.000 Kriegsgefangene gegeben hat. Das gibt doch einen gewissen Einblick in die Art und Weise, wie dieses Kriegsgefangenenlager von den USA geführt wurde. Ähnliches hatte ich bisher nur von den Lagern in den Rheinwiesen gehört.
Im übrigen: Zu Grass wäre da noch einiges im Zusammenhang mit Scheinheiligkeit und Unaufrichtigkeit zu sagen. Man lese nur die Sprüche von Grass zu dem Besuch von Kohl und Reagan in Bitburg.
„Warum ich nach sechzig Jahren mein Schweigen breche“
Günter Grass im Gespräch mit Frank Schirrmacher und Hubert Spiegel
11. August 2006
Zum ersten Mal nach mehr als sechzig Jahren spricht Günter Grass über seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS. Als Fünfzehnjähriger hatte er sich noch als Hitlerjunge freiwillig zu den U-Booten gemeldet, mit siebzehn wurde Grass einberufen und kam vom Arbeitsdienst zur Division „Frundsberg“, die zur Waffen-SS gehörte. In seinem Erinnerungsbuch „Beim Häuten der Zwiebel“, das im September erscheinen wird, beschreibt Grass seine Kindheit in Danzig, die letzten Kriegswochen als Soldat, in denen er nur mit knapper Not dem Tod entkam, die Kriegsgefangenschaft und die Wirren der ersten Nachkriegszeit.
Ihre Erinnerungen tragen den Titel „Beim Häuten der Zwiebel“. Was hat es mit der Zwiebel auf sich?
Ich mußte eine Form für dieses Buch finden, das war das Schwierigste daran. Es ist ja eine Binsenwahrheit, daß unsere Erinnerungen, unsere Selbstbilder trügerisch sein können und es oft auch sind. Wir beschönigen, dramatisieren, lassen Erlebnisse zur Anekdote zusammenschnurren. Und all das, also auch das Fragwürdige, das alle literarischen Erinnerungen aufweisen, wollte ich schon in der Form durchscheinen und anklingen lassen. Deshalb die Zwiebel. Beim Enthäuten der Zwiebel, also beim Schreiben, wird Haut für Haut, Satz um Satz etwas deutlich und ablesbar, da wird Verschollenes wieder lebendig.
Was hat Sie dazu bewogen, Ihre Erinnerungen aufzuschreiben?
Ich will nicht sagen, daß es eine schwere Geburt war, aber es brauchte doch eine gewisse Überwindung, bevor ich damit beginnen konnte, weil ich einige grundsätzliche Einwände gegen Autobiographien habe. Viele Autobiographien versuchen dem Leser weiszumachen, eine Sache sei so und nicht anders gewesen. Das wollte ich offener gestalten, deswegen war die Form für mich so wichtig.
Ihr Buch geht zurück bis in die Kindheitsjahre. Aber es fängt nicht mit Ihrer frühesten Erinnerung an, sondern es beginnt, da sind Sie fast zwölf Jahre alt, mit dem Ausbruch des Krieges. Warum haben Sie genau diese Zäsur gewählt?
Der Krieg, das ist der Dreh- und Angelpunkt. Er datiert den Anfang vom Ende meiner Kindheit, weil mit Kriegsbeginn zum ersten Mal Dinge von außen bis in die Familien hinein wirksam wurden. Mein Onkel, der bei der polnischen Post war, fehlte auf einmal, er besuchte uns nicht mehr, wir spielten nicht mehr mit seinen Kindern. Dann hieß es, man habe ihn standrechtlich erschossen. Die kaschubische Verwandtschaft meiner Mutter, die vorher bei uns ein und aus ging, war plötzlich nicht mehr gern gesehen. Erst in den späteren Kriegsjahren kam die Großtante wieder und brachte irgend etwas vom Bauernhof mit und holte bei uns Petroleum. Das bekam sie auf dem Land nicht, wegen der Knappheit. So ergab sich wieder familiärer Zusammenhalt. Aber zunächst einmal paßten sich meine Eltern opportunistisch den Gegebenheiten an. ...
Sie suchen für Ihre Erinnerung und Ihr erzählerisches Temperament immer wieder den Stimulus von außen. Die Zwiebel oder Bernstein von Ihrer geliebten Ostseeküste helfen Ihnen auf die Sprünge. Gibt es kein Familienarchiv, aus dem Sie schöpfen konnten?
Als Flüchtlingskind - ich bin mittlerweile fast achtzig und nenne mich immer noch Flüchtlingskind - hatte ich nichts. Ich weise im Buch darauf hin, daß Kollegen von mir, die am Bodensee oder in Nürnberg aufgewachsen sind, immer noch ihre Schulzeugnisse und alles mögliche aus ihrer Kindheit greifbar haben. Ich habe nichts mehr. Es ist alles weg. Einige wenige Fotos, die meine Mutter aufbewahren konnte, das war's. Ich bin also in einer benachteiligten Situation gewesen, die sich dann aber doch beim Erzählen als vorteilhaft erwies.
Zu den verlorenen Schätzen Ihrer Kindheit gehört auch das Manuskript Ihres ersten Romans.
Ja, das war ein historischer Roman, der im dreizehnten Jahrhundert spielte, in der Zeit des Interregnums, der kaiserlosen, der schrecklichen Zeit. Da gab es Femegerichte, das Stauferreich ging unter, Tod und Teufel waren los. Aber ich konnte mit meinen fiktiven Figuren nicht haushalten, am Ende des ersten Kapitels waren sie alle tot. Da gab's kein Weiterschreiben. Aber daraus habe ich immerhin gelernt, später mit meinen Figuren ökonomischer umzugehen. Tulla Pokriefke und Oskar Matzerath haben ihre ersten Auftritte überlebt und konnten so in späteren Büchern wieder auftauchen.
Sie haben wiederholt berichtet, daß erst Baldur von Schirachs Schuldbekenntnis in Nürnberg Sie davon überzeugen konnte, daß die Deutschen den Völkermord begangen haben. Aber jetzt sprechen Sie zum ersten Mal und völlig überraschend darüber, daß Sie Mitglied der Waffen-SS waren. Warum erst jetzt?
Das hat mich bedrückt. Mein Schweigen über all die Jahre zählt zu den Gründen, warum ich dieses Buch geschrieben habe. Das mußte raus, endlich. ...
Was mit Ihnen geschah, haben Sie ja sicher erst festgestellt, als Sie bei Ihrer Einheit waren. Oder konnten Sie das schon am Einberufungsbefehl erkennen?
An der Stelle wird's undeutlich, weil ich nicht sicher bin, wie es war: War es schon am Einberufungsbefehl zu erkennen, am Briefkopf, am Dienstgrad des Unterzeichners? Oder habe ich das erst gemerkt, als ich in Dresden ankam? Das weiß ich nicht mehr.
Haben Sie damals mit Ihren Kameraden darüber gesprochen, was es bedeutet, in der Waffen-SS zu sein? War das ein Thema unter den jungen Männern, die sich da zusammengewürfelt fanden?
In der Einheit war es so, wie ich es im Buch beschrieben habe: Schliff. Es gab nichts anderes. Da hieß es nur: Wie komme ich drum herum? Ich habe mir selbst die Gelbsucht beigebracht, das reichte aber nur für ein paar Wochen. Danach begann wieder die Hundsschleiferei und eine unzureichende Ausbildung mit veraltetem Gerät. - Jedenfalls mußte es geschrieben werden.
Sie hätten es nicht schreiben müssen. Niemand konnte Sie dazu zwingen.
Es war mein eigener Zwang, der mich dazu gebracht hat.
Warum haben Sie sich freiwillig zur Wehrmacht gemeldet?
Mir ging es zunächst vor allem darum, rauszukommen. Aus der Enge, aus der Familie. Das wollte ich beenden, und deshalb habe ich mich freiwillig gemeldet. Auch das ist ja eine merkwürdige Sache: Ich habe mich gemeldet, mit fünfzehn wohl, und danach den Vorgang als Tatsache vergessen. So ging es vielen meines Jahrgangs: Wir waren im Arbeitsdienst, und auf einmal, ein Jahr später, lag der Einberufungsbefehl auf dem Tisch. Und dann stellte ich vielleicht erst in Dresden fest, es ist die Waffen-SS.
Hatten Sie ein Schuldgefühl deswegen?
Währenddessen? Nein. Später hat mich dieses Schuldgefühl als Schande belastet. Es war für mich immer mit der Frage verbunden: Hättest du zu dem Zeitpunkt erkennen können, was da mit dir vor sich geht? ...
Sie haben sich als einer der ersten Ihrer Generation über die eigene Verführbarkeit geäußert und waren immer sehr offen im Umgang mit der deutschen Geschichte. Dafür sind Sie oft gescholten worden.
Ja, wir haben bis heute so viele Widerstandskämpfer, daß man sich wundert, wie Hitler an die Macht hat kommen können. Aber ich will noch einmal zurückkehren in die fünfziger Jahre, um Ihnen meinen Ansatz beim Schreiben der „Blechtrommel“ zu erklären. Was zuvor, 1945, geschehen war, galt als Zusammenbruch, war nicht die bedingungslose Kapitulation. Verharmlosend hieß es: Es wurde dunkel in Deutschland. Es wurde so getan, als wäre das arme deutsche Volk von einer Horde schwarzer Gesellen verführt worden. Und das stimmte nicht. Ich habe als Kind miterlebt, wie alles am hellen Tag passierte. Und zwar mit Begeisterung und mit Zuspruch. Natürlich auch durch Verführung, auch das, ganz gewiß. Was die Jugend betrifft: Viele, viele waren begeistert dabei. Und dieser Begeisterung und ihren Ursachen wollte ich nachgehen, schon beim Schreiben der „Blechtrommel“ und auch jetzt wieder, ein halbes Jahrhundert später, bei meinem neuen Buch. ...
Das Interview führten Frank Schirrmacher und Hubert Spiegel. Das komplette Gespräch lesen Sie im Feuilleton der F.A.Z. vom 12. August. Am 19. August wird in der F.A.Z. eine achtseitige Sonderbeilage mit ausführlichen Exklusivauszügen aus dem neuen Buch enthalten sein, versehen mit zahlreichen Rötelzeichnungen von Grass sowie zum Teil bislang unbekannten Fotodokumenten aus der Jugend des Schriftstellers.
Text: F.A.Z., 12.08.2006, Nr. 186 / Seite 33
MfG
kiiwii
Eine deutsche Jugend: Günter Grass spricht zum ersten Mal über sein Erinnerungsbuch und seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS
FRAGE: Ihre Erinnerungen tragen den Titel "Beim Häuten der Zwiebel". Was hat es mit der Zwiebel auf sich?
ANTWORT: Ich mußte eine Form für dieses Buch finden, das war das Schwierigste daran. Es ist ja eine Binsenwahrheit, daß unsere Erinnerungen, unsere Selbstbilder trügerisch sein können und es oft auch sind. Wir beschönigen, dramatisieren, lassen Erlebnisse zur Anekdote zusammenschnurren. Und all das, also auch das Fragwürdige, das alle literarischen Erinnerungen aufweisen, wollte ich schon in der Form durchscheinen und anklingen lassen. Deshalb die Zwiebel. Beim Enthäuten der Zwiebel, also beim Schreiben, wird Haut für Haut, Satz um Satz etwas deutlich und ablesbar, da wird Verschollenes wieder lebendig.
FRAGE: Was hat Sie dazu bewogen, Ihre Erinnerungen aufzuschreiben?
ANTWORT: Ich will nicht sagen, daß es eine schwere Geburt war, aber es brauchte doch eine gewisse Überwindung, bevor ich damit beginnen konnte, weil ich einige grundsätzliche Einwände gegen Autobiographien habe. Viele Autobiographien versuchen dem Leser weiszumachen, eine Sache sei so und nicht anders gewesen. Das wollte ich offener gestalten, deswegen war die Form für mich so wichtig.
FRAGE: Ihr Buch geht zurück bis in die Kindheitsjahre. Aber es fängt nicht mit Ihrer frühesten Erinnerung an, sondern es beginnt, da sind Sie fast zwölf Jahre alt, mit dem Ausbruch des Krieges. Warum haben Sie genau diese Zäsur gewählt?
ANTWORT: Der Krieg, das ist der Dreh- und Angelpunkt. Er datiert den Anfang vom Ende meiner Kindheit, weil mit Kriegsbeginn zum ersten Mal Dinge von außen bis in die Familien hinein wirksam wurden. Mein Onkel, der bei der polnischen Post war, fehlte auf einmal, er besuchte uns nicht mehr, wir spielten nicht mehr mit seinen Kindern. Dann hieß es, man habe ihn standrechtlich erschossen. Die kaschubische Verwandtschaft meiner Mutter, die vorher bei uns ein und aus ging, war plötzlich nicht mehr gern gesehen. Erst in den späteren Kriegsjahren kam die Großtante wieder und brachte irgend etwas vom Bauernhof mit und holte bei uns Petroleum. Das bekam sie auf dem Land nicht, wegen der Knappheit. So ergab sich wieder familiärer Zusammenhalt. Aber zunächst einmal paßten sich meine Eltern opportunistisch den Gegebenheiten an. Über all das, was damals gewesen ist, wollte ich mir noch einmal Klarheit verschaffen, vor allem über bestimmte Dinge bei mir selbst. Was hat dich, was hat den Jungen, der du einmal warst, gehindert, die richtigen Fragen zu stellen? Du bist ja ein wacher Bursche gewesen, sogar aufsässig. Aber du hast keine Fragen gestellt, nicht die entscheidenden Fragen. Darum ging es mir. Und ich wollte meine Vergangenheit nicht einfach schildern und sagen, so war es, sondern ich wollte davon erzählen. Denn das ist meine Sache: erzählen.
FRAGE: Sie suchen für Ihre Erinnerung und Ihr erzählerisches Temperament immer wieder den Stimulus von außen. Die Zwiebel oder Bernstein von Ihrer geliebten Ostseeküste helfen Ihnen auf die Sprünge. Gibt es kein Familienarchiv, aus dem Sie schöpfen konnten?
ANTWORT: Als Flüchtlingskind - ich bin mittlerweile fast achtzig und nenne mich immer noch Flüchtlingskind - hatte ich nichts. Ich weise im Buch darauf hin, daß Kollegen von mir, die am Bodensee oder in Nürnberg aufgewachsen sind, immer noch ihre Schulzeugnisse und alles mögliche aus ihrer Kindheit greifbar haben. Ich habe nichts mehr. Es ist alles weg. Einige wenige Fotos, die meine Mutter aufbewahren konnte, das war's. Ich bin also in einer benachteiligten Situation gewesen, die sich dann aber doch beim Erzählen als vorteilhaft erwies.
FRAGE: Zu den verlorenen Schätzen Ihrer Kindheit gehört auch das Manuskript Ihres ersten Romans.
Ja, das war ein historischer Roman, der im dreizehnten Jahrhundert spielte, in der Zeit des Interregnums, der kaiserlosen, der schrecklichen Zeit. Da gab es Femegerichte, das Stauferreich ging unter, Tod und Teufel waren los. Aber ich konnte mit meinen fiktiven Figuren nicht haushalten, am Ende des ersten Kapitels waren sie alle tot. Da gab's kein Weiterschreiben. Aber daraus habe ich immerhin gelernt, später mit meinen Figuren ökonomischer umzugehen. Tulla Pokriefke und Oskar Matzerath haben ihre ersten Auftritte überlebt und konnten so in späteren Büchern wieder auftauchen.
FRAGE: Sie haben wiederholt berichtet, daß erst Baldur von Schirachs Schuldbekenntnis in Nürnberg Sie davon überzeugen konnte, daß die Deutschen den Völkermord begangen haben. Aber jetzt sprechen Sie zum ersten Mal und völlig überraschend darüber, daß Sie Mitglied der Waffen-SS waren. Warum erst jetzt?
ANTWORT: Das hat mich bedrückt. Mein Schweigen über all die Jahre zählt zu den Gründen, warum ich dieses Buch geschrieben habe. Das mußte raus, endlich. Die Sache verlief damals so: Ich hatte mich freiwillig gemeldet, aber nicht zur Waffen-SS, sondern zu den U-Booten, was genauso verrückt war. Aber die nahmen niemanden mehr. Die Waffen-SS hingegen hat in diesen letzten Kriegsmonaten 1944/45 genommen, was sie kriegen konnte. Das galt für Rekruten, aber auch für Ältere, die oft von der Luftwaffe kamen, "Hermann-Göring-Spende" nannte man das. Je weniger Flugplätze noch intakt waren, desto mehr Bodenpersonal wurde in Heereseinheiten oder in Einheiten der Waffen-SS gesteckt. Bei der Marine war's genauso. Und für mich, da bin ich meiner Erinnerung sicher, war die Waffen-SS zuerst einmal nichts Abschreckendes, sondern eine Eliteeinheit, die immer dort eingesetzt wurde, wo es brenzlig war, und die, wie sich herumsprach, auch die meisten Verluste hatte.
FRAGE: Was mit Ihnen geschah, haben Sie ja sicher erst festgestellt, als Sie bei Ihrer Einheit waren. Oder konnten Sie das schon am Einberufungsbefehl erkennen?
ANTWORT: An der Stelle wird's undeutlich, weil ich nicht sicher bin, wie es war: War es schon am Einberufungsbefehl zu erkennen, am Briefkopf, am Dienstgrad des Unterzeichners? Oder habe ich das erst gemerkt, als ich in Dresden ankam? Das weiß ich nicht mehr.
FRAGE: Haben Sie damals mit Ihren Kameraden darüber gesprochen, was es bedeutet, in der Waffen-SS zu sein? War das ein Thema unter den jungen Männern, die sich da zusammengewürfelt fanden?
ANTWORT: In der Einheit war es so, wie ich es im Buch beschrieben habe: Schliff. Es gab nichts anderes. Da hieß es nur: Wie komme ich drum herum? Ich habe mir selbst die Gelbsucht beigebracht, das reichte aber nur für ein paar Wochen. Danach begann wieder die Hundsschleiferei und eine unzureichende Ausbildung mit veraltetem Gerät. - Jedenfalls mußte es geschrieben werden.
FRAGE: Sie hätten es nicht schreiben müssen. Niemand konnte Sie dazu zwingen.
ANTWORT: Es war mein eigener Zwang, der mich dazu gebracht hat.
FRAGE: Warum haben Sie sich freiwillig zur Wehrmacht gemeldet?
ANTWORT: Mir ging es zunächst vor allem darum rauszukommen. Aus der Enge, aus der Familie. Das wollte ich beenden, und deshalb habe ich mich freiwillig gemeldet. Auch das ist ja eine merkwürdige Sache: Ich habe mich gemeldet, mit fünfzehn wohl, und danach den Vorgang als Tatsache vergessen. So ging es vielen meines Jahrgangs: Wir waren im Arbeitsdienst, und auf einmal, ein Jahr später, lag der Einberufungsbefehl auf dem Tisch. Und dann stellte ich vielleicht erst in Dresden fest, es ist die Waffen-SS.
FRAGE: Hatten Sie ein Schuldgefühl deswegen?
ANTWORT: Währenddessen? Nein. Später hat mich dieses Schuldgefühl als Schande belastet. Es war für mich immer mit der Frage verbunden: Hättest du zu dem Zeitpunkt erkennen können, was da mit dir vor sich geht? Ich schildere ja zum Beispiel zu Anfang des Buches einen Mitschüler, der mehr wußte als wir anderen in der Klasse. Der hatte einen Vater, der sozialdemokratischer Abgeordneter im Senat war und später ins KZ kam. Ich kenne auch Fälle, wo sich dann die Kinder gegen ihre Eltern gestellt haben. Wenn die von ihrem bürgerlich-konservativen Standpunkt aus die Nazis kritisiert haben, konnte das gefährlich werden. Es war nicht leicht, einem jungen Menschen das damals klarzumachen. Man vergißt ja leicht, wie geschickt und modern die Hitlerjugend und das Jungvolk als Vorstufe aufgezogen waren. Hitlers Satz "Jugend muß von Jugend geführt werden" war ungeheuer wirkungsvoll. Mein Fähnleinführer war ein prima Kerl, und wir kamen uns viel besser vor als diese Parteiburschen. So fühlten und dachten damals viele.
FRAGE: Sie haben sich als einer der ersten Ihrer Generation über die eigene Verführbarkeit geäußert und waren immer sehr offen im Umgang mit der deutschen Geschichte. Dafür sind Sie oft gescholten worden.
ANTWORT: Ja, wir haben bis heute so viele Widerstandskämpfer, daß man sich wundert, wie Hitler an die Macht hat kommen können. Aber ich will noch einmal zurückkehren in die fünfziger Jahre, um Ihnen meinen Ansatz beim Schreiben der "Blechtrommel" zu erklären. Was zuvor, 1945, geschehen war, galt als Zusammenbruch, war nicht die bedingungslose Kapitulation. Verharmlosend hieß es: Es wurde dunkel in Deutschland. Es wurde so getan, als wäre das arme deutsche Volk von einer Horde schwarzer Gesellen verführt worden. Und das stimmte nicht. Ich habe als Kind miterlebt, wie alles am hellen Tag passierte. Und zwar mit Begeisterung und mit Zuspruch. Natürlich auch durch Verführung, auch das, ganz gewiß. Was die Jugend betrifft: Viele, viele waren begeistert dabei. Und dieser Begeisterung und ihren Ursachen wollte ich nachgehen, schon beim Schreiben der "Blechtrommel" und auch jetzt wieder, ein halbes Jahrhundert später, bei meinem neuen Buch.
FRAGE: Haben Sie Widerstand beobachtet?
ANTWORT: Wirklichen Widerstand habe ich nur in einem Fall erlebt, das war beim Arbeitsdienst und wird im Buch ausführlich beschrieben. Seinen Namen weiß ich nicht mehr, und so nenne ich ihn heute "Wirtunsowasnicht", denn das war seine stehende Redewendung. Er gehörte keiner der herrschenden Ideologien an, war weder Nazi noch Kommunist oder Sozialist. Er gehörte zu den Zeugen Jehovas. Man konnte gar nicht genau sagen, wogegen er war. Jedenfalls faßte er kein Gewehr an. Er ließ es einfach fallen, immer wieder, gleich, welche Strafe ihm angedroht und vollzogen wurde. Und auch dieser ungewöhnliche Mensch hat mich nicht zum Umdenken bewegen können. Ich habe ihn gehaßt und bewundert. Gehaßt, weil wir seinetwegen noch mehr geschliffen wurden. Und bewundert habe ich seine unglaubliche Willensstärke und mich gefragt: Wie hält er das aus? Wie schafft er das bloß?
FRAGE: Kann es sein, daß Sie in der Nachkriegszeit einfach den richtigen Zeitpunkt verpaßt haben, um Ihre SS-Zugehörigkeit zu thematisieren?
ANTWORT: Das weiß ich nicht. Es ist sicher so, daß ich glaubte, mit dem, was ich schreibend tat, genug getan zu haben. Ich habe ja meinen Lernprozeß durchgemacht und daraus meine Konsequenzen gezogen. Aber es blieb dieser restliche Makel. Es war deshalb immer klar für mich, daß dieser Rest seinen Platz finden müßte, wenn ich mich jemals dazu entschließen sollte, etwas Autobiographisches zu schreiben. Aber das ist nicht das dominierende Thema meines Buches.
FRAGE: Konnten Sie diesen nachträglichen Schock, Teil einer verbrecherischen Organisation gewesen zu sein, in der "Blechtrommel" und in "Katz und Maus" verarbeiten?
ANTWORT: Das meinte ich, als ich einmal sagte, dieses Thema war mir ohnehin gestellt. Es fing mit der "Blechtrommel" an. So etwas kann man nicht wollen, das war keine freie Entscheidung, das war unumgänglich. Ich habe anfangs mit meinen verschiedenen Begabungen und Möglichkeiten zwar immer wieder versucht, drum herumzutanzen, aber die Stoffmasse des Themas war immer da, wartete sozusagen auf mich, und ich mußte mich dem stellen. Als ich meinen ehemaligen Mitschüler Wolfgang Heinrichs 1990 als gebrochenen Menschen wiedertraf, ich beschreibe diese Begegnung im Buch, wurde mir klar, wie sehr vom Zufall abhing, wo man bei Kriegsende landete. Ich wurde aus der Gefangenschaft in den Westen entlassen und befand mich auf freier Wildbahn. Ich mußte mir selbst etwas zusammenschustern mit all den Irrtümern und mit all den Umwegen, während Gleichaltrige meiner Generation, Christa Wolf etwa oder Erich Loest, im Osten des Landes sofort mit einer neuen und glaubhaften Ideologie versorgt waren. Da kamen auf einmal Widerstandskämpfer, die im spanischen Bürgerkrieg gewesen waren, die unter Hitler gelitten hatten, und boten sich als Beispiele an. Daran konnte man sich orientieren.
FRAGE: Da ging es zu wie in einer anständigen Familie.
ANTWORT: Das gab's im Westen nicht. Wir hatten Adenauer, grauenhaft, mit all den Lügen, mit dem ganzen katholischen Mief. Die damals propagierte Gesellschaft war durch eine Art von Spießigkeit geprägt, die es nicht einmal bei den Nazis gegeben hatte. Die Nazis hatten auf oberflächliche Weise eine Art Volksgemeinschaft etabliert. Klassenunterschiede oder religiöser Dünkel durften da keine vorherrschende Rolle spielen. Anders als in der DDR haben wir in der Bundesrepublik unter dem Schlagwort "Bewältigung der Vergangenheit" jahrzehntelang Diskussionen geführt. Aber das Wort "Bewältigung" taugte nicht.
ANTWORT: Und es gab die Gegenkräfte, Franz Josef Strauß etwa, der sagte: "Genug Asche aufs Haupt!" und "Jetzt ist Schluß!", und immer wieder erscholl der Ruf nach Normalisierung - als wenn Normalität etwas besonders Erstrebenswertes wäre. Im Gegenteil: Vor Leuten, die sich "normal" nennen, habe ich Angst. Und sogar wenn ich im stillen dachte, jetzt ist das alles so lange her, hat uns unsere Vergangenheit doch immer wieder eingeholt. Wir haben gelernt, damit zu leben und uns dem zu stellen. Das sehe ich als eine Leistung an, auch im Vergleich zu anderen europäischen Ländern. Schauen wir nur nach England oder Frankreich, von Holland und Belgien gar nicht zu reden: Die Zeit der Kolonialherrschaft und die damit verbundenen Verbrechen sind dort wie ausgespart. Wahrscheinlich ist - auch das wieder eine Ironie der Geschichte - so etwas wie eine totale Niederlage Voraussetzung für eine solche Leistung. Ich habe das einmal an anderer Stelle gesagt: Siegen macht dumm. Die Sieger denken, sie müßten sich nicht um die Sünden der Vergangenheit kümmern, aber auch die Sieger werden davon eingeholt. Die junge Generation stellt immer irgendwann Fragen.
FRAGE: Und Sie haben die Fragen erst 1946 gestellt?
ANTWORT: Das war der Schock, der aber nicht sofort einsetzte. Es mußte erst Baldur von Schirach im Nürnberger Prozeß aussagen, bevor ich glaubte, daß die Verbrechen tatsächlich stattgefunden hatten. Deutsche tun so was nicht, habe ich gedacht und alles für Propaganda gehalten, dumm, wie ich war. Dann aber war es unabweislich, und das Ausmaß dieses Verbrechens scheint noch zu wachsen, je größer die zeitliche Distanz dazu ist. Es wird sogar immer unfaßlicher. Ebenso wie "Bewältigung der Vergangenheit" ein untaugliches Wort ist, kann auch jedes "Begreifen" nur eine Annäherung sein. Pogrome gab es immer, in Polen, Rußland, überall. Aber das von Deutschen organisierte Verbrechen, das planmäßige, ist einzigartig, ist einmalig.
FRAGE: Wann haben Sie begonnen, sich für Politik zu interessieren?
ANTWORT: Es hat lange Zeit gedauert, bis ich zu einer politischen Einstellung gefunden habe, bis ich politische Machtverhältnisse und dergleichen auch nur halbwegs einzuschätzen verstand. Wie viele andere meiner Generation ging ich ja fast in einer Art von Verblödung aus der Nazizeit hervor. Wie ist es denn eigentlich zu erklären, daß wir bis zum Schluß noch an Endsieg und Wunderwaffen glaubten? Das ist doch aus heutiger Sicht nicht zu verstehen. Meine ersten politischen Erfahrungen habe ich ein Jahr nach Kriegsende als Arbeiter im Kalibergwerk gemacht. Im Buch beschreibe ich, wie unversöhnlich sich dort drei verschiedene Gruppierungen von Arbeitern gegenüberstanden: alte Nazis, Kommunisten und Sozialdemokraten. Unter Tage wurde heftig diskutiert und gestritten. Und am Ende standen oft Kommunisten und Nazis zusammen gegen Sozialdemokraten. So habe ich erlebt und später dann verstehen können, woran die Weimarer Republik zugrunde gegangen war: natürlich vor allem an den Nazis, aber auch daran, daß die Nazis und die Kommunisten gemeinsame Sache gemacht haben. Das war die Folge eines Komintern-Beschlusses aus Moskau, der nicht die Nazis, sondern die sogenannten "Sozialfaschisten", die Sozialdemokraten also, zum größten Feind erklärt hatte.
FRAGE: Sind Sie damals im Kalibergwerk bereits zum Sozialdemokraten geworden?
ANTWORT: Ich habe mich zunächst viel mehr für Kunst interessiert. Politisiert worden bin ich wohl mehr während meiner Reisen durch Frankreich. Aus Frankreich schwappte ja auch der Streit zwischen Camus und Sartre zu uns herüber. Man kann sich heute kaum noch vorstellen, was diese Auseinandersetzung für meine Generation bedeutet hat. Man war plötzlich zu einer Entscheidung gezwungen, wenn man neugierig war und für sich selbst entscheiden wollte: Wie lebe ich weiter? Welche Position nehme ich ein? Und da war die Entscheidung für Camus, was mich betrifft, doch eine sehr grundlegende Entscheidung. Ähnlich ging es mir später im sogenannten "Berliner Kunststreit" zwischen Karl Hofer und Will Grohmann, in dem Hofer die gegenständliche, vom Bild des Menschen bestimmte Malerei gegen die gegenstandslose, die "informelle Malerei" verteidigte. Das war, ich beschreibe es im Buch, weniger eine politische und mehr eine ästhetische Entscheidung. Aber natürlich hatte auch diese Debatte einen politischen Hintergrund.
FRAGE: Wie weit ist das alles weg, wenn man fast achtzig ist?
ANTWORT: Das ist alles sehr nah. Wenn ich genau sagen sollte, welche Reise ich 1996 unternommen habe, müßte ich in irgendwelchen Notizbüchern nachsehen. Mit dem Alter jedoch wird die Kindheitsphase deutlicher. Der richtige Zeitpunkt, etwas Autobiographisches zu schreiben, hängt offenbar auch mit dem Alter zusammen.
FRAGE: Haben Sie das Buch für Ihre Enkel geschrieben?
ANTWORT: Bewußt wie unterbewußt haben beim Schreiben sicher auch meine Kinder und Enkelkinder eine Rolle gespielt. Wie man etwas einer anderen Generation erzählt, diese Frage hat mich oft beschäftigt. Im "Tagebuch einer Schnecke" mußte ich ihnen erklären, warum ich in den Wahlkampf gehe, warum ich daran Anstoß nehme, daß ein ehemaliger Großnazi wie Kiesinger Kanzler ist. Damals stand ich vor der Schwierigkeit, wie erkläre ich meinen Kindern Auschwitz? Vor dieser Schwierigkeit stehen wir bis heute.
FRAGE: In vielen Familien war das Schweigen über die Vergangenheit bedrückend. Hat man sich denn zumindest innerhalb Ihrer Generation über Kriegserlebnisse ausgetauscht?
ANTWORT: Doch, das schon. Kriegserlebnisse, das waren bei den meisten gleichwertige Erfahrungen: Es ging eigentlich nur ums Überleben. Die ersten Toten, die ich gesehen habe, waren keine Russen, sondern Deutsche. Sie hingen an den Bäumen, viele unter ihnen waren in meinem Alter. Das hatten sie dem "Mittelabschnitts-Schörner" zu verdanken. Als dieser berüchtigte und verhaßte General aus der russischen Kriegsgefangenschaft entlassen wurde, kam er mit der Bahn an und ist dann ein paar Stationen vorher ausgestiegen, denn dort, wo er ankommen sollte, warteten haufenweise ehemalige Soldaten, die ihn gelyncht hätten.
FRAGE: Spielte das Alter der Jugendlichen eigentlich eine Rolle? War ein Vierzehnjähriger den Nazis nicht schutzloser ausgeliefert als ein Achtzehn- oder Zwanzigjähriger?
ANTWORT: Gewiß, da konnte schon ein Altersunterschied von zwei Jahren große Bedeutung haben. Das habe ich oft von anderen gehört, die erst im Jungvolk, dann in der Hitlerjugend waren: Die schönste Zeit, so haben sie es in Erinnerung, das war beim Jungvolk. Mit der Hitlerjugend kam die Pubertät, und die ewigen Liederabende und all das wurde langweilig. Die Nazis haben viel abgekupfert von den Pfadfindern und von anderen Jugendverbänden. Die Zeltlager, die Kameradschaft und so weiter, das war für die Jugend ein attraktives Angebot. Im Vergleich zu den Zwängen, die in der Schule und im Elternhaus herrschten, schien es Jugendlichen beim Jungvolk freier zuzugehen.
FRAGE: Und es ging gegen die Autorität der Eltern.
ANTWORT: Ja, es war antibürgerlich! Aber auch hier ist die Zufälligkeit des Geburtsjahrganges wichtig. Wer weiß, in was ich hineingeraten wäre, wenn ich drei oder vier Jahre älter gewesen wäre. Ich kam mir übrigens bei Kriegsende keineswegs befreit vor, ich war geschlagen. Vom Tag der Befreiung können nur jene sprechen, die wirklich unter dem System gelitten haben.
FRAGE: Hatten Sie eine Vorstellung davon, welche Angst die Uniform der SS auslöst?
ANTWORT: Darauf hat mich erst der Obergefreite aufmerksam gemacht, mit dem ich unterwegs gewesen bin, nachdem unsere Einheit aufgerieben war. Unsere Division gab es nicht mehr, es war ein einziges Chaos und Durcheinander und ein Versuch aller, zu überleben. Mir half dabei dieser Mann vom wunderbaren Typ des deutschen Obergefreiten - der nicht Unteroffizier werden wollte, auf den man sich verlassen konnte, der alle Tricks kannte, dem Kameradschaft wichtig war. Er bestand darauf, daß ich die Uniform wechselte. Mir war nicht bewußt, in welcher Gefahr ich steckte. Daher auch später mein Unglaube angesichts der Bilder aus dem KZ: Das können Deutsche nicht gemacht haben, unmöglich! In der Gefangenschaft wurden wir zum ersten Mal mit diesen Verbrechen konfrontiert und sahen gleichzeitig, wie in den amerikanischen Kasernen die Weißen die in getrennten Baracken untergebrachten Schwarzen als "Nigger" beschimpften. Ich erwähne im Buch einen Burschen aus Virginia, ein netter Kerl, bißchen dumm, der sprach mit dem Truck-Fahrer, der Schwarzer war, kein Wort. Der Weiße benutzte mich mit meinem schütteren Englisch als Vermittler: "Tell this guy we are leaving now." Ich hatte ihm zu sagen, daß wir jetzt abfahren, der Weiße hat nie direkt mit dem Schwarzen gesprochen. Ich will nicht sagen, daß das ein Schock war, aber auf einmal war ich mit direktem Rassismus konfrontiert. Und dann dieser Wahnsinn in der Gefangenschaft, die Wahnsinnsgerüchte: Das dauert nicht mehr lange, dann werden wir wiederbewaffnet, es geht gegen die Russen, mit den Amis gemeinsam und jetzt besser ausgerüstet. Das ging auf den amerikanischen General Patton zurück.
FRAGE: Das war auch noch bei den Nürnberger Prozessen so. Die Angeklagten haben immer gesagt, es wird schon nicht so schlimm werden, die brauchen uns ja noch.
ANTWORT: Das war ja nicht so ganz falsch, wenn man sich überlegt, daß fünf Jahre später die Vorbereitungen für die Wiederbewaffnung der Deutschen anfingen. Das Feindbild mußte nicht korrigiert werden, bis hin zu den schrecklichen Adenauer-Plakaten mit diesem Rotgardisten, der wie ein asiatisches Untier die Leute anstarrte. Damit konnte man Wahlkampf machen.
FRAGE: Gehen wir noch einmal zurück ins Jahr 1945. Alles ist zerstört, ein Leben in Ungewißheit und Ruinen. Und da ist dieser junge Mann, der Sie einmal waren und der genau weiß, daß er Künstler werden will. Wie hat man sich das vorzustellen? Es gab nichts, keine Verlage, keine Galerien, keine Bühne, kein Publikum.
ANTWORT: Aber ich hatte das doch alles im Kopf. Es war ein Andrang von Figuren, von ungeformten Dingen. Gleichzeitig herrschte dieses Vakuum, das Nichtwissen. Man kann sich, glaube ich, heute den Hunger nach unbekannter Kunst nicht vorstellen, den ich spürte, als ich die ersten Ausstellungen von Nolde oder von Klee in Düsseldorf gesehen habe. Wie das auf mich gewirkt hat! Im Buch beschreibe ich den Schock, den ich noch während des Krieges erlebte, als ich zum ersten Mal Kunstwerke sah, die als entartet galten, die ich nie hätte sehen dürfen, wenn es nach den Nazis gegangen wäre, und die ich ohne meine Kunstlehrerin auch nicht gesehen hätte. Das war ein Schock und gleichzeitig eine große Faszination. Ein erster Hinweis darauf, daß es noch etwas anderes gibt, etwas jenseits dessen, was ich tagtäglich sah und hörte. Aber der Wunsch, Künstler zu werden, blieb lange ungenau, die Richtung fehlte. Unter einem Schriftsteller konnte ich mir damals wenig vorstellen, ich dachte mehr an bildende Kunst. Aber der Wunsch, der Drang war da.
FRAGE: Aber konnten Sie sich angesichts der Ruinen ein normales Leben vorstellen? Alles wird wieder aufgebaut, und dann geht es schon weiter?
ANTWORT: Ob das wieder aufgebaut werden würde, wußte ich nicht. Wo ich hinkam, sah ich zerstörte Städte. Können Sie sich vorstellen, wie Hildesheim aussah? Oder Hannover? Was mich und andere in meiner Lage damals vor allem beschäftigt hat, das war die Frage, wo ich etwas für meine Essensmarken bekomme. Ich war begünstigt: Bevor ich mit neunzehn Jahren anfing zu rauchen, hatte ich meine Rauchermarken, für die man einiges eintauschen konnte. Dennoch: Es war ein Leben von einem Tag auf den anderen. Wenn ich heute sehe, wie schon ganz junge Leute mit der Sorge um ihre spätere Rente konfrontiert werden - ich wußte gar nicht, was Rente war.
FRAGE: Aber dafür hatten Sie die Freiheit.
ANTWORT: Absolut und unbekümmert. Steuern habe ich erst gezahlt, als ich Schriftsteller war. Ich erinnere mich noch an meine erste Abrechnung und wie ich mich bei meinem Verleger Reifferscheid beklagte: "Das ist ja ganz schön, aber soviel Steuern muß ich zahlen?" Da hat er zu mir gesagt: "So, wie ich Sie einschätze, werden Sie zeit Ihres Lebens sehr viel verdienen, gewöhnen Sie sich an die Steuern. Und wenn ich Ihnen raten darf, nehmen Sie keinen Steuerberater, nehmen Sie einen Wirtschaftsprüfer, dann sparen Sie sich diese ekelhaften Steuerprüfungen."
FRAGE: Karl Schiller, der Wirtschaftsminister, hat Sie bei den "Hundejahren" beraten und Paul Celan bei der Arbeit an der "Blechtrommel".
ANTWORT: Beraten wäre bei Celan zuviel gesagt. Aber er hat mir Mut gemacht. Ich habe ihm vorgelesen, und er fand das toll. Ein bißchen spielte wohl auch Eifersucht hinein, die hat er durchaus zugegeben, denn er hätte gerne selbst Prosa geschrieben. Nach ein, zwei Schnäpsen, wir tranken damals vor allem Bauerncalvados, konnte er sehr fröhlich sein und sang dann russische Revolutionslieder. Aber meistens war er ganz in die eigene Arbeit vertieft und im übrigen von seinen realen und auch übersteigerten Ängsten gefangen. Er hatte eine Vorstellung vom Dichter, die mir völlig fremd war, das ging bei ihm eher in Richtung Stefan George: feierlich, sehr feierlich. Wenn er seine Gedichte vortrug, hätte man Kerzen anzünden mögen.
FRAGE: In Ihren Erinnerungen wird deutlich, wie viele Realitätspartikel aus Ihrem Leben den Weg in Ihre Bücher gefunden haben, bis hin zu Oskars Kokosfaserteppich, der eine Ihrer ersten Behausungen schmückte.
ANTWORT: Was sich da alles literarisch niedergeschlagen hat, ist mir erst wieder beim Schreibprozeß deutlich geworden. Man kann ein solches Erinnerungsbuch gar nicht schreiben, wenn man nicht die Neugier auf sich hat, wenn man nicht über sich und das Entstehen der eigenen Arbeiten mehr erfahren möchte. Nehmen wir nur die Situation, als ich den Einberufungsbefehl in der Tasche habe und nach Berlin komme. Da ist Fliegeralarm, und alle müssen in den Keller des Bahnhofs hinein. Und dort taucht zwischen all den Uniformierten und Verwundeten und Heimaturlaubsreisenden und allen anderen, die sich in den Keller geflüchtet hatten, auf einmal eine Gruppe von Liliputanern auf, in Kostümen, und weil sie mitten in der Vorstellung gewesen waren, haben sie ihr Programm gleich im Keller fortgesetzt. Das ist in die "Blechtrommel" eingegangen: Bebra und seine Liliputanergruppe.
FRAGE: Mit einem anderen berühmten Künstler sind Sie in den Nachkriegsjahren auf der Bühne eines Düsseldorfer Jazzkellers zusammengetroffen: Louis Armstrong. Hat die Jam Session, die Sie im Buch beschreiben, Armstrong an der Trompete, Sie am Waschbrett, wirklich stattgefunden?
ANTWORT: Es gibt kein Foto davon, nichts, ich habe keine Beweise. Aber in meiner Erinnerung ist diese Episode bis ins Detail vorstellbar.
FRAGE: Und wie steht es mit jenem jungen Freund und Knobelkumpan Joseph, mit dem Sie zusammen im Kriegsgefangenenlager waren? Man weiß ja, daß Ratzinger ebenso wie Sie im Lager Bad Aibling war. Aber war Ihr Freund Joseph, wie im Buch angedeutet wird, wirklich der heutige Papst Benedikt XVI.?
ANTWORT: Ich saß im Lager in Bad Aibling immer mit Gleichaltrigen zusammen. Da hockten wir Siebzehnjährigen, wenn es regnete, in einem Loch, das wir uns in den Boden gebuddelt hatten. Darüber hatten wir eine Regenplane gespannt. Es waren dort 100000 Kriegsgefangene unter freiem Himmel versammelt. Und einer von denen hieß Joseph, war äußerst katholisch und gab auch gelegentlich lateinische Zitate von sich. Der wurde mein Freund und Knobelkumpan, denn ich hatte einen Würfelbecher ins Lager retten können. Wir haben uns die Zeit vertrieben, gewürfelt, geredet und Zukunftsspekulationen angestellt, wie Jugendliche das gerne tun. Ich wollte Künstler werden, und er wollte in die Kirche, dort Karriere machen. Ein bißchen verklemmt kam er mir vor, aber er war ein netter Kerl. Das ist doch eine hübsche Geschichte, oder?
FRAGE: Sehr hübsch. Glauben Sie, daß Sie eine Reaktion aus dem Vatikan erhalten werden?
ANTWORT: Das weiß ich nicht. Falls ja, werde ich es Sie wissen lassen.
FRAGE: Sie haben nie zuvor so ausführlich über Ihre Mutter gesprochen wie in Ihren Erinnerungen. Ist da eine Art Wiedergutmachung im Spiel?
ANTWORT: Es gibt einen ersten Anlauf in "Mein Jahrhundert", die letzte Geschichte des Bandes, in der meine Mutter nach meinem Willen ihren hundertunddritten Geburtstag feiert. Im neuen Buch spielt mein sehr enges Verhältnis zu ihr eine große Rolle. Ich hatte nie die Möglichkeit, ihr zu beweisen, daß es sich gelohnt hat, zu mir zu halten und an mich zu glauben, was sie immer getan hat. Außer einer Broschüre, die die Kunstakademie Ende der vierziger Jahre in Düsseldorf herausgegeben hat, diesem Jahrbuch, in dem eine Skulptur von mir abgebildet ist, hatte ich nichts vorzuweisen bis zu ihrem Tod. Und so etwas hängt nach.
Sie sprechen - nicht nur mit Blick auf Ihre Mutter - sehr offen über Ihren Egoismus, den Egoismus des Künstlers.
Ja, das Egozentrische. Ich weiß nicht, ob es Egoismus ist, es ist doch ein Unterschied zwischen Egoismus und diesem Zwang, von sich nicht absehen zu können. Diese Egozentrik ist in jungen Jahren besonders ausgeprägt.
Bereuen Sie die Konsequenz, mit der Sie Ihrer Egozentrik gefolgt sind?
Nein, das kann man nicht bereuen, das gehört dazu, war unvermeidbar, sonst hätte ich nicht Buch nach Buch so rücksichtslos - auch gegen mich selbst rücksichtslos - gestalten können.
Das Gespräch führten Frank Schirrmacher und Hubert Spiegel.
Text: F.A.Z., 12.08.2006, Nr. 186 / Seite 35
MfG
kiiwii
Vielleicht muß man nicht nur die Online-FAZ genau lesen, sondern auch die "Papierene":
Am Fußende der Seite 35 der heutigen Ausgabe der FAZ (Nr. 186) erschien inmitten des 2. Teils des Interviews mit Günter Grass das folgende Bild mit der angegebenen Bildunterschrift:
"Mein Freund und Knobelkumpan": Den späteren Papst Joseph Ratzinger, hier als Luftwaffenhelfer 1943, traf Günter Grass im Gefangenenlager Foto: KNA
Im Interview-Text sagt Grass nicht, dass es sich bei dem "Freund und Knobelkumpan Joseph " um Ratzinger gehandelt hat (..insoweit hast Du recht). Im Zusammenhang mit dem Foto auf derselben Seite und der Bildunterschrift ist das aber für mich zweifelsfrei so gemeint; andernfalls hätte Grass in seiner intellektuellen Redlichkeit bestimmt der Veröffentlichung widersprochen.
MfG
kiiwii
Hitler Youth and the Vatican
By Marc Ash
t r u t h o u t | Perspective
Thursday 28 April 2005
Pope Benedict XVI as young Joseph Ratzinger.
Circa 1940. (Photo: KNA / AP)
§
In the final stages of World War II, US and British soldiers reported that the German military was using child soldiers. Boys as young as 14 faced advancing allied forces, often fighting to the death. Death, however, was not always the fate that awaited the young Germans, some were captured. The American and English soldiers who questioned the young prisoners noted two things almost categorically: most of the child soldiers were or had been Hitler Youth, and those who had held membership in the Fuhrer's youth corps were impossible to reason with. Passionate ideological mind-sets were reportedly common among these boys.
Recent worldwide press attention to the boyhood membership of now-Pope Benedict XVI in the Hitler Youth Movement has re-focused the attention of world on the origins of the catastrophic conflict that engulfed mankind in the mid-twentieth century. The debate has been focused in particular on what constituted a good German at that time.
In fairness to the new Pope, there is no evidence that any member of the Ratzinger family supported or sympathized with the Nazis. There are even some accounts that put the Ratzinger family in opposition to the Nazis. That would have, by any account of the day, been risky, as the Nazis were willing to mete out their vengeance against Catholics who opposed them as quickly as against any other opposition. Catholics who resisted faced persecution and even execution. As for entry into the Hitler Youth movement itself, as Cardinal Ratzinger has pointed out many times over the years, young German boys were in fact conscripted, and attendance was compulsory. History supports this all.
Two things, however, bear note. First, Cardinal Ratzinger's own recollection of induction into the Hitler Youth Movement. He said, "I was too young, but later was enrolled into it from the seminary." And second, it should be noted that, in Germany today, finding a former Nazi is not easy. Yes, there is a troubling cadre of new-right neo-Nazis. Gone, however, are the wild-eyed throngs of average Germans who were swayed, gone as though they had never existed.
Fear and Loathing of Communism
One theory promulgated by Adolph Hitler that has resonated with many Americans throughout the decades is the fear and loathing of Communism. It seems the red menace is as good a social motivator in America today as it was at the Nuremberg rally in 1934. Shame. Beware the left, and all that. At any rate, according to a recent New York Times article by Richard Bernstein, Daniel J. Wakin and Mark Landler, Joseph Ratzinger developed a deep and abiding disdain for the student radicalism in the late 1960s at Tübingen University. The Times authors point to a fear that students' tactics smacked of Nazi tactics, and that, they conclude, Ratzinger could not abide. But Ratzinger's words belie a greater fear of Marxism. He wrote, "Marxist revolution kindled the whole university with its fervor, shaking it to its very foundations." Some years later, he chided a left-leaning colleague over dinner, saying with some satisfaction, "Your Marxist revolution has come to nothing."
Events in Russia during the first half of the twentieth century sent shock waves through all of Europe. As the kettle boiled over in Moscow there was little time to differentiate between Marxism and Stalinism. The difference was profound but ultimately the far-left proved a catalyst for the far-right and the center became a killing-field. Stalin had used the far-left to launch his own personal Stalinist dictatorship and the rest is, as they say, history. While Stalin pretended to support the goals of the Communists to gain power, Hitler used fear of the Communists to do the same. It is also worthy of noting that as the far-right attempted to gain power in the US in recent Presidential elections the far-left, specifically Ralph Nader once again opened the door.
Joseph Ratzinger might have argued that the far left's capacity to empower the far right was reason enough to reject the new thinking emerging at Tübingen University in the late 1960s. But as his journey now has led him to be arguably the most influential man in the world, his early demonization of the students at Tübingen becomes suspect by its convenience.
Why Does All This Matter?
The Vatican contends today, as it has always contended, that they 'don't do politics.' History disagrees, particularly with regard to the Vatican's relationship with the Nazis. Serious allegations have swirled for years about the Vatican's complicity with the Nazis during and after the war. Those charges have resulted in several investigations and at least one lawsuit, but no more. The Vatican has refused repeated requests to open its archives from the period. Until they do so, the question remains open, as well it should.
Some facts from that period are not in dispute and do shed light. Pope Pius XII has long been criticized for his silence as the Nazi concentration camps did their awful work, but understanding Pius XII's relationship with the Nazis provides substantial insight into why he did not speak out. The 1933 Concordat signed by the Vatican with the Nazis ensured, if nothing else, that they would do no harm to one another. The Reich Concordat was an agreement signed between the Vatican and the National Socialist government of Germany. The person primarily responsible for the negotiation and signing of this document was the Cardinal Secretary of State, Eugenio Pacelli, the future Pope Pius XII, with the agreement of Pius XI. Why the Vatican saw fit to elevate Pacelli to Pope as Germany was massing its armies is a question that remains relevant today.
Among Joseph Ratzinger's better-published positions is "a sense that Catholicism is in competition with Islam." Is that very different from the Vatican's attitudes toward European Jews during the early part of the twentieth century? Lo and behold, armies march again, and once more, the Vatican and German Cardinal Joseph Ratzinger are at the center of the action. As the US pursues what the Islamic world views as a latter-day Christian crusade, it appears Ratzinger made the decision to intercede in the US presidential election process on behalf of the war's architect, George W. Bush. In a June 2004 letter to US bishops, Ratzinger made clear that John Kerry was a sinner for his positions on "life" issues, as would be any one who voted for him. The result was a historic swing of traditionally Democratic voters away from the Catholic John Kerry and into the win column for Republican George W. Bush.
While Pope John Paul II had openly opposed the US war on Iraq, Ratzinger had ensured it would continue for four more years. Either death by war is more acceptable to the Vatican than death by abortion or Islam is a bigger concern than they are letting on. Or both.
By all accounts, the American and English soldiers in the trenches were right: the Hitler Youth were/are ideologically driven.
MfG
kiiwii
URL: http://www.spiegel.de/kultur/literatur/0,1518,431412,00.html
Echo auf Grass' SS-Vergangenheit
"Ende einer moralischen Instanz"
Günter Grass war Mitglied der Waffen-SS. Das jahrzehntelange Schweigen des Literaturnobelpreisträgers zu seiner Vergangenheit irritiert Deutschlands Literaturbetrieb. Kollegen geben sich enttäuscht.
Berlin - Der Autor Walter Kempowski kritisierte im Berliner "Tagesspiegel", das Eingeständnis des Literatur-Nobelpreisträgers komme "ein bisschen spät". Der Grass-Biograf Michael Jürgs sagte dem Blatt, er sei "persönlich enttäuscht" und sprach vom "Ende einer moralischen Instanz".
Schriftsteller Grass: "Moralisierendes Lebenswerk entwertet"
DPA
Schriftsteller Grass: "Moralisierendes Lebenswerk entwertet"
Demgegenüber sagte der Kölner Schriftsteller Dieter Wellershoff dem "Kölner Stadt-Anzeiger", das Bekenntnis solle nicht dazu benutzt werden, Grass moralisch abzuurteilen: "Man lebt in der Welt, in die man hinein geboren wird." Zu der Frage, warum Grass sein Schweigen erst so spät gebrochen habe, sagte Wellershoff, möglicherweise habe der Schriftsteller die "Kritikwürdigkeit" gefürchtet.
Hingegen betonte der Historiker Michael Wolffsohn, das Eingeständnis von Grass komme zu spät. "Durch sein beharrliches Schweigen wird Grass' moralisierendes, nicht sein fabulierendes Lebenswerk entwertet", schrieb Wolffsohn in einem Gastbeitrag für die "Netzeitung". "Bleiben werden Grass' Worte, nicht seine Werte."
Grass hatte in einem Interview der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom Samstag berichtet, er habe sich mit fünfzehn Jahren freiwillig zur U-Boot-Truppe gemeldet, die aber niemanden mehr genommen habe. So sei er als Siebzehnjähriger aus dem Reichsarbeitsdienst nach Dresden zur Waffen-SS einberufen worden. Er habe in der zehnten SS-Panzerdivision "Frundsberg" gedient. Bislang hatte es in den Biographien des 1927 geborenen Schriftstellers geheißen, er sei 1944 als Flakhelfer eingezogen worden und habe dann als Soldat gedient.
Grass nimmt der "FAZ" zufolge auch in seinem Erinnerungsbuch "Beim Häuten der Zwiebel" dazu Stellung, das im September erscheint. "Mein Schweigen über all die Jahre zählt zu den Gründen, warum ich dieses Buch geschrieben habe. Das musste raus, endlich", sagte er dem Blatt. Er habe damals versucht, um die Einberufung herumzukommen. "Ich habe mir selbst die Gelbsucht beigebracht, das reichte aber nur für ein paar Wochen."
Zu seiner freiwilligen Meldung zur Wehrmacht zuvor sagte er: "Mir ging es zunächst vor allem darum, rauszukommen. Aus der Enge, aus der Familie. Das wollte ich beenden." Erst später habe ihn "dieses Schuldgefühl als Schande belastet". Es sei für ihn immer mit der Frage verbunden gewesen: "Hättest du zu dem Zeitpunkt erkennen können, was da mit dir vor sich geht?"
dab/AFP
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Heute in den Feuilletons: Wundern über Grass' SS- Comingout (12.08.2006)
http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,431386,00.html
MfG
kiiwii
"Wobei das auch als eine Auszeichnung angesehen wurde,
weil in der Waffen-SS grundsätzlich nur Freiwillige aufgenommen wurden,
schon in der Zeit vor dem Krieg. Das außerdem auch eine Besonderheit sei, die allgemein Anerkennung finden würde, weil man als Angehöriger der Waffen-SS in einer Elite-Truppe seinen Dienst verrichten würde."
Quelle:
http://www.dhm.de/lemo/forum/kollektives_gedaechtnis/330/index.html
Gruesschen
Der WOLF
Man glaubte wohl, bei der Waffen-SS würde man diese Burschen schon "auf Vordermann bringen". Inzwischen hatten sich schon viele von dieser Promotion als Kriegsfreiwillige bei der Wehrmacht gemeldet. Alle übrigen schlossen sich nun ebenfalls an, denn bei der SS wollte keiner Soldat werden. Auf dem Wehrmeldeamt in Reutlingen saß damals ein dem Seminar wohlgesonnener Offizier; dieser meinte zwar, die SS dürfe eigentlich nur Freiwillige zum Wehrdienst einziehen; sollte jedoch jemand einen Einberufungsbefehl der SS bekommen, sei es sicher schwierig, davon los zu kommen. Er versprach deshalb, für den Fall einer Einberufung zur Waffen-SS für eine vordatierte Einberufung zur Wehrmacht zu sorgen.
Mehrere Seminaristen bekamen tatsächlich von der SS den Gestellungsbefehl. Dank dem freundlichen Helfer in Reutlingen waren sie innerhalb weniger Tage Soldaten der Wehrmacht."
Quelle:
http://www.seminar-blaubeuren.de/147.0.html
Man muß dabei berücksichtigen, daß zum einen der Kriegsausfall da war, zum andern neue Divisionen aufgestellt wurden, die ja deutsche Führungskader brauchten, sodann die Ausbildungskader. "
http://www.wer-weiss-was.de/theme138/article3576447.html
Gruesschen
Der WOLF
Die Startauflage des Buches beträgt nach Angaben des Steidl Verlags 150.000 Exemplare.
*gg*
Protest dagegen kann mir wirklich keiner ernsthaft verkaufen ...
Gruesschen
Der WOLF
Gruesschen
Der WOLF
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Die Sache verlief damals so: Ich hatte mich freiwillig gemeldet, aber nicht zur Waffen-SS, sondern zu den U-Booten, was genauso verrückt war. Aber die nahmen niemanden mehr. Die Waffen-SS hingegen hat in diesen letzten Kriegsmonaten 1944/45 genommen, was sie kriegen konnte. Das galt für Rekruten, aber auch für Ältere, die oft von der Luftwaffe kamen, "Hermann-Göring-Spende" nannte man das. Je weniger Flugplätze noch intakt waren, desto mehr Bodenpersonal wurde in Heereseinheiten oder in Einheiten der Waffen-SS gesteckt. Bei der Marine war's genauso. Und für mich, da bin ich meiner Erinnerung sicher, war die Waffen-SS zuerst einmal nichts Abschreckendes, sondern eine Eliteeinheit, die immer dort eingesetzt wurde, wo es brenzlig war, und die, wie sich herumsprach, auch die meisten Verluste hatte.
FRAGE: Was mit Ihnen geschah, haben Sie ja sicher erst festgestellt, als Sie bei Ihrer Einheit waren. Oder konnten Sie das schon am Einberufungsbefehl erkennen?
ANTWORT: An der Stelle wird's undeutlich, weil ich nicht sicher bin, wie es war: War es schon am Einberufungsbefehl zu erkennen, am Briefkopf, am Dienstgrad des Unterzeichners? Oder habe ich das erst gemerkt, als ich in Dresden ankam? Das weiß ich nicht mehr.
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Ich seh es so:
Er hat sich freiwillig gemeldet - und ist dann da hingegangen, wo man genommen wurde...nachdem bei den U-Booten nix mehr ging, ging es zur SS
(Komisch, daß gerade da die Erinnerung "undeutlich" wird...)
MfG
kiiwii