Rot-Grüne Chaoschronik 2002-2006:
Seite 47 von 137 Neuester Beitrag: 18.09.05 23:03 | ||||
Eröffnet am: | 22.09.02 22:29 | von: SchwarzerLo. | Anzahl Beiträge: | 4.404 |
Neuester Beitrag: | 18.09.05 23:03 | von: Karlchen_I | Leser gesamt: | 166.509 |
Forum: | Talk | Leser heute: | 57 | |
Bewertet mit: | ||||
Seite: < 1 | ... | 44 | 45 | 46 | | 48 | 49 | 50 | ... 137 > |
... aber die Stimmung in der Partei steigt!
Der Abwärtstrend der SPD in Brandenburg hat sich bei den Bürgermeister-Stichwahlen fortgesetzt, die CDU ging dagegen erneut als Sieger hervor. Schwerster Rückschlag für die Sozialdemokraten war der Verlust des Oberbürgermeister-Postens in ihrer bisherigen Hochburg Brandenburg an der Havel. In der drittgrößten Stadt des Landes ließ die CDU-Kandidatin Dietlind Tiemann ihren SPD-Mitbewerber Norbert Langerwisch mit 56,2 Prozent der Stimmen deutlich hinter sich.
Von den am Sonntag gewählten 24 hauptamtlichen und 29 ehrenamtlichen Bürgermeistern stellt die CDU 13 und die SPD 5. Mit 17 Wahlsiegern schnitten die Einzelbewerber am stärksten ab; 12 entfallen auf verschiedene Wählergruppen, 4 auf die FDP, 2 auf die PDS. Mit den Stichwahlen in 53 Städten und Gemeinden wurden am Sonntag die Kommunalwahlen 2003 abgeschlossen.
Nach dem ersten Durchgang am 26. Oktober waren noch einmal 331 330 Bürger aufgerufen, ihre Stimme abzugeben. Die Beteiligung in den Kommunen bei der Stichwahl sank nach Angaben des Landeswahlleiters von 49,8 Prozent vor drei Wochen auf nur noch 39,3 Prozent am Sonntag. Landesweit hatten am 26. Oktober knapp 46 Prozent der Bürger von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht.
Die SPD hatte bei den Kommunalwahlen vor drei Wochen 15,4 Prozentpunkte im Vergleich zu 1998 verloren und nur 23,6 Prozent der Stimmen errungen. Damit rutschte sie in der Wählergunst auf den zweiten Platz hinter der CDU, die 6,4 Punkte gewann und auf 27,8 Prozent kam. Den dritten Platz belegte die PDS mit 21,3 Prozent (minus 0,3 Punkte).
GASTKOMMENTAR
Gesäusel vom Fortschritt
Wichtige Reformen will die SPD auf ihrem Parteitag anschieben. In den Anträgen steht aber nichts davon. Von Christoph Keese
Mit ernster Miene blicken Bundeskanzler Gerhard Schröder und SPD-Generalsekretär Olaf Scholz von der Website der Sozialdemokraten herab. "Herausforderungen gemeinsam meistern" wollen sie und "grundlegende Reformen" anschieben, um Wachstum und Wohlstand für Deutschland zu sichern.
Große Reformrhetorik soll den Eindruck erwecken, beim Parteitag in Bochum, der heute beginnt, würden die Sozialdemokraten das Land in die Zukunft katapultieren. Die Anträge des Parteivorstands sprechen aber eine andere Sprache: sanftes Gesäusel vom Fortschritt, unverbindliche Formeln, jeder halbwegs kühne Gedanke gleich im nächsten Satz vom Gegenteil konterkariert. Vielsprechende Überschriften locken zum Lesen, dahinter kommen aber nur bekannte Rezepte.
Beispiel Leitantrag: Er trägt die Nummer 1, insgesamt liegen den Delegierten 455 Anträge vor. "Wir sorgen für Innovationen, stetiges Wachstum und nachhaltige Entwicklung", heißt es ganz oben auf dem 46-seitigen Papier. Schon dieser Satz verwundert. Stetiges Wachstum? Schröders Regierung ist seit Amtsantritt vor allem durch hartnäckige Stagnation des Bruttosozialprodukts aufgefallen. Wenn Wachstum jetzt das höchste Ziel der Politik würde, wäre das gut. Doch wie es ausgelöst werden soll, verraten die obersten Sozialdemokraten nicht.
Seitenlang Binsenweisheiten
Seitenlang plätschern Binsenweisheiten und Soziologen-Kauderwelsch durch den Antrag, etwa: "Bildung ist der Schlüssel zu individueller Emanzipation als Voraussetzung für gleichberechtigte Teilhabe." Das ist so richtig wie harmlos. Auf Seite 10 die aus jedem Lehrbuch bekannte Erkenntnis, dass eine "kluge Kombination aus Angebots- und Nachfragepolitik" notwendig bleibt, kurz darauf die etwa 20 Jahre alte Einsicht, dass zu hohe Kosten den Faktor Arbeit belasten. So unglaublich es klingt: Nicht ein einziger neuer Vorschlag zur Förderung des Wachstums steht im Leitantrag, aufgewärmt wird lediglich die Förderung des Mittelstands und der Gründer - das ist immer gut, dagegen hat niemand etwas.
Verräterisch ist, was alles nicht im Antrag steht. Seit Monaten diskutiert die Republik über den Flächentarifvertrag. Viele Ökonomen, Unternehmer und Politiker fordern das Ende des Tarifkartells und mehr Freiheit in den Betrieben. Was gut für die Firma ist, sollten Management und Belegschaft miteinander aushandeln dürfen. Jede Seite, so die Forderung, kann sich einer Verhandlungsgemeinschaft anschließen, aber sie muss auch das Recht haben, alle Details auf Betriebsebene zu lösen - von den Löhnen bis zur Arbeitszeit. Bisher ist das verboten, Tarifverträge haben Vorrang. Nur wenn sie Öffnungsklauseln enthalten, sind Abweichungen erlaubt. Dieses Monopol zu brechen würde die Beschäftigung steigern, da endlich markträumende Preise vereinbart werden könnten; Beschäftigung schafft Wachstum, auf diesem Weg könnte die SPD das Ziel erreichen.
Was schreibt die Partei zu dieser brennenden Frage in ihrem Leitantrag? Sie verpasst allen Reformern eine Ohrfeige: "Wir werden die Betriebsparteien nicht durch eine Verlagerung der Tarifverantwortung in die Betriebe mit Dauerkonflikten belasten." Zu Deutsch: Wir glauben nicht an Freiheit; Verbände und Gewerkschaften wissen besser als Manager und Betriebsräte, was gut für die Firma ist. Wenn wir die Basis allein ließen, bräche zudem heilloser Streit aus. Selten zuvor hat eine Partei ihren tief verwurzelten Glauben an den Verbändestaat so unverfroren als Reformeifer verkauft wie jetzt die SPD.
Alte Vorschläge neu serviert
Ein weiteres Beispiel liefert Antrag 216 mit dem Titel "innovative Arbeitszeitpolitik", verfasst ebenfalls vom Parteivorstand. Auch hier werden im Kern nur alte Vorschläge serviert: Teilzeitbeschäftigung und Arbeitszeitkonten. Ob der Parteitag das beschließt oder nicht, ist völlig egal, da es entweder längst Gesetz oder Praxis in den Unternehmen ist.
Ärgerlich ist besonders ein Nebensatz: Die Partei, heißt es da, müsse den "Schutz der Beschäftigten vor Überforderung durch zunehmende Arbeitsverdichtung" gewährleisten. In den Anträgen ist ständig von Innovation die Rede; vorsichtig rückt die Parteispitze von der ständigen Arbeitszeitverkürzung ab, fordert die Bürger also auf, Neuerungen zu akzeptieren und härter zu arbeiten. Warum will sie die Menschen dann Kraft Gesetzes schützen? Zu hohe Arbeitsverdichtung ist wahrlich nicht das Problem des Freizeitweltmeisters Deutschland. Im Schnitt 350 Stunden pro Jahr weniger als in den USA werken die Menschen hier zu Lande. Mehr Jobs sollte die SPD organisieren; wer eine Stelle hat, kann den Schutz vor Burnout anders organisieren und braucht dafür nicht den Staat.
Letztes Beispiel: Antrag 222 schlägt vor, die "bundesstaatliche Ordnung" zu erneuern, sprich: die Verfassung zu reformieren. Vermutlich das wichtigste Reformprojekt des Jahrzehnts. Solange die Länder im Bundesrat jede Initiative des Bundestags und der Regierung stoppen können, wird das Land nicht vorankommen. Weniger als eine Seite ist das Projekt den Sozialdemokraten wert. Äußerst vorsichtig wählen sie ihre Worte. Der Begriff "Verfassung" kommt in dem Antrag gar nicht erst vor, es sollen Kompetenzen lediglich "neu verteilt werden" - und auch nur da, "wo dies erforderlich ist". Allerdings darf ein Arbeitskreis aus Bundestag und Bundesrat gebildet werden: die Vorstufe zur Vorstufe zur Reform.
Der Parteitag in Bochum ist eine Veranstaltung zum Ruhigstellen der Genossen. Keine Konflikte, keine Themen, keine mutigen Vorschläge, keine echten Debatten. Der Kanzler will Ruhe, und die wird er kriegen. Einen Reformauftrag wird er sich nicht abholen, weil er gar nicht darum bittet.
Spiegel online,17.11.2003
Wie erlöst wirkten die Delegierten, auch wenn manche erschrocken schienen über die Springflut der Ereignisse. Denn nie zuvor in ihrer Geschichte hatte die älteste Partei Deutschlands einen Vorsitzenden so gnadenlos enthauptet wie Scharping nach 28 Monaten Amtszeit. Auf offener Bühne ließ Johannes Rau seinen Tränen freien Lauf. Die Troika war gesprengt, der Stratege Schröder hatte nur noch Lafontaine als Hürde auf dem Weg zur Macht.
Der nächste Schritt folgte am 1. März 1998. Als Ministerpräsident hatte Schröder das Ergebnis der Niedersachsen-Wahl zur Messlatte dafür gemacht, wer gegen Dauer-Kanzler Helmut Kohl antreten solle. Nie war eine Landtagswahl so zur Personalentscheidung umfunktioniert worden. Schröder siegte fulminant, schon nachmittags rief der Rivale von der Saar an: "Glückwunsch, Herr Kandidat." Und kredenzte abends den vor seinem Haus wartenden Journalisten Mistelschnaps. Wohl noch in dem Glauben, man werde nach dem Wahlsieg im Bund, der dann tatsächlich errungen wurde, gemeinsam die Geschicke des Landes lenken.
Doch die Loyalität hatte Tatmensch Schröder dem "Freund Oskar" nur geliehen. Schon wenige Monate später gab der Saarländer auf, verließ fluchtartig das Finanzministerium, warf den Parteivorsitz hin wie einen abgetragenen Mantel. Erst nach drei Tagen erschien Lafontaine wieder in der Öffentlichkeit. Bei strahlendem Sonnenschein betrat er den Balkon seines Hauses im Saarbrücker Stadtteil Rothenbühl, auf den Schultern seinen zweijährigen Sohn Carl Maurice. "Macht's gut und tschüss!" rief er den Journalisten zu. Und später schob er mit einem Seitenhieb auf Schröder nach: "Mannschaftsspiel verlangt, dass man aufeinander Rücksicht nimmt, dass Teamgeist die Regierungsarbeit bestimmt." Er hätte wissen müssen, dass Schröder von einer Sache nichts hält: vom Mannschaftsspiel.
Gewiss hat Lafontaines Abgang eine tiefe Lücke in den Gefühlshaushalt der SPD gerissen, aber die Partei nimmt das hin, solange Schröder Wahlen gewinnt und sogar in fast aussichtsloser Lage wie im vergangenen Jahr gegen Edmund Stoiber in letzter Minute das Ruder noch herumreißt. Nun steht er einsam an der Spitze und kann es sich leisten, Partei und Koalitionspartner notfalls mit Rücktrittsdrohungen - acht sind es inzwischen während seiner zweiten Amtsperiode - auf Kurs zu zwingen. Und wenn doch eine Krise droht, wie in diesem Sommer bei der Abstimmung des Sonderparteitags über die Agenda 2010, kann er sich auf alte Fahrensleute wie Henning Scherf, Erhard Eppler oder Hans-Jochen Vogel verlassen. Ihre flammenden Reden bescherten Schröder eine satte Mehrheit für seine Reformagenda. Von Gefühlshaushalt der Partei war dabei nicht die Rede. Die Altvorderen eint die Erkenntnis, dass ohne den Mann, der einst in seinem Fußballverein "Acker" genannt wurde, der Machtverlust droht.
Denn hinter Schröder tut sich, was das Führungspersonal der Partei betrifft, ein gähnendes Loch auf. Kein Kronprinz, keine Kronprinzessin weit und breit. Das Kabinett ist an Jahren das älteste, das eine SPD-Regierung je aufbot. Ehemals hoffnungsvolle Provinzfürsten, die schon als Stars von morgen galten, sind abgetaucht. Wie Sigmar Gabriel, nach vernichtender Wahlniederlage jetzt Oppositionsführer und in der Partei verantwortlich für die Popkultur (beim geselligen Parteiabend sollen morgen in Bochum die "Jazz-Generation" und Pamela Falcon mit Band Pop, Soul, Blues und Rock spielen). Mit viel Selbstironie beschrieb Gabriel kürzlich seine Situation: "In der Pfütze ist die Fliege Kapitän.
Quelle: http://www.wams.de/data/2003/11/16/198062.html?s=2
Gerd: „Die Umfragen bedrücken mich“
Bundeskanzler und SPD-Chef Gerhard Schröder hat sich zum Auftakt des Bundesparteitags in Bochum ziemlich zerknirscht gegeben. „Auch ich habe das Wachstum zu optimistisch eingeschätzt“, räumte er am Montag vor der versammelten Genossenschar ein. Und nicht nur die Wahlniederlagen der letzten Zeit schmerzten sehr. „Die aktuellen Umfragen bedrücken Euch und mich“, erklärte Schröder. Aber die SPD sei keine beliebige Partei. Sie habe schon ganz andere Herausforderungen gemeistert.
Die SPD sei wegen der Wirtschaftskrise in einer schwierigen Lage, erklärte Schröder. „Wir brauchen den Mut zur Wahrheit und den Willen zum Wandel.“ Bei den derzeitigen Herausforderungen sei das Ringen in der SPD und mit den Wählern kein Wunder. Es schmerze ihn sehr, dass die SPD Anhänger verloren habe.
Die Genossen müssten den Blick in die Zukunft richten, forderte Schröder. „Von diesem Parteitag muss und wird die Botschaft ausgehen, dass wir es gemeinsam und geschlossen tun.“
Ohne SPD gäbe es weder Freiheit noch Gerechtigkeit, so der SPD-Chef. „Auf diese Partei könnt ihr alle stolz sein.“ Die Sozialdemokraten stünden am Anfang einer neuen Epoche, die „eine große sozialdemokratische Epoche“ werde. Dieser Parteitag handele nicht allein von der Agenda 2010. Er müsse den Blick nach vorne richten. Er sei seit 40 Jahren Mitglied der SPD und auf nichts so stolz, als Vorsitzender dieser Partei sein zu dürfen.
Die Deutschen forderte der Kanzler eindringlich zur Reformbereitschaft aufgefordert: „Wir müssen Altes aufgeben und neue Wege gehen.“ Die Bundesrepublik sei immer noch eine reiche Gesellschaft. Ohne Mut zur Veränderung könne der dringend nötige Wandel des Sozialstaates nicht gelingen. Der Sparkurs von Finanzminister Hans Eichel (SPD) sei gut und richtig.
Gellendes Pfeifkonzert zum Auftakt
Mit Buhrufen, Transparenten und schrillen Pfiffen waren die SPD-Delegierten zuvor vor dem Eingang des Bochumer Ruhrkongress-Zentrums empfangen worden. Etwa 6000 Polizisten, Bundeswehrsoldaten und Feuerwehrmänner versammelten sich hinter Absperrgittern vor der Auffahrt zum Tagungsort. „Räuber, Räuber“ schrien sie den ankommenden Parteitagsteilnehmern entgegen. Auch der Spruch der DDR-Bürgerbewegung „Wir sind das Volk“ wurde in regelmäßigen Abständen skandiert.
„Wer dieser Regierung noch traut, glaubt an den Weihnachtsmann“, stand auf einem Transparent. „Für gute Arbeit muss es auch gutes Geld geben“ auf einem anderen. Wütend nahmen die Gewerkschafter zur Kenntnis, dass Schröder die Halle durch einen Seiteneingang betrat. „Das ist wirklich feige. Er kann offenbar seiner eigenen Politik nicht ins Auge sehen“, sagte Polizeihauptkommissar Reinhold Littfin, der aus dem benachbarten Essen angereist war.
Andere waren die ganze Nacht unterwegs, kamen aus Brandenburg oder Süddeutschland zum Demonstrieren nach Bochum. „SPD wird ab heute anders buchstabiert“, rief ein wütender Redner der Menge zu. „Nämlich so: 'Sie plündern Dich'.“ Ein Feuerwehrmann kündigte an, er werde der Regierung gemeinsam mit seinen Kollegen „Feuer unterm Hintern machen“.
„Die Beschäftigten im öffentlichen Dienst haben die Nase voll von immer neuen Sonderopfern“, rief der Bundesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Konrad Freiberg, den Demonstranten zu. Der Vorsitzende des Bundeswehrverbandes, Bernhard Gertz, sagte: „Die Uniformträger im öffentlichen Dienst verlangen volle soziale Gerechtigkeit für ihren vollen Einsatz.“
Verteidigungsminister Peter Struck (SPD) sprach als einziger Spitzenpolitiker mit den Demonstranten. Er zeigte Verständnis für ihre Proteste. Im Bereich der Bundeswehr seien viele Soldaten und Zivilbeschäftigte „nicht auf Rosen gebettet“. Für die unteren Einkommensgruppen seien die unvermeidlichen Kürzungen aber abgemildert worden.
Bund und Länder wollen die Arbeitszeit im öffentlichen Dienst auf bis zu 42 Stunden in der Woche verlängern, ihre Beschäftigten später pensionieren, das Weihnachtsgeld kürzen und das Urlaubsgeld streichen.
Beruhigungspillen für die Basis
Auf dem Parteitag steht dem Kanzler Schwieriges bevor: Er muss die tief in der Krise steckende SPD wieder auf Kurs bringen. Die Voraussetzungen dafür sind nicht leicht, seit Monaten befindet sich die Partei in einem Umfragetief. Und auch innerhalb der eigenen Reihen herrscht alles andere als eitel Sonnenschein, viele Genossen beklagen den Verlust ursozialdemokratischer Werte.
Generalsekretär Olaf Scholz versprach zur Beschwichtigung eine höhere Erbschaftssteuer. Er sagte dem Berliner „Tagesspiegel“ vom Sonntag, die SPD wolle „das Steuersystem gerechter machen. Dazu gehört, dass große Erbschaften stärker belastet werden.“ „Omas Haus“ werde davon aber ebenso verschont bleiben wie mittelständische Betriebe.
Focus online, 17.11.03
SPD-PARTEITAG
Ein bisschen Ekstase für Schröder
Mit Rücktritt drohte er diesmal nicht. Bundeskanzler Schröder warb um die SPD-Delegierten auf dem Parteitag mit Tradition, Emotionen und Pathos und versuchte sich als Stifter einer neuen Identität. Über Details seiner umstrittenen Reformagenda verlor er wenig Worte. Dank der verzagten Genossen: drei Minuten Standing Ovations.
Von Markus Deggerich, Bochum
Nicht jeder Antrag, der auf einem Parteitag aus irgendeinem Bezirksverband gestellt wird, ist auch ernst gemeint. Deshalb arbeitet im Vorfeld eine Antragskommission die Eingaben ab, mit denen sich die Delegierten dann beschäftigen. Aber der SPD-Parteitag in Bochum ist ohnehin kein normales Delegiertentreffen. Es geht um die Regierungsfähigkeit der Mannschaft um Gerhard Schröder und die Zukunftsfähigkeit der Sozialdemokratie.
Der SPD-Unterbezirk Marburg-Biedenkopf hätte deshalb gern einen formalen Beschluss: "Wir fordern Bundeskanzler Gerhard Schröder auf, sich in seinem Amt als Parteivorsitzender stärker als bisher um die SPD zu kümmern und bei seinen politischen Aufgaben das Wohl der Partei in den Mittelpunkt zu rücken."
So weit ist es also gekommen, so weit hat man sich voneinander entfernt: Das Selbstverständliche mündet plötzlich in Anträgen, die nur noch eines signalisieren: Misstrauen.
Schröders Grundsatzrede in Bochum sollte am Montag genau diesen Zustand beenden. Früher hat er dabei gerne über seine Partei gelästert und Luther zitiert: "Einem verzagten Arsch entfährt kein fröhlicher Furz". Aber seine Worte waren diesmal deutlicher werbender, umschmeichelnder angelegt: eine Ansprache nach innen.
In seiner 80-minütigen verhalten vorgetragenen Rede betonte Schröder angesichts der parteiinternen Kritik an seinem Kurs seine emotionale Bindung an die Partei: "Auf nichts, beziehungsweise auf weniges, bin ich mehr stolz, als darauf, Vorsitzender dieser großen Partei zu sein", rief er am Montag den 500 Delegierten in Bochum zu. Gerne erwähnte er, dass er nun schon seit 40 Jahren Mitglied ist.
Er warb um Zustimmung für seinen Reformkurs, den er geschickt in die Tradition der SPD stellte: "Wir haben jetzt die Chance, der langen Geschichte der deutschen Sozialdemokratie ein weiteres stolzes Kapitel hinzuzufügen." Er beließ es meist bei Oberbegriffen. Auf die verschiedenen Reformen seiner Agenda 2010 ging er kaum im Detail ein. Stattdessen lobte er den eigenen Laden und griff vor allem die Union an.
Schröders Rede am ersten von drei Tagen der Beratungen galt im Vorfeld als entscheidend für Stimmung und Verlauf des Treffens, von dem sich die Parteiführung ein Aufbruchsignal und Unterstützung für die Reformen erhofft. Die Rede wurde von den Delegierten mit drei Minuten langem stehendem Beifall bedacht. Begeistert waren sie nicht, aber angesichts der parteiinternen Krisenstimmung ist das ja fast schon Ekstase.
Keine Drohungen
Regierungsfähigkeit sei nicht nur eine Eigenschaft von Bundeskanzler und Bundesregierung, mahnte der Kanzler: "Auch die Partei muss Regierungsfähigkeit wollen und mittragen." Schröder hatte im Streit um die Reformen sein politisches Schicksal mehrfach an die Umsetzung der Agenda 2010 geknüpft - auf dem Parteitag vermied er aber jede Form von (Rücktritts-)Drohung. Vielmehr versuchte er seinen Genossen Selbstbewusstsein einzuimpfen. Vom Kindergeld bis zum Atomausstieg, alles, was in den letzten Jahren Gutes auf den Weg gebracht wurde, trage den Stempel SPD. Schröder erinnerte in seiner Rede ein wenig an die Werbung für ein schmerzlinderndes Hustenbonbon: Er greift die Partei beim Schopf, schüttelt sie und fragt streng: Na, wer hat's erfunden?
"Wenn wir uns das Leben nicht selbst schwerer machen, als es ist, wird das eine große sozialdemokratische Epoche", sagte Schröder. So wie er stolz auf die SPD sei, sollten dies alle Mitglieder sein und, im Gegensatz zur Vergangenheit, die Erfolge der SPD besser und selbstbewusster vertreten.
Mit seinem ausgeprägten Gespür für populäre Strömungen rief er wiederholt in Erinnerung, dass es die SPD - und damit er - waren, die sich gegen den Irak-Krieg gestellt hatten. Als Anführer der Antikriegsfront lässt sich immer noch das eigene Terrain befrieden. Das waren die Stellen mit dem meisten Applaus für den Vorsitzenden.
Lässt Schröder Scholz fallen?
Schröder legte unter lautem Beifall ein Bekenntnis ab zu dem Begriff des "demokratischen Sozialismus". Ein Augenblick, in dem seinem Generalsekretär Olaf Scholz das Gesicht gefror, unglücklicherweise für jeden sichtbar auf der Großbildleinwand. Scholz steht in der Partei unter verschärfter Beobachtung, weil ihn viele verantwortlich machen für das schlechte Erscheinungsbild der Partei und er im Sommer eine Programmdebatte auslöste und den "demokratischen Sozialismus", so etwas wie der Leuchtturm der SPD, abschaffen wollte.
Nicht wenige vermuten, dass Schröder im Sommer seinen Generalsekretär vorgeschickt hatte und an den Reaktionen spürte, dass er damit vielen Genossen zu viel Symbolik stehlen würde. Jetzt holte sich Schröder mit seinem "Ja zum demokratischen Sozialismus" wieder ein Stück Parteiliebe zurück. Auch wenn Scholz im weiteren Verlauf der Rede dann noch öfter gönnerhaft gelobt wurde, bekam dieser am Montagnachmittag wohl eine Ahnung davon, wie weit die Loyalität seines Chefs geht: So weit, wie sie ihm nützt.
In der Aussprache zu seiner Rede konnte Schröder sich einen Eindruck machen von dem Effekt seiner Rede - obwohl der die meist dröge abgelesenen Erklärungen schwänzte. Die SPD-Linke Andrea Nahles sagte, die SPD sei in der Reformdebatte als Partei der Einschnitte aufgetreten und habe nicht genug deutlich gemacht, wozu der Umbau des Sozialstaates notwendig sei. In der Grundsatzrede von Schröder vermisse sie ein klares Bekenntnis zur Bürgerversicherung.
Gabriel geht in Stellung
Der niedersächsische SPD-Fraktionschef Sigmar Gabriel forderte, die SPD solle zeigen, dass sie die Bürger mit ihren Alltagssorgen nicht allein lässt. In einer kämpferischen Rede sagte Gabriel weiter, es dürfe kein Rütteln an der Tarifautonomie geben - ein Thema, bei dem Schröder über Absichtserklärungen nicht hinauskam. Gabriel, der nach seiner Niederlage bei den Landtagswahlen beharrlich an einem Comeback auf Bundesebene arbeitet, griff indirekt auch Schröder an. "Wir haben uns zu sehr um die neue Mitte gekümmert und dabei unsere alte Mitte verloren". Der Mann, das war zu spüren, hat noch Appetit auf mehr und bedient sich dabei der Methode Schröder.
Der Sprecher des Arbeitnehmerflügels, Ottmar Schreiner, hingegen kam nicht über das hinaus, was er schon vor Monaten auf den SPD-Regionalkonferenzen erzählte. Er warnte vor einer "Amerikanisierung" auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Notwendig seien deshalb vor allem Investitionen in Bildung, Qualifizierung und Weiterbildung, mahnte Schreiner. Andernfalls drohe "ein tiefer Graben" in der Gesellschaft.
Der Graben, der sich am Montag in der SPD zeigte, war ein anderer. Schröder hatte sichtbar keine Lust über Details seiner Reform zu diskutieren. Er sieht sie als etwas großes Ganzes. Mehr als Obergriffe oder emotionale Effekthascherei hatte er dabei nicht zu bieten: "Wir wollen den Staat stärken, indem wir ihn schlank machen", sagte Schröder. Oder: "Weniges ist mir in meiner Regierungszeit so schwer gefallen wie die Entscheidungen, die wir zur Rente haben treffen müssen."
Für den Geschmack vieler Delegierter hat er wieder zu wenig erklärt, zu wenig geworben. Schröder will nicht zurückblicken, sondern seine Partei nach vorne ausrichten. Weil er die Köpfe zwar erreicht, aber die Gefühle nicht, ließ er sich am Ende sogar zum Pathos verleiten, das bei ihm, dem Macht-Pragmatiker, immer etwas unpassend wirkt: "Wir haben die Träume unserer Eltern im Herzen und die Zukunft unserer Kinder im Kopf". Aber die Gegenwart der SPD ist sehr grau. Und die konnte er kaum erhellen. Die SPD fährt nur noch auf Sicht.
Spiegel online, 17.11.2003
80,83 Prozent der Stimmen für Gerd - 52,6 Prozent für Olaf
Bei der Wiederwahl zum SPD-Vorsitzenden fällt das Votum um 7,75 Prozent niedriger aus als vor zwei Jahren. "Ehrliches Ergebnis". Denkzettel für Scholz und Clement
Bochum - Bundeskanzler Gerhard Schröder ist mit erheblichen Stimmenverlusten als SPD-Vorsitzender bestätigt worden. Auf dem SPD-Bundesparteitag erhielt er am Montag in Bochum 409 Stimmen. Das entspricht 80,83 Prozent. Mit Nein stimmten 77 Delegierte, 20 enthielten sich.
Schröder bedankte sich bei den Delegierten für die Wiederwahl. „Ich nehme die Wahl sehr gerne an“, sagte er. Er nahm den leichten Dämpfer zur Kenntnis und sprach von einem „ehrlichen“ Ergebnis, das „der Würde unserer Partei gerecht wird“.
Das Wahlergebnis fiel um 7,75 Punkte niedriger aus als bei seiner letzten Wahl vor zwei Jahren in Nürnberg. Die zunächst für den Bundesparteitag erwartete Abrechnung mit dem Regierungsstil des Kanzlers war zuvor in der mehrstündigen Aussprache eher moderat ausgefallen. Der 59 Jahre alte Schröder ist seit 1999 Parteivorsitzender.
Nur mit hauchdünner Mehrheit ist Olaf Scholz in seinem Amt als SPD-Generalsekretär bestätigt worden. Ganze 52,6 Prozent der Delegierten votierten für Scholz, der als einziger Kandidat antrat. Im Oktober 2002 war er mit 91,3 Prozent erstmals in das Amt gewählt worden.
Einen Schuss vor den Bug bekam Superminister Wolfgang Clement. Er wurde mit nur 56,7 Prozent als Vize bestätigt. Lediglich 283 von 499 Delegierten stimmten für den Wirtschafts- und Arbeitsminister. 169 votierten mit Nein, 74 enthielten sich. Das bedeutet ein Minus von 12,24 Prozent gegenüber der Wahl 2001. Es sei für ihn „ja noch mal gut gegangen“, sagte er.
Die Welt, 17.11.2003
SPD-Parteitag straft Scholz und Clement ab
Bundeskanzler Gerhard Schröder ist auf einem SPD-Bundesparteitag mit großer Mehrheit als SPD-Vorsitzender wiedergewählt worden. Die mit Abstand schlechtesten Ergebnise erhielten Olaf Scholz und Wolfgang Clement.
Auf dem Parteitag in Bochum stimmten 409 Delegierte für Schröder, 77 Delegierten stimmten gegen ihn, es gab 20 Enthaltungen. Dies entspricht nach Angaben der Parteitags-Leitung einer Zustimmung von 80,83 Prozent. Das Ergebnis ist ein kleiner Dämpfer für den Vorsitzenden der Sozialdemokraten. Vor zwei Jahren hatte Schröder noch 88,58 Prozent der Stimmen erhalten. Schröder hatte damals den Parteivorsitz 1999 nach dem Rücktritt von Oskar Lafontaine übernommen. Der sichtlich enttäuschte Schröder sprach von einem "ehrlichen" Ergebnis, das "der Würde unserer Partei gerecht wird".
Olaf Scholz wurde erneut zum Generalsekretär gewählt, der Wahlausgang drückte indes einen erheblichen Vertrauensverlust aus. 264 Delegierte stimmten mit Ja, 201 mit Nein und 37 enthielten sich der Stimme. Dies entspricht einer Zustimmung von 52,6 Prozent. Bei seiner ersten Wahl hatte Scholz 91,3 Prozent der Delegiertenstimmen bekommen.
Das zweitschlechteste Ergebnis gab es für Wolfgang Clement. Er wurde mit nur 56,7 Prozent als SPD-Vize bestätigt. Nur 283 von 499 Delegierten stimmten für den Wirtschaftsminister. 169 votierten mit Nein, 74 enthielten sich. Das bedeutet ein deutliches Minus von 12,24 Punkten gegenüber der Wahl vor zwei Jahren. Clement zeigte sich erleichtert, dass er die 50-Prozent-Hürde gemeistert hat. "Das ist ja noch mal so eben gut gegangen", sagte er.
Thierse auf Beliebheitsskala ganz oben
Mit großer Mehrheit wurde dagegen Wolfgang Thierse als Partei-Vize bestätigt. Für Thierse stimmten 453 Abgeordnete, das sind 90,05 Prozent. Dies ist das beste Ergebnis aller fünf Stellvertreter. Zum stellvertretenen SPD-Chef wurde der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kurt Beck gewählt. Beck erhielt 82,64 Prozent der Stimmen. Er kandidierte zum ersten Mal für das Amt. Auch Ute Vogt wurde ins Amt der stellvertretenden SPD-Vorsitzenden gewählt. Der Bundesparteitag wählte die parlamentarische Staatssekretärin im Innenministerium mit 354 Ja-Stimmen, 103 Nein-Stimmen und 45 Enthaltungen zur Stellvertreterin von Parteichef Gerhard Schröder. Das entspricht einer Zustimmung von 70,5 Prozent. Vogt übernimmt das Amt von Familienministerin Renate Schmidt, die nicht mehr kandidiert hatte. Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul erhielt bei der Wahl zur stellvertretenden Vorsitzenden 429 Ja-Stimmen, 42 Nein-Stimmen und 36 Enthaltungen. Das entspricht einer Zustimmung von 84,6 Prozent. Vor zwei Jahren hatte Wieczorek-Zeul 83,8 Prozent bekommen.
Quelle: http://www.ftd.de/pw/de/1068878706478.html?nv=hptn
SCHRÖDER NACH WAHLDENKZETTEL
"Man muss mit kollektiver Unvernunft leben"
Sein eigenes Ergebnis (80,8 Prozent) bei der Wiederwahl zum SPD-Vorsitzenden nahm Kanzler Schröder noch gelassen. Auf die Ohrfeigen für Wirtschaftsminister Clement (56,7 Prozent) und für seinen Generalsekretär Scholz (52,6 Prozent) reagierte er jedoch sauer: Man müsse mit kollektiver Unvernunft leben.
Bochum - Gerhard Schröder kommentierte seinen eigenen Stimmenverlust emotionslos. Es sei normal, dass sich Frust und Enttäuschung über schlechte Umfrage- und Wahlergebnisse an Personen abladen, sagte der Kanzler nach seiner Wiederwahl zum SPD-Chef auf dem Bochumer Parteitag. Er hatte knapp acht Prozentpunkte weniger erhalten als vor zwei Jahren.
Schröder stärkte seinen Stellvertretern Wolfgang Clement und Generalsekretär Olaf Scholz, die nur auf 56,7 Prozent beziehungsweise 52,6 Prozent Zustimmung stießen, demonstrativ den Rücken. Besonders nahm er Scholz in Schutz. "Gelegentlich muss man mit kollektiver Unvernunft leben", sagte Schröder in einem Interview mit dem Nachrichtensender N24.
Spiegel online, 18.11.2003
MEUTEREI AUF DEM SPD-PARTEITAG
Schockierte Parteispitze fahndet nach dem Putschisten
Die Vorstandswahlergebnisse auf dem Parteitag haben die SPD-Führung um Schröder und Scholz schockiert. Sie vermutet organisierten Widerstand und fahndet nach den Putschisten. Im Visier: Sigmar Gabriel. Statt inhaltliche Signale zu setzen, merkt die Parteispitze: Sie hat ein Personalproblem am Hals - und eine unberechenbare Basis.
Bochum - "Das Wichtige tun" lautet das Leitmotiv des SPD-Parteitages. Der Slogan mit dem schwachen Verb inspiriert viele Delegierte zu starken Wortspielen bei dem Basistreffen in Bochum: Von Wichtigtuern ist viel die Rede, von gewichtigen Intriganten und richtigen Wichten. Das in der Politik ohnehin stark ausgeprägte Lästerlevel ist in Bochum sehr hoch. Die alte Politikerweisheit "hast du Parteifreunde, brauchst du keine Feinde mehr" bringen die Genossen gerade in Wort und Tat zu neuen Ehren. Für einige ist das schon Ausdruck von Verzweiflung.
Fraktionschef Franz Müntefering bereitet das Sorgen. Er ist einigermaßen sauer auf seine Partei. Es lief gar nicht so schlecht, "die Rede von Parteichef Gerhard Schröder am Montag war richtig gut", es war sozusagen eine sozialdemokratische Übersetzung seines Regierungsredens und -handelns. Die Aussprache lief verhalten, das Wahlergebnis für den Vorsitzenden fiel angesichts des Unmutes in Land und Partei sogar fast gut aus mit über 80 Prozent.
Brüder, zur Tonne...
Es war die Botschaft, die Schröder und Co. sich erhofft hatten: Die Genossen haben sich zusammengerauft, sie haben den Mut, die Agenda 2010 auch programmatisch in die Partei zu integrieren und sich damit zur modernsten Politikbewegung zu wandeln. Den Streit hinter sich lassen, der Zukunft zugewandt, Brüder zu Sonne...
Aber durch ihre rosa Brille mussten die SPD-Führer dann mit ansehen, wie die Partei bei den weiteren Wahlen Denkzettel verteilte, die mit dem Begriff Misstrauensvotum noch stark untertrieben sind. Dabei traf es nicht nur die Stützen Schröders. Am Dienstag bekamen auch die Reformgegner von Andrea Nahles bis Sigrid Skarpelis-Sperk ihre Abreibung. Die Berater von Schröder und Müntefering fürchten nun, dass von Bochum kein inhaltliches Signal ausgeht, sondern die SPD eine Personaldebatte am Hals hat. Alles wieder hin, per Stimmzettel in die Tonne getreten.
Brutale Watschn für Clement und Scholz
Hinter den Kulissen wird nach Strippenziehern gefahndet. Vor allem das desaströse Ergebnis für Generalsekretär Olaf Scholz und die schallende Ohrfeige für Partei-Vize Wolfgang Clement hält die Parteiführung nicht nur für ein spontanes Unmutsbekenntnis. "Die Ergebnisse waren so brutal, da muss es organisierte Absprachen gegeben haben", sagt ein Mitglied des Vorstandes.
Spricht man mit einzelnen Delegationschefs der Landesverbände, dann wird das bestritten. Im Gegenteil: "Die Blockbildung funktioniert nicht mehr so gut wie früher, viele Provinzfürsten können sich nicht mehr verbürgen für das Abstimmungsverhalten ihrer Delegierten", sagt der Chef eines der größten Landesverbände. In der Reformdebatte hat sich die Partei fraktioniert: Es gibt nicht mehr nur die Linken und Rechten, sondern eine Vielzahl von Interessensgemeinschaften, manchmal auch nur Zweckbündnisse auf Zeit: ein Abbild der Sinnsuche, aber eben auch eine unberechenbare Organisation.
Schröder und Müntefering gehen dennoch davon aus, dass die "öffentliche Hinrichtung" von Scholz zumindest zum Teil organisiert war. Als Hauptverdächtiger des Stimmungs-Putsches gilt Sigmar Gabriel.
Mehr junge Frauen
Der Fraktionschef in Niedersachsen und Popbeauftragte sammelt nicht nur die meisten Spitznamen in der SPD (Sigi Pop, Harzer Roller, Red Bull), er fiel auch auf dem Parteitag wieder dadurch auf, dass er alles toll findet, was Stimmung bringt. Die Studiengebühren, die er vor einer Woche forderte, sind ihm schon wieder "scheißegal", dafür müsse die SPD wieder mehr für Köche tun, die nur 800 Euro verdienen, die alte statt die neue Mitte pflegen, und überhaupt "treten zu wenig junge Frauen in die Partei ein".
In zwei kernigen Reden stellte Gabriel sein Populismustalent unter Beweis und spielte ein wenig mit den Muskeln. Angeblich soll er gehofft haben, dass Scholz bei der Wahl sogar ganz durchfällt, um dann selbst anzutreten. Gabriel gilt in der Partei als undiszipliniert und unzuverlässig, aber er kennt alle Tricks und Spielchen bei der Selbst- und Politikvermarktung, die Scholz so schlecht beherrscht. Scholz konnte er (noch) nicht beerben, aber er wurde am Dienstag dann mit gutem Ergebnis und im ersten Wahlgang als Beisitzer in den Vorstand gewählt. Gabriel genießt und schweigt.
Ärger aus NRW
Auch dem Landesvorsitzenden des mächtigsten Landesverbandes Nordrhein-Westfalen (NRW), Harald Schartau, werden Ambitionen auf Scholz' Posten nachgesagt. Er wäre bereits nach dem Wechsel von Clement nach Berlin gerne Ministerpräsident in NRW geworden. Jetzt muss er mit ansehen, wie in Berlin die Stimmung versaut wird, und sein Ministerpräsident in NRW, Peer Steinbrück, gilt vor wichtigen Kommunalwalen im SPD-Stammland auch nicht als Beglücker.
Die SPD-Führung sucht nun nach einer Lösung für das Problem Scholz. Schröder will weiter an ihm festhalten, für ihn ist der Hamburger eines der größten Talente. Das wird auch in der SPD nicht bestritten, aber vermutlich ist der "Scholzomat" - ein Titel, den er nicht mehr loswird - mit seinem Talent an falscher Stelle eingesetzt.
Was wird aus Scholz?
Scholz selbst behauptet, er wolle weitermachen. Doch der Mann sieht schwer mitgenommen aus und guckt überrascht auf, wenn ihn junge Parteimitglieder mal um ein Autogramm bitten: Wie? Von mir? Schröder fürchtet, dass der Mann, der für ihn jeden Tag an der Front kämpfen muss, um nach außen den politischen Gegner zu attackieren und nach innen den Laden zusammen zu halten, mit dem Wahlergebnis zu wenig Autorität und Respekt besitzt, um effektiv arbeiten zu können. "Der wird doch in jeder Talkshow erstmal für sein Ergebnis fertig gemacht, bevor er auch nur ein Wort gesagt hat", heißt es im Umfeld Schröders.
In der Führung geht man auch davon aus, dass Gabriel keine Gelegenheit auslassen wird, die Debatte um Scholz am Leben zu erhalten. Der müsste nun durch die Ortsvereine tingeln, um seinen Kontakt zur Basis aufzupolieren. Ein schlechter Zeitpunkt für eine parteiinterne Goodwill-Tour: Die SPD dümpelt bei 25 Prozent und braucht dringend Marketing nach außen. Als ein Szenario wird deshalb durchdacht, die parteiinterne Diskussion um Scholz zu deckeln und ihn nach einer gewissen Anstandsfrist umzufunktionieren. Schröder würde dafür sorgen, dass Scholz dabei die Treppe nicht herunter fällt. Scholz wäre nicht der erste Wahlverlierer, der im Schröder-Kabinett wieder auftaucht.
Spiegel online, 18.11.2003
KANZLERS WUT
"Was Ihr da abgeliefert habt, war eine Sauerei!"
Hans Eichel (61,7 Prozent), Wolfgang Clement (56,7 Prozent), Olaf Scholz (52,6 Prozent) - der SPD-Parteitag wurde für manchen Genossen zur Demütigung. Hinter den Kulissen tobte Parteichef Schröder und las angeblichen Intriganten die Leviten.
Hamburg - Nach außen schimpfte Kanzler Gerhard Schröder nach dem schlechten Abschneiden führender SPD-Politiker bei den Vorstandswahlen auf dem Bochumer Parteitag, es habe sich bei den Delegierten "kollektiver Unvernunft" breit gemacht. Nach Informationen der "Bild"-Zeitung ist Schröder jedoch weitaus stärker verärgert als bisher bekannt.
Intern soll Schröder den niedersächsischen SPD-Landesvorsitzenden Wolfgang Jüttner für die schwachen Wahlergebnisse verantwortlich gemacht haben. Das Blatt beruft sich auf Informationen aus Parteikreisen. Besonders soll Jüttner versucht haben, gegen SPD-Generalsekretär Olaf Scholz intrigiert zu haben. Der Kanzler habe dies Jüttner am Rande des Parteitags in lautem Ton vorgeworfen: "Was Ihr da abgeliefert habt, war eine Sauerei!"
Damit habe der SPD-Vorsitzende auf Vermutungen in der Parteispitze reagiert, dass gerade auch die niedersächsischen Parteitagsdelegierten das schwache Abstimmungsergebnis von Scholz herbeigeführt hätten, schreibt das Blatt.
Auch der Vorsitzende der SPD-Fraktion im niedersächsischen Landtag, Sigmar Gabriel, der im ersten Durchgang in den Vorstand gewählt wurde, wurde als "Intrigant" gegen Scholz gehandelt. In der ARD sagte Gabriel jedoch, er habe Scholz gewählt und seine Delegierten davon zu überzeugen versucht, den Generalsekretär zu bestätigen - was jedoch schwierig gewesen sei.
Spiegel online,19.11.2003
Matthias Platzeck, während des Oderhochwassers 1997 als "Deichgraf" zu überregionalem Ruhm gelangt, musste erst vor wenigen Wochen bei der Kommunalwahl in Brandenburg für seine Partei eine herbe Niederlage quittieren. Gerade noch 23,6 Prozent der Wähler mochten im einstigen Stammland der SPD ihre Stimme geben. Die Sozialdemokraten landeten abgeschlagen hinter der CDU und nur haarscharf vor der PDS.
Als Symbolfigur einer neuen SPD-Generation galt lange auch Leipzigs Oberbürgermeister Wolfgang Tiefensee. Nun ist Leipzig unter seiner Führung auf dem besten Weg, alle Chancen für Olympia 2012 zu verspielen - ein Sumpf von Stasi-Verdächtigungen, Vetternwirtschaft und Provisionsschiebereien tat sich auf. Bei einst führenden Repräsentanten der Olympia-Bewerbung reihte sich Rücktritt an Rücktritt. Und in Berlin wachsen die Zweifel, ob Tiefensee, der einst das von Schröder angebotene Amt des Bundesverkehrsministers selbstbewusst ausschlug, wirklich für bundespolitische Aufgaben taugt. "Die Menschen haben gesehen, dass auch ein Tiefensee nicht unsterblich ist", lästerte im "Spiegel" Peter Radunski, der für die CDU den nächsten Landtagswahlkampf in Sachsen vorbereitet, wo Tiefensee nun auch nicht mehr als Spitzenkandidat antreten mag.
Ute Vogt, Parteichefin in Baden-Württemberg, soll in Bochum zwar zur Bundes-Vize gewählt werden und Renate Schmidt ablösen. In Stuttgart aber hatte sie bei der Landtagswahl einen gewiss nicht mehr taufrischen Erwin Teufel nicht einmal ansatzweise gefährden können.
Und Olaf Scholz, der Generalsekretär, dem viele das negative Erscheinungsbild der Partei anlasten? Ihm musste diese Woche der Kanzler persönlich beispringen, nachdem Gerüchte laut geworden waren, er könne als Bauernopfer ausersehen sein. Scholz habe "sehr gute Arbeit" geleistet. Das sieht SPD-Bundestagsvizepräsidentin Susanne Kastner anders: "Der muss lernen, was in der Partei los ist, nicht nur inhaltlich, sondern auch gefühlsmäßig." Scholz jedenfalls wird es schwer haben, die 91 Prozent wieder zu erreichen, mit denen er vor einem Jahr als Nachfolger von Franz Müntefering gewählt worden war. Die Parteilinke soll in Bochum durch das eine oder andere Zugeständnis sediert werden. Zum Beispiel durch die von Clement vergebens bekämpfte Abgabe für Unternehmen, die nicht ausbilden.
Schröder wird in Bochum hartes Reformbrot backen, aber angesichts der leicht anspringenden Konjunktur auch Hoffnung verbreiten. Visionen sind dabei seine Sache nicht. Die würden zwar immer wieder verlangt. Aber als Pragmatiker sehe er die Sache so: "Wir müssen lernen, dass wir viel verändern müssen, um es zu erhalten. Es geht darum, das Gesellschaftsmodell des Sozialstaats unter völlig veränderten Bedingungen zu erhalten. Ist das keine Vision?" Otto Schily wiederum beruft sich beim Blick auf die Partei auf seine Erfahrung als Bergsteiger: "Wer Höhen bezwingen will, muss mitunter ein tiefes Tal durchschreiten, weil die Höhe anders nicht zu erreichen ist."
Und wenn die Reformen wirken, wenn mit der Union im Vermittlungsausschuss ein Kompromiss erzielt werden kann, der in diesem Land endlich einen Ruck bewirkt, dann baut Schröder darauf, dass er 2006 nicht chancenlos ist gegen einen Unionskandidaten, wer immer das dann sein wird. Denn Wahlen kann er nach eigener Einschätzung "jeden Sonntag" gewinnen, kämpfen mindestens so gut wie dereinst Kohl. Das hat er bewiesen - ganz ohne Troika.
Artikel erschienen am 16. Nov 2003
Quelle: http://www.wams.de/data/2003/11/16/198062.html?s=3
Neuer Ärger für angeschlagenen Scholz
Olaf Scholz hat's derzeit nicht leicht. Erst die Wahlschlappe in Bochum und jetzt auch noch das: Immer mehr Genossen in Hamburg zweifeln daran, dass der SPD-Generalsekretär die richtige Besetzung für den Job des Landesvorsitzenden ist.
Hamburg - Der SPD-Spitzenkandidat für die Bürgerschaftswahl 2005, Thomas Mirow, sagte, für die notwendige Debatte über die Rolle von Scholz biete die Landesvorstandsitzung am kommenden Montag eine erste Gelegenheit. Scholz, der sich dazu heute nicht äußern wollte, war in Bochum mit nur 52,58 Prozent der Stimmen im Amt des Generalsekretärs bestätigt worden.
Mirow sagte: "Es bekommt Parteien schlecht, wenn man versucht, Debatten wegzudrücken." Aus Hamburger SPD-Kreisen hieß es, die Kritik wachse. Immer mehr Genossen stellten sich die Frage, ob die Parteispitze in Hamburg richtig besetzt sei. Die Wahl eines neuen SPD-Vorstands in Hamburg ist für Mai 2004 geplant. Dem Fernsehsender Hamburg 1 sagte Mirow zu Scholz' Doppelfunktion als Generalsekretär und SPD-Landeschef: "Man muss es so sehen, dass die Doppelfunktion intern als Problem diskutiert wird." Es gebe in der Partei Stimmen, "die meinen, die Doppelbelastung ist ein Handicap".
Die SPD-Politikerin Barbara Duden sagte dem "Hamburger Abendblatt": "Der Hamburger Landesverband hat es verdient, dass man sich gut um ihn kümmert." Die SPD müsse offen diskutieren, ob die Doppelbelastung für Scholz und die Partei sinnvoll sei. Aus der Fraktion hieß es dagegen, Scholz sei "nicht der Beliebteste", aber er habe die SPD in Hamburg nach der verlorenen Bürgerschaftswahl vor zwei Jahren zusammengehalten und neu aufgestellt.
Quelle: http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,274740,00.html
DIE SPD UND IHR KANZLER
Die SPD - Opposition und Regierungspartei zugleich: Last man standing
Einsamer Kanzler, verzweifelte Partei: Der Bochumer Parteitag führte die SPD nicht zu der Geschlossenheit, die der Regierungschef für seine Reformen braucht. Zerrissen zwischen Tradition und Moderne zerfleischen sich die Flügel der SPD. Das Plenum singt Arbeiterhymnen, doch Schröder droht seinen Gegnern: Euch mach ich fertig.
Von Markus Deggerich, Bochum
Bochum - Pathos mag der Kanzler nicht. Er kann es selber nicht, zumindest nicht in seinen Reden, und ein wenig ist es ihm auch verdächtig als einem Pragmatiker der Macht. Er weint zwar im Kino beim "Wunder von Bern" und als Hans-Jochen Vogel ihn auf dem Parteitag für 40 Jahre Mitgliedschaft ehrte, wollen einige auch etwas Feuchtes in seinen Augen gesehen haben. Aber normalerweise ist so was für ihn nur "Gedöns", wie der Hannoveraner sagt.
Schröder hatte versucht, mit einer sozialdemokratischen Rede die Partei auf Reformkurs zu bringen, und am Anfang lief es auch ganz gut. Doch nach drei Tagen SPD in Bochum ist die Sonne verstaubt: Es ging einen Schritt vor und dann zwei zurück. Von Verzweiflung auf allen Flügeln ist die Rede, von offenem Hass zwischen einzelnen Personen und es wurde ordentlich neue Wut gesät für künftige Abrechnungen.
Für so was hat der Kanzler ein Elefantengedächtnis. Anfangs wollte er die Demontage seines Generalsekretärs noch den Linken anlasten. Aber es war viel schlimmer, wie er lernen musste. Die Abstrafung für Scholz kommt aus der ganzen Partei, und treibende Kräfte waren dabei sogar der sonst Schröder-freundliche Seeheimer Kreis, der niedersächsische Landesvorsitzende Wolfgang Jüttner und Harald Schartau, Landeschef in Nordrhein-Westfalen. Letzteren treibt die Sorge um, dass bei dem derzeitigen SPD-Erscheinungsbild die letzte große Bastion NRW geschleift wird. Dann wäre auch Kanzler Schröder am Ende und mit ihm eine Partei, die dann mindestens 16 Jahre Opposition vor sich hätte, Flügel- und Machtkämpfe inklusive.
Sich offen als Putschist bekennen will kaum einer. Die Antworten klingen so: "Ich weiß nicht, wer es war, aber ich war es nicht allein." Sigmar Gabriel will zwar persönlich für Scholz gestimmt haben, aber er hat geschickt die bereits vorhandene Stimmung gegen den Hamburger für sich genutzt. In Bochum wurde er nun "Mobby Dick" getauft. Schröder geht mit unverhohlenen Drohungen gegen seine Störer vor: "Euch mache ich fertig", soll er bereits Richtung Jüttner versprochen haben. Der Mann zeigt Nerven.
"Franz Allmächtig"
Schröder konnte seinen Platz im Kanzleramt sichern, aber er hat keine Hausmacht mehr. Der heimliche Parteivorsitzende ist längst Franz Müntefering, er ist der Letzte, der noch zu vermitteln mag zwischen Regierungsapparat und Fußvolk. Er ist in der SPD mittlerweile "Franz Allmächtig". Aber der Kreis der Akteure, die die Verantwortung schultern können und müssen, wird immer kleiner.
Deutlich wurde in Bochum auch die personelle Alternativlosigkeit innerhalb der SPD: Ihr fehlt eine ganze Generation. In der Altersklasse zwischen 40 und 50 drängelt nur Sigmar Gabriel nach vorne, flankiert von ein paar Aufstrebenden aus dem Osten mit ganz anderem Stil. Matthias Platzeck aus Brandenburg erhielt dabei die größte Portion Parteiliebe, abzulesen an den Vorstandwahlen.
"Dieser Parteitag hat uns nicht weitergebracht", sagt Andrea Nahles, Galionsfigur der Linken. Im Gegenteil: "Es ist sehr ernst. Jetzt geht es um unsere Zukunft als Volkspartei", erklärt sie. Sie fasst es in ein Bild: Die Partei streite darum, welchen Sattel man auf das Pferd schnalle, aber das Pferd selber ist nicht mehr fit. "Wir strahlen keine Kraft aus, wir ziehen nicht an einem Strang", lautet ihre ernüchternde Erkenntnis.
Genau das scheint auch Müntefering umzutreiben. Er fürchtet, dass die Partei beschließen kann, was sie will: Die Delegierten als Boten vor Ort vermitteln nicht mehr den Eindruck, dahinter zu stehen: "Das muss wieder anders werden". Das Führungspersonal in Berlin allein könne diesen Kraftakt nicht stemmen. Es steht viel auf dem Spiel, nicht nur die Regierungsfähigkeit, sondern die Zukunft der ältesten deutschen Partei. Die singt zwar nun wieder "Wann wir schreiten Seit' an Seit'", aber sie weiß nicht, wohin.
"Sozialdemokratischer Mehrwert"
Verstand und Gefühl driften auseinander: Große Teile der Partei erkennen die Notwendigkeit von Reformen an, sie wollen aber über ihre Ausgestaltung mitreden und vermissen vor allem eine übergeordnete Vision, "den sozialdemokratischen Mehrwert", wie es Nahles nennt.
Schröder hat auf dem Parteitag mehrfach persönlich interveniert. Doch immer nur dann, wenn ihm mögliche Beschlüsse zu enge Fesseln für die Regierungsarbeit anlegen sollten. Ein bindendes Bekenntnis zur Tarifautonomie verlangte der Parteitag. Aber Schröder weiß genau, dass die Union darin seine offene Flanke sieht. Alles andere war ihm eher egal. Die kleinen Wundpflaster, die sich die SPD mit der Forderung nach Ausbildungsumlage und Erbschaftssteuer gönnte, werden den Aderlass nicht aufhalten. Die Genossen, die demnächst im Vermittlungsausschuss sitzen und sich von der Union quälen lassen, haben jetzt schon durchblicken lassen, was sie von Parteitagsbeschlüssen halten: Das ist kein imperatives Mandat.
"Dank absprechen"
Schröders Schlusswort war knapp und ignorierte die neu geschlagenen Wunden. Der ermattete Vorsitzende sprach nur noch über Allgemeinplätze wie "eine Balance zwischen Eigenverantwortung und gesellschaftlicher Solidarität" zu finden. Er lobte seine Gegnerin Sigrid Skarpelis-Sperk, die aus dem Vorstand rausgeflogen war, für ihren "ökonomischen Sachverstand" - was viele als Heuchelei empfanden. Den abwesenden Dauergegner Rudolf Scharping, der auf eine Wiederwahl als Parteivize verzichtet hatte, wolle er bei anderer Gelegenheit seinen "Dank absprechen, äh abstatten".
"Sie wissen nicht, was sie tun"
Der Pressespiegel, den er am frühen Morgen des letzten Tages studierte, hatte ihm bereits die Laune verdorben. Schlagzeilen wie "Denn sie wissen nicht, was sie tun" und der Eindruck, dass Olaf Scholz nun endgültig zum Abschuss freigegeben ist, konnten ihm nicht gefallen. In der Partei werden schon Wetten abgeschlossen, wie lange Scholz noch durchhält. Schröder machte am letzten Tag des Delegiertentreffens den Eindruck, als wolle er schnell weg, als sei das alles nur noch lästig. Wiederholt blickte er auf seine Uhr, als die Abstimmungen nicht vorankamen, sein Schlusswort war fast nur noch ein "Danke und Tschüss".
"Der fährt jetzt zurück auf in seine Wagenburg", kommentierte ein Delegierter. Dann zieht er die Brücke hoch und kämpft weiter. Im Zweifelsfall auch gegen die eigenen Leute. Um Schröder wird es immer einsamer.
Spiegel online,20.11.2003
Stücke aus dem Tollhaus
SPD-Zoff: Herbe Äußerungen nach 22 Uhr
Des Kanzlers Streit mit seiner Partei geht weiter. Der niedersächsische Landeschef Jüttner weist die Vorwürfe Schröders zurück. Dessen Drohungen sollen ein Nachspiel haben
Hannover - Der niedersächsische SPD-Chef Wolfgang Jüttner weist die Kritik von Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) am Verhalten seines Landesverbandes auf dem Bochumer Parteitag zurück. Er habe bereits vor dem Parteitag intensiv darauf hingewiesen, dass es unter den Delegierten gebrodelt habe und sich diese Unzufriedenheit ein Ventil suchen könnte, sagte Jüttner der hannoverschen "Neuen Presse" vom Donnerstag.
Wer das nicht gesehen habe, sollte über seinen Instinkt nachdenken, forderte Jüttner. Schröder hatte die Niedersachsen-SPD maßgeblich für das miserable Wahlergebnis von Generalsekretär Olaf Scholz verantwortlich gemacht.
Der Zeitung zufolge drohte der Kanzler Jüttner mit dem Satz: "Euch mache ich fertig." Jüttner selbst sagte zu diesem Zwischenfall: "Ich denke, da gilt das Prinzip - herbe Äußerungen nach 22 Uhr unterliegen der Schweigepflicht."
Nachspiel auf dem Landesparteitag
Jüttner betonte, er habe zur Wahl von Scholz aufgerufen. Die Delegierten aus dem Bezirk Hannover seien dem weitestgehend gefolgt. Mit der Drohung des Kanzlers werde sich der am Freitag stattfindende kleine Parteitag der Niedersachsen-SPD befassen.
Unterdessen berichtet die "Bild"-Zeitung am Tag nach dem Ende des SPD-Parteitages über einen weiteren Zwischenfall. Nach Angaben des Blattes stritten sich am Rande Parteichef Schröder und Niedersachsens Fraktionschef Sigmar Gabriel.
"Brandstifter" Gabriel
Schröder habe Gabriel lautstark vorgeworfen, er sei "Brandstifter und Feuerlöscher zugleich". Gabriel habe die Parteibasis beim Thema Tarifautonomie erst gegen die Führung aufgehetzt, um dem Kanzler dann medienwirksam zur Hilfe zu eilen.
Die Welt, 20.11.2003
Partei-Linke werfen Schröder schlechten politischen Stil vor
Der Streit über die schlechten Wahlergebnisse für Generalsekretär Scholz und Wirtschaftsminister Clement auf dem SPD-Parteitag dauert an. Die Partei-Linken werfen Kanzler Schröder nun schlechten politischen Stil vor.
Berlin - Der SPD-Chef irre sich, wenn er glaube, es seien irgendwelche Verabredungen getroffen worden, sagte Detlev von Larcher, Vize-Sprecher des Forums Demokratische Linke 21 innerhalb der SPD, der Chemnitzer "Freien Presse". Was die Stimmenzahl für Generalsekretär Olaf Scholz und Wirtschaftsminister Wolfgang Clement angehe, seien keinerlei Absprachen nötig gewesen.
Der niedersächsische SPD-Fraktionschef Sigmar Gabriel wies in drastischen Worten den Vorwurf zurück, er habe auf dem SPD-Parteitag beim Thema Tarifautonomie intrigiert. "Die Theorie, ich hätte erst den Brand gestiftet, um ihn dann zu löschen, muss jemand erfunden haben, der nach dem Motto handelt: Was ich denk' und tu', das trau' ich jedem anderen zu", sagte Gabriel der "Berliner Zeitung". "Man muss nicht zwangsläufig zum Schweinehund mutieren, wenn man nur lange genug in der Politik ist", fügte er hinzu.
"Olaf Scholz und ich haben keinerlei Probleme miteinander. Da sind Leute interessiert daran, Zwietracht zu säen", sagte Gabriel der "Bild"-Zeitung. Zur Kritik Schröders an der Parteibasis erklärte Gabriel: "Ich glaube, unser Parteivorsitzender war nach den schlechten Wahlergebnissen für Generalsekretär Scholz und Wirtschaftsminister Wolfgang Clement einfach stinksauer. Das kann ich verstehen. Deshalb hat er wohl Dampf abgelassen."
Abseits der internen Querelen bleiben auch die Beschlüsse des SPD-Parteitags zur Renten- und Krankenversicherung in der Kritik. Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt sagte der "Berliner Zeitung", die Beschlüsse verschärften die demographisch bedingten Finanzierungsprobleme in den sozialen Sicherungssystemen. "Sie sind ein Rückschritt zu weiterer Umverteilung und führen zu mehr Bürokratie." Es dürfe nicht sein, "dass der Staat die hohen Pensionslasten für Beamte auf die Beitragszahler abwälzt. Das ist das Gegenteil von dem, was wir brauchen." Auch der Plan, die Krankenversicherung in eine Zwangs-Bürgerversicherung umzugestalten, gehöre in den Papierkorb.
Quelle: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,274975,00.html
SCHOLZ' DEMONTAGE
Gabriels Name stand schon auf dem Stimmzettel
Olaf Scholz' Stern sinkt. Mittlerweile scheint ausgemacht, dass der SPD-Generalsekretär nicht Landeschef in Hamburg bleiben wird. Außerdem soll ihm Vorgänger Franz Müntefering stärker auf die Finger schauen. Und jetzt wurde auch noch eine peinliche Panne vom Parteitag bekannt.
Berlin - In der Berliner SPD-Zentrale wurden bereits vor der heiklen Wiederwahl von Scholz zum Generalsekretär beim Bochumer Parteitag Stimmzettel mit dem Namen von Sigmar Gabriel gedruckt. SPD-Vorstandssprecher Bernd Neuendorf bestätigte dem Berliner "Tagesspiegel am Sonntag" den Vorgang. Es sei aber niemand aus der Führung des Willy-Brandt-Hauses dafür verantwortlich, dass es bereits Karten mit dem Namen des niedersächsischen Fraktionschefs Gabriel gegeben habe.
Vielmehr sei es "eher ein übereifriger Mitarbeiter der unteren Ebene" gewesen, sagte Neuendorf. Der Vorgang ist deshalb so brisant, weil Scholz offiziell der Kandidat von Bundeskanzler Gerhard Schröder war. Außerdem hatte Schröder der Niedersachsen-SPD und besonders Gabriel eine Intrige gegen Scholz vorgeworfen.
Gabriel reagierte empört. Er habe "nur noch die Nase voll" davon, dass der "Intrigantenstadl in Berlin" seit Wochen seinen Namen dazu missbrauche, die eigenen Machtkämpfe auszutragen, sagte er dem "Tagesspiegel am Sonntag". Scholz hatte bei seiner Wiederwahl als Generalsekretär auf dem Bundesparteitag am Montag mit 52,6 Prozent der Stimmen ein schlechtes Ergebnis bekommen. Gabriel war häufiger als möglicher Scholz-Nachfolger genannt worden.
Nach Informationen der "Welt am Sonntag" soll es eine Aussprache zwischen Scholz und dem niedersächsischen Landesvorsitzenden Wolfgang Jüttner geben. Scholz wolle Jüttners Einladung zu einem Versöhnungsgespräch annehmen, berichtet das Blatt unter Berufung auf Parteikreise.
Scholz solle sich außerdem künftig auf seine Aufgaben in Berlin konzentrieren, berichtet DER SPIEGEL. Deshalb gebe er sein Amt in Hamburg auf. Scholz selbst hatte am Freitagabend im ZDF nur gesagt, seine Entscheidung sei bereits gefallen.
Zudem soll es zwischen Scholz und SPD-Fraktionschef Franz Müntefering solle es künftig eine stärkere Arbeitsteilung geben. Müntefering soll laut Schröder die politische Strategie der SPD stärker mitprägen - "nicht gegen Scholz, sondern als Ergänzung". SPD-Sprecher Neuendorf bezeichnete diese Darstellung als "Unfug".
Scholz selbst sieht sich auch mittelfristig in einer Führungsposition der Partei. "Ich glaube, dass ich in der Zukunft auch eine wichtige Rolle spielen werde", sagte er am Freitagabend in der ZDF-Sendung "Johannes B. Kerner". Zunächst fühle er sich beauftragt, seine Aufgabe als Generalsekretär für die nächsten Jahre wahrzunehmen. Nach seiner knappen Wiederwahl war in Hamburg Kritik an Scholz' Doppelbelastung laut geworden. Im ZDF sagte er, er wolle bis Mai Vorsitzender des Landesverbandes bleiben.
Unterstützung erhielt Scholz nun immerhin vom stellvertretenden SPD-Vorsitzenden Wolfgang Thierse. Thierse sagte am Sonntag in der ZDF-Sendung "halb 12", Scholz habe das schlechte Wahlergebnis auf dem Bochumer Parteitag "nicht verdient". Seine Chance bestehe nun darin, sich bei der Debatte über das SPD-Grundsatzprogramm zu profilieren.
Thierse betonte zugleich, Fraktionschef Franz Müntefering sei einer der angesehensten Politiker in der SPD und müsse eine "besonders starke Rolle" spielen.
Spiegel online, 23.11.2003
GERSTERS BERATER-AFFÄRE
"Das ist nicht der erste Fehltritt, das Fass ist voll"
Erst wetterte nur die CSU, inzwischen kommt auch von der Vizechefin des DGB massive Kritik: Nachdem Florian Gerster 820.000 Euro für Medienberatung ausgegeben hat, verliert der Chef der Bundesanstalt für Arbeit bei früheren Unterstützern Rückhalt.
Berlin/Nürnberg - Ursula Engelen-Kefer zeigte sich verärgert, als sie am Abend in der ARD auftrat. Die Vizechefin des Deutschen Gewerkschaftsbundes, die zugleich Vorsitzendes des Verwaltungsrates der Bundesanstalt ist, distanzierte sich von Gerster. "Herr Gerster hat diese Entscheidung getroffen. Da können wir auch keinerlei Verantwortung übernehmen, und Herr Gerster muss das verantworten."
Engelen-Kefer sagte, sie kenne den mit 820.000 Euro dotierten Vertrag nicht, den die Anstalt mit der Firma WMP EuroCom abgeschlossen hat - und über sie mit dem Medienberater Bernd Schiphorst. "Da haben wir auch überhaupt keinen Einblick", sagte Engelen-Kefer.
Eine Sprecherin der Nürnberger Anstalt hatte die Honorarsumme am Wochenende bestätigt. Zugleich sprach sie von einer "marktgerechten Summe", die für umfassende Leistungen des Unternehmens vorgesehen sei.
CDA-Chef: "Klarer Fall von Veruntreuung"
Zugleich hat Gerster laut "Bild am Sonntag" auch den Kommunikationsetat der Behörde, die unter Sparzwang steht, von 135 Millionen Euro 2002 auf 251 Millionen Euro gesteigert. Die Sprecherin sagte aber: "Ich kann nicht nachvollziehen, wo dieser Betrag herkommt, es ist nirgendwo etwas versteckt." Für 2004 seien lediglich 42 Millionen Euro für Marketing- Maßnahmen, Informationskampagnen, Publikationen und Online-Dienste budgetiert.
Inhalt des Vertrages mit WMP sei eine umfassende Bestandsaufnahme des gesamten Kommunikationsbereiches der BA, die Empfehlung einer Neuordnung sowie die Entwicklung eines integrierten Kommunikationskonzeptes. Die Summe fließe nicht an den Medienberater Bernd Schiphorst als Einzelperson, sondern an das Unternehmen. "Inwieweit WMP Bernd Schiphorst vergütet, ist der BA nicht bekannt."
Schiphorst, früherer Bertelsmann-Manager und jetziger Präsident des Fußballclubs Hertha BSC Berlin, dementierte gegenüber der Berliner Zeitung "B.Z.", dass er von Gerster mit 820.000 Euro entlohnt werde. Er werde einzig und allein von der Agentur WMP bezahlt - wo er im Vorstand sitzt. "Fakt ist auch, das die WMP einen Beratervertrag mit der Bundesanstalt für Arbeit besitzt", wird Schiphorst zitiert. Er leite eine Arbeitsgruppe, die die BA unterstützt.
Das Mitglied im Verwaltungsrat der Bundesanstalt, Jürgen Heike, sagte der "BamS": "In der Bundesanstalt für Arbeit schüttelt man nur noch den Kopf. Die Beträge sind abenteuerlich." Der CSU-Politiker verlangte von Gerster die umgehende Offenlegung der Verträge. "Wir lassen uns nicht länger veräppeln", sagte der Staatssekretär im bayerischen Arbeitsministerium.
Der Vorsitzende der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA), Hermann-Josef Arentz, forderte die Bundesregierung auf, über eine Ablösung Gersters nachzudenken. "Sollten die bekannt gewordenen Zahlen und die Absichten des Vorstandsvorsitzenden zutreffen, dann ist das ein klarer Fall von Veruntreuung von Beitragsgeldern", sagte Arentz der "Rheinischen Post". Der zuständige Bundestagsausschuss müsse sich umgehend mit Gersters Ausgaben befassen und ihn dazu vorladen. "Das ist nicht sein erster Fehltritt, das Fass ist voll", sagte Arentz. Ähnlich hatte sich zuvor bereits der CSU-Sozialexperte Horst Seehofer geäußert.
Das zuständige Bundeswirtschafts- und Arbeitsministerium aber gab sich bedeckt. Es erklärte lediglich: "Das ist eine Angelegenheit des Vorstands der Bundesanstalt für Arbeit."
Spiegel online, 24.11.2003
Druck auf Gerster wegen Beratervertrag wächst
Die Verwaltungsratsspitze der Bundesanstalt für Arbeit hat sich nach den Verschwendungsvorwürfen gegen Florian Gerster vom Behördenchef deutlich distanziert. In der Union werden Rücktrittsforderungen gegen Gerster laut.
Die amtierende Ratsvorsitzende und stellvertretende DGB-Chefin Ursula Engelen-Kefer kritisierte die mangelnde Transparenz bei der Bundesanstalt für Arbeit. Sie kenne den strittigen, mit 820.000 Euro dotierten Vertrag nicht, den die Bundesanstalt mit der Firma WMP EuroCom und über sie mit dem Medienberater und ehemaligen Bertelsmann-Manager Bernd Schiphorst geschlossen hat. "In die Vertragsgestaltung zwischen Gerster und Schiphorst haben wir überhaupt keinen Einblick", sagte Engelen-Kefer. Für Marketing-Aufgaben hat die Bundesanstalt im kommenden Jahr 42 Mio. Euro eingeplant, 25 Mio. Euro allein für den Sektor Öffentlichkeitsarbeit. Die Summe solle dafür verwendet werden, Instrumente bekannt zu machen, die im Zuge der Reform der Bundesanstalt eingeführt werden, etwa die Personalservice-Agenturen. Den Aufwand für die Öffentlichkeitsarbeit hält Ratsvorsitzende Engelen-Kefer jedoch für "sehr üppig dimensioniert" und ließ ihn bis Freitag sperren.
BA hält Schiphorsts Entlohnung für marktgerecht
Die Gewerkschaften hatten sich bereits bei der Beratung des Haushalts gegen die Etathöhe gestemmt. "Wir waren der Meinung, dass diese Mittel besser verwendet werden, indem man sie in Maßnahmen tut, die eben gerade die Langzeitarbeitslosigkeit bekämpfen, aber wir haben uns damit nicht durchsetzen können", sagte die Gewerkschafterin.
Den Entlohnung von Schiphorst hält die Behörde indes für angemessen. Eine Sprecherin der Nürnberger Anstalt hatte die Honorarsumme am Wochenende bestätigt und sprach von einer "marktgerechten Summe". Schiphorst hatte in der Berliner Tageszeitung "B.Z." dementiert, dass er von Gerster mit 820.000 Euro erhalte. Er werde einzig und allein von der Agentur WMP bezahlt. "Fakt ist auch, das die WMP einen Beratervertrag mit der Bundesanstalt für Arbeit besitzt", wird Schiphorst zitiert. Er leite eine Arbeitsgruppe, welche die Bundesanstalt bei der Öffentlichkeitsarbeit unterstütze.
Arentz fordert Gersters Kopf
Der Rat stößt sich offenbar nicht nur an der Summe für Schiphorst, sondern auch an seinem Konzept. Man habe sich "darum bemüht, gerade den Kommunikationsetat etwas näher kennen zu lernen und auch ein Konzept vorgestellt zu bekommen von Herrn Schiphorst", sagte Engelen-Kefer. Es sei nicht nur Gewerkschaftsmeinung gewesen, "dass das, was dort vorgetragen wurde, nicht überzeugend war und deshalb ist auch von allen gemeinsam der Sperrvermerk verfügt worden". Der Vorsitzende der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA), Hermann-Josef Arentz, forderte die Bundesregierung auf, über eine Ablösung des Chefs der Bundesanstalt für Arbeit, Florian Gerster, nachzudenken. "Sollten die bekannt gewordenen Zahlen und die Absichten des Vorstandsvorsitzenden zutreffen, dann ist das ein klarer Fall von Veruntreuung von Beitragsgeldern", sagte Arentz der "Rheinischen Post". Ähnlich hatte sich zuvor bereits der CSU-Sozialexperte Horst Seehofer geäußert. Kritisch äußerte sich auch der Deutsche Gewerkschaftsbund.
Quelle: http://www.ftd.de/pw/de/1069485168935.html?nv=hptn
Neue Variante:
Gewerkschaftskampagne gegen Gerster
Die Gewerkschaften sind wirtschaflich und politisch Hauptbetroffene des Umbaus der Bundesanstalt für Arbeit.
Wirtschaftlich sind die Gewerkschaften durch die Pleite etlicher gewerkschaftseigener und - naher Bildungsträger betroffen, denen Gerster das Geld für nicht arbeitsmarktgerechte Bildungsmaßnahmen gestrichen hat. Hierbei geht es übrigens im Milliardensummen.
Politisch sind die Gewerkschaften doppelt betroffen:
- im Verwaltungsrat der BA sitzen sie drittelparitätisch mit Arbeitgebern und Bundesländern an einem Tisch.
- die Umstrukturierung der BA zur Bundesagentur für Arbeit erfordert auch eine Umorientierung dessen, was als "Gewerkschaftsmentalität" bei Arbeitnehmern und Arbeitslosen bekannt ist.
Nun hat Frau Engelen-Kefer eine Kampagne gegen Florian Gerster losgetreten, die eben die Öffentlichkeitsarbeit der BA auf Monate blockieren soll. Politischer Stil ist das nicht, weil sie zuvor im Verwaltunsgrat der BA von den anderen Vertretern niedergestimmt wurde. Nun waschen eben die Gewerkschaften dreckige Wäsche.
Dabei geht es um 820.000 Euro, ein lächerlicher Betrag, angesichts 57 Mrd. Euro Gesamtetat. Ein lächerliches Honorar, wenn man bedenkt, dass über 66% davon direkt als Steuern anfallen, weil es eine Agentur mit "Gutverdienern" ist.
Die Ablehnung von 25 Mio. Euro Gesamtetat für die Öffentlichkeitsarbeit nach einer "dürftigen" Präsentation ist auch schon ein starkes Stück. In wahrheit paßt der Gewerkschaft die politische Linie der Kampagne nicht.
Politisch sollten nun die Konsequenzen gezogen werden:
Der Verwaltungsrat der BA sollte aufgelöst werden. Stattdessen sollten Aufsichsträte nach dem Muster eines Konzernaufsichtsrates bestellt werden.
Die politische Verqickung gewerkschaftlicher Interessenwahrnehmung mit den Interessen der Arbeitslosen hat überhaupt nichts mit den Aufgaben der Bundesagentur für Arbeit zu tun.
Klartext, 24.11.2003
Land streicht Ausbildungsplätze
Streichung von Ausbildungsplätzen durch NRW-Politiker
Ausbildungsplatzabgabe für NRW billiger?
Ausbildungskonsens, Lehrstellenaktion, Werbetour: Kaum eine Möglichkeit haben die NRW-Politiker ausgelassen, um Jugendliche von der Straße zu holen. Da passt es nicht ins Bild, dass ausgerechnet das Land NRW massiv Ausbildungsplätze streicht.
Zahlreiche Lehrstellen des Landes NRW fallen 2004 weg.
Fast jeder siebte Ausbildungsplatz beim Land Nordrhein-Westfalen wird gestrichen. Rund 5.000 Azubis sind beim Land beschäftigt, genau 645 frei werdende Stellen sollen im kommenden Jahr nicht wieder besetzt werden. Finanzminister Jochen Dieckmann begründet den Schritt mit der Verlängerung der Wochenarbeitszeit für die Beschäftigten. Deshalb werde es auch langfristig insgesamt weniger Stellen geben. Besonders betroffen von der Maßnahme sind vor allem die Justizbehörden und die Hochschulen des Landes.
Widerspruch zwischen Ausbildungsabgabe und Stellenkürzungen
Bei der Universität Bielefeld fallen dann im Jahr 2004 10 von 70 Ausbildungsplätzen weg. Auf der Streichliste können zum Beispiel Glasbläser stehen, die spezielle Reagenzgläser für den Fachbereich Chemie herstellen oder Tierpfleger, die sich um die Versuchstiere kümmern. Statt Zusagen verschickt die Hochschule jetzt vor allem Absagen an viele Jugendliche. Der Rektor der Universität, Dieter Timmermann, sieht darin gerade jetzt ein falsches Signal, zumal gerade die Ausbildungsplatzabgabe im Raum stehe.
Die Bundestagsfraktion der SPD hat die Abgabe in der vergangenen Woche (12.11.03) beschlossen. Betriebe, die nicht ausreichend ausbilden, sollen im kommenden Jahr in einen Fond einzahlen. Der SPD-Vorsitzende in NRW fordert er eine "überzeugte Ausbildungsleistung" von der Wirtschaft, während das Land gleichzeitig die Ausbildungsstellen streicht.
"Kostendruck zu hoch" - Finanzminister Dieckmann verteidigt Wegfall von Ausbildungsplätzen.
Für Finanzminister Jochen Dieckmann gebe es dagegen keine Alternative zum weiteren Stellenabbau. Der Kostendruck bei den Personalausgaben lasse keine andere Wahl. Und da gibt es für den Minister auch bei den Auszubildenden keine Ausnahme. Immerhin, so Jochen Dieckmann, bilde das Land nach wie vor weit über Bedarf aus. Und die, die ihre Prüfung schaffen, sollen auch weiterhin zumindest für einige Monate eine Anstellung bekommen. Die Opposition im Landtag wird sich mit der Aussage aber wohl nicht zufrieden geben und hat der Landesregierung bereits eine kleine Anfrage vorgelegt.
WDR.de, 19.11.2003
Viele Grüße
MadChart