Revolution an der Wall Street


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24.07.03 09:39
Wie sich amerikanische Journalisten aufmachten, das Wirtschaftsgeschehen zu durchleuchten – und dabei den Nachrichtenkonzern Dow Jones schufen

Von Arne Storn

Es ist nicht überliefert, ob die drei Männer die Einigung mit einem Kopfnicken oder mit einem Handschlag besiegelten. Charles Henry Dow und Edward Davis Jones waren im November 1882 im Begriff, eine Agentur für Nachrichten aus der Finanzwelt der New Yorker Wall Street zu gründen, als Charles Milford Bergstresser zu ihnen stieß. Letzterer war wie die beiden Journalist, brachte aber zudem das nötige Geld mit. Wie aber sollte das Unternehmen nun heißen? Der Name Dow, Jones and Bergstresser, so die Legende, schien allen zu lang. Einem anderen Vorschlag – Berger, Dow and Jones – versagte der zu kurz gekommene Bergstresser seine Zustimmung. Und damit hatte er die Chance vertan, seinen Namen unsterblich zu machen, man einigte sich auf Dow, Jones & Company, Inc.

Sie alle waren zuvor bei der Nachrichtenagentur von John Kiernan gewesen: dem bärtigen, groß gewachsenen und in sich ruhenden Dow (damals 31 Jahre alt). Der aufbrausende Rotschopf Jones (26), der zwar sein Studium abgebrochen hatte, aber – wie es hieß – Finanzberichte „mit der Geschwindigkeit und Genauigkeit eines Chirurgen“ analysieren konnte. Und der stämmige, durch dicke Brillengläser blinzelnde Bergstresser, 23. Ihr erstes Büro lag in der Wall Street 15. Direkt neben der Börse zwar, aber versteckt in einem Hinterzimmer. Mitarbeiter und Besucher mussten erst ein Café durchqueren und Treppen hinabsteigen, um in den Kellerraum zu gelangen.

Nackter Boden, ungestrichene Wände – und die Arbeit so nüchtern wie das Ambiente. Dow, Jones und Bergstresser sammelten in den Banken und Unternehmen die Informationen, die ihre Mitarbeiter dann im Büro schnell und korrekt niederzuschreiben hatten. Sie benutzten dabei Kohlepapier und elfenbeinbesetzte Griffel und konnten so die neuesten Nachrichten auf bis zu 24 Blättern gleichzeitig festhalten. Ein Heer von Botenjungen flitzte los, um die Neuigkeiten anschließend zu den Kunden zu bringen.


Was heute belächelt werden mag, war in jener Zeit brandneu: Weder gab es Pressemitteilungen noch Jahresberichte. Anleger mussten sich selbst zusammenreimen, wie es um die Finanzen eines Unternehmens stand und ob sich eine Investition lohnen würde. Gerüchte prägten den Markt. Hintergrundwissen besaßen nur die wenigen Insider, die breite Masse musste fürchten, Fehlinformationen aufzusitzen. Kursmanipulationen waren an der Tagesordnung. Erst viel später, 1934, verpflichtete die Börsenaufsicht die Firmen dann, Quartals- und Jahresberichte herauszugeben und damit der Öffentlichkeit die wichtigsten Daten zugänglich zu machen.

1882 aber waren Agenturen wie die von Dow, Jones und Bergstresser für viele Anleger die einzige Informationsquelle. Entsprechend groß war die Nachfrage, und schon ein Jahr nach Gründung ihres Unternehmens entschied sich Dow, Jones mit den letzten Nachrichten regelmäßig eine zweiseitige Zusammenfassung des Tages auszuliefern: Der Customers’ Afternoon Letter war geboren, der weltweit erste Börsenbrief. Dass seine Macher objektiv und vertrauenswürdig arbeiteten, beeindruckte Leser wie etwa den Banker John Pierpont Morgan oder Unternehmer wie William Rockefeller (Standard Oil).

Schon bald erfreute sich der Brief großer Beliebtheit, seine Auflage schnellte auf 1000 Stück hoch. 1889 dann machte der Customers’ Afternoon Letter einer Zeitung doppelten Umfangs Platz. Zwei Cents kostete die damals noch um 15.15 Uhr gedruckte Tagesausgabe, fünf Dollar das Jahres-Abo. Vier Spalten füllten die erste Seite, zwei davon bestanden – wie in jenen Tagen üblich – aus Anzeigen. Die Idee für den Namen stammte von Bergstresser: The Wall Street Journal.

Es war der Anfang einer unvergleichlichen Erfolgsgeschichte: Mit einer Auflage von landesweit 1,8 Millionen Exemplaren ist das Wall Street Journal heute die bedeutendste überregionale Qualitätszeitung der Vereinigten Staaten. Die New York Times ist zwar ebenso berühmt, blieb aber im Kern eine regional verwurzelte Zeitung. USA Today wird sogar in einer noch höheren Auflage (2,2 Millionen) verkauft, gehört aber zum Genre der Boulevardblätter.

Bis heute bildet das Wall Street Journal das Herz des Nachrichtenkonzerns Dow Jones (das Komma ging nach dem Zweiten Weltkrieg auf mysteriöse Weise verloren). Zu ihm gehören heute zahlreiche Zeitungen und Magazine, Fernsehstationen, Archive und mit wsj.com das nach eigenen Angaben mit rund 680000 Nutzern größte zahlungspflichtige Nachrichtenportal im Internet.

Vieles hat das Wall Street Journal zur Institution werden lassen: der lange Zeit strikte Verzicht auf Farben und Fotos, das sechsspaltige, im vergangenen Jahr zum ersten Mal seit rund 60 Jahren veränderte Layout der ersten Seite. Scoops wie 1998 die Nachricht von der Fusion der Autokonzerne Daimler-Benz und Chrysler oder wie Anfang des Jahres der „Brief der Acht“, den europäische Regierungschefs zum bevorstehenden Irak-Krieg verfasst hatten. Chefredakteure wie Bernard „Barney“ Kilgore, der das Blatt thematisch öffnete und Leser von „Portland, Maine, bis Portland, Oregon“ bedienen wollte, oder Paul Steiger, der die Hauptredaktion direkt gegenüber dem World Trade Center am 11. September 2001 als einer der Letzten verließ und das Erscheinen der nächsten Ausgabe sicherte. Die von Dow und Jones inspirierte kompromisslose und akkurate Berichterstattung hat der Zeitung bislang 27 Pulitzer-Preise eingebracht.

Das alles konnte aber nicht verhindern, dass auch das Journal und Dow Jones unter der aktuellen Konjunkturflaute leiden müssen: 2002 war das Anzeigenaufkommen des Wall Street Journal um 49 Prozent hinter das des Boomjahres 2000 zurückgefallen, der Umsatz des gesamten Konzerns war um 30 Prozent auf knapp 1,6 Milliarden Dollar gesunken. Ironie des Schicksals, dass sich die dafür ursächliche Wirtschaftskrise auch an einem anderen, dem berühmtesten „Produkt“ des Konzerns ablesen lässt: dem „Dow Jones Industrial Average“, kurz Dow Jones genannt, dem Kursindex des New Yorker Aktienmarktes und wichtigsten Börsenbarometer der Welt.

Um einen Überblick über den Markt und seine Entwicklung zu bekommen, veröffentlichte Charles Dow am 3. Juli 1884 den ersten Index, bestehend aus elf Unternehmen, die fast alle aus dem damals dominierenden Eisenbahnsektor kamen. Die Geburtsstunde des Dow Jones heutiger Spielart schlug am 26. Mai 1896, als Dow eine Liste von zwölf Industrieunternehmen veröffentlichte, deren Aktienkurse er addierte und anschließend durch zwölf teilte. Notiert wurde ein Wert von 40,94 Punkten.


Bis heute entscheidet die Redaktion des Wall Street Journal über die Zusammensetzung des Index. Seit dem 7. Oktober 1896 wird der Abschlusswert jeden Tag publiziert. Seit 1928 setzt er sich aus den Kursen von 30 Unternehmen zusammen. Diese machen heute rund ein Fünftel der Wertschöpfung der US-Wirtschaft aus. Das einzige Unternehmen aus dem Ursprungsindex, das auch heute zum Dow Jones gehört, ist General Electric – allerdings wurde der Konzern zwischenzeitlich zweimal aus dem Dow Jones entfernt und wieder aufgenommen. Ein komplizierter Schlüssel garantiert, dass die Vergleichbarkeit der Indexwerte trotz Aktiensplits, Fusionen oder Dividendenzahlungen über die Jahrzehnte gewahrt bleibt.

Begonnen hatte Dows Faszination für die Finanzmärkte, schon bevor er nach New York gekommen war. 1851 als Farmersohn in Connecticut geboren und mit sechs Jahren zur Halbwaise geworden, lernte er schon früh den Wert des Geldes kennen. Von 1872 an arbeitete Dow dann für mehrere Zeitungen als Journalist. Als in Leadville, Colorado, ein Silberrausch ausbrach, begleitete er 1879 eine Gruppe von Geschäftsleuten, die sich das Geschehen aus der Nähe anschauen wollte. Die entstandenen Gespräche und Kontakte, etwa mit dem damaligen Präsidenten der New Yorker Börse oder mit den Finanziers, weckten Dows Interesse. 1880 traf er die Entscheidung, nach New York zu ziehen und sich ganz der Börse zu widmen.

Dow wollte das Wirtschaftsgeschehen allgemein verständlich machen. Sein Ziel, aber auch seine Herkunft verrät ein bekanntes Zitat: „Niemand, der Getreide anbaut, gräbt die Saat nach einem oder zwei Tagen wieder aus, um zu sehen, ob sie aufgegangen ist. Bei Aktien aber wollen die meisten Leute mittags ein Konto eröffnen und abends den Gewinn kassieren.“

In einer von 1899 bis 1902 publizierten Reihe von Editorials im Wall Street Journal untersuchte Dow, wie sich tägliche Veränderungen einem langfristigen Trend zuordnen lassen. Andere sollten seine Überlegungen später unter dem Label Dow Theorie zusammenfassen – heute gelten sie als ein Grundstein der technischen Analyse.

Den Aufstieg des Wall Street Journal, des Dow Jones, der Finanzmärkte – Charles Henry Dow hat nur ihre Anfänge erlebt. Anfang 1902, im Zenit seines Könnens, verkauften er und Bergstresser das Unternehmen für 130000 Dollar an den Bostoner Korrespondenten der Agentur, Clarence Barron. Edward Jones war bereits 1899 ausgestiegen. Im Prinzip war die Geschichte der drei Gründer also schon 20 Jahre nach dem Beginn ihrer Zusammenarbeit beendet. Die Geschichte der Marke Dow Jones aber wird auch noch mehr als 120 Jahre danach weitergeschrieben.


(c) DIE ZEIT 24.07.2003 Nr.31
 

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