Was kokst du?


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Neuester Beitrag: 16.06.03 00:05
Eröffnet am:15.06.03 22:37von: vega2000Anzahl Beiträge:3
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Clubmitglied, 50117 Postings, 8647 Tage vega2000Was kokst du?

 
  
    #1
15.06.03 22:37

Was kokst du?

Verrucht: Am Fall Michel Friedman lässt sich eher die dreifache Streberhaftigkeit als das einfache Dandytum diagnostizieren

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Wirkte er nicht schon immer wie gedopt? Michel Friedman redet drei Mal so schnell wie die meisten seiner Talkshow-Gäste. Dass er sie so häufig unterbricht, liegt vor allem daran, dass ihm – und wohl auch etlichen seiner Zuschauer – schon nach wenigen Worten vollkommen klar ist, was sie denn nun schon wieder sagen wollen.


Sabine Christiansen unterbricht ihre Gäste übrigens kaum weniger häu fig als Friedman, aber der Unterschied ist: Christiansen fährt ihnen mit jener traumwandlerischen Treffsicherheit, wie nur wahre Torheit sie verleiht, immer dann in die Parade, wenn es interessant wird. Friedman stört den Redeschwall immer dann, wenn Langeweile droht – also ununterbrochen.


Ohne Frage, der Mann ist schwer erträglich. Rosa Krawatte an Sonnenbankbräune mit Glanzhaar, das ist schon kühn, das hat, wie man früher sagte, einen Stich. Das deutsche Fernsehen, welches sonst den garantiert unprickelnden Normalo aus dem Nachbarvorgarten – Fliege, Beckmann, Kerner – an die Rampe schickt, hatte in Friedman einen Exoten gefunden, den man sich sogar als Empfangschef in einer Hotelhalle vorstellen kann, wo er den Gästen die Wellness-Angebote des Hauses unterbreitet. Verrucht! Der physiognomische Befund ist also erdrückend. Szeneübliche Päckchen! Rückstände! Haaranalyse! Der Name Friedman tauchte auf in den weitläufigen Zusammenhängen von Menschenhandel, Prostitution und Ukrainischer Mafia. Und nun schweigt er, dabei hat doch jeder seiner Zuschauer von ihm immer wieder mal erfahren müssen, wie man einen Beschuldigten festnagelt: „Haben Sie nun Kokain genommen, oder nicht, Herr Friedman?“


Die Schadenfreude geht also schon in Ordnung; man kann durch die Medien nicht beliebter werden als man sich selber macht. Auch der Puritanismus jener Boulevard-Blätter, die uns nun darüber belehren, dass Kokain einerseits die sexuelle Lust steigere, andererseits aber zu schlimmen Depressionen und Verfolgungswahn führe, hat etwas sozial Wertvolles, nämlich Ausgleichendes: Er beerbt eine Sitte harmloserer Zeiten, als die armen Leute am Sonntagnachmittag ausgingen, um den Reichen beim Eisessen zuzuschauen – so haben beide etwas davon, die Akteure wie die Betrachter der Skandale.


Ästhetisch enttäuschend bleibt das deprimierend geringe soziale Gefälle, in dem sich das alles abspielt. Die Eisesser von damals waren von ihrem Publikum in eine Traumferne entrückt, dass man glauben konnte, Speiseeis sei der Inbegriff irdischer Seligkeit. Aber wer beneidet heute noch gestresste Kokain-Konsumenten oder Kunden von ukrainischen Prostituierten? Jede Kleinstadt hat Swingerclubs und jede Provinzdiskothek gebietet über einen florierenden Chemikalienhandel. Es wäre ja schön, könnte man am Fall Friedman nach englischem Vorbild eine gesellschaftliche Entwicklung ins Farbige diagnostizieren. Aber ach! Was müssen wir nun denken, da der Verdacht des Drogenmissbrauchs nun erhärtet ist? Der Fernsehmoderator brauchte Koks, um drei Mal so schnell zu agieren wie seine Gäste. Das ist kein Dandytum, sondern bloß eine Verdreifachung jener Streberhaftigkeit, die den Mund nicht halten kann, wenn sie etwas zu wissen meint.

Süddeutsche


GUSTAV SEIBT

 

40 Postings, 7646 Tage _Lukas_Schadenfreude ist aber auch billig

 
  
    #2
15.06.03 22:42

Clubmitglied, 50117 Postings, 8647 Tage vega2000Möllemann würde sich tot ärgern

 
  
    #3
16.06.03 00:05

Skandalwurst mit Pinkel

Gemein: Jürgen Möllemann darf Michel Friedmans Proletenabsturz nicht mehr erleben

Jürgen Möllemann würde sich tot ärgern, wenn er es nicht schon wäre. Sein Feind Michel Friedman stürzt ab, und er kann das nicht mehr miterleben. Eine gute Woche zu früh hat sich Möllemann von der Reißleine gelassen - ist das nur schlechtes Timing oder doch die "Tragödie", zu der ein Spiegel-Nachruf den Tod des Politikers aufbauschen wollte? Fest steht: Möllemanns Abgang war reichlich überstürzt.

Voller Genugtuung hätte der Mann sich die Pranken reiben können. Bild, das perverseste Blatt Deutschlands, titelt am 14. Juni: "Kokain! Wie krank ist Michel Friedman?" So krank wie Bild-Chefredakteur Kai Diekmann? Mit dem teilt Friedman immerhin den Frisurgeschmack: Hauptsache feucht und fettig, das finden sie dann schön. Bild-Kolumnist Franz Josef Wagner könnte endlich die Gelegenheit ergreifen, das Heucheln fahren zu lassen. Der geeignete Titel für eine Friedman beiseite springende Post von Wagner wäre "Briefchen an Friedman".

Gerede über Hotelsuitenexzesse Friedmans mit Kokain und Prostituierten gibt es schon seit dem vergangenen Sommer. Sensationell oder überraschend ist das nicht gerade, denn Friedman stellt seinen Aufsteigerabgeschmack permanent öffentlich zur Schau. Im Fernsehen zeigt er sich als geriebener, aufdringlicher Gastgeber, der seinen Gästen wurstpelleneng zu Leibe rückt und seine Distanzlosigkeit als menschliche Nähe ausgibt. Der outrierte Lackel ist eine perfekte Gala- und Bunte-Existenz, der auch die richtige Lebensgefährtin hinzugecastet wurde: Bärbel Schäfer, die aus Gründen der eigenen Profession für wirklich jede TV-Peinlichkeit Verständnis aufbringen müsste - die aber jetzt, laut Bild, "Trost bei ihrer Mutter" sucht. Friedman steht auf Nutti, Schäfer heult bei Mutti: das deutsche Drama, eine Schmierseifenoper.

Mit angeblicher großer Welt prahlt Friedman, renommiert aufstreberhaft herum und zeigt vollproletig die Insignien seines Nachvornekommens vor. Analog banal ist auch die Substanz, die Friedman sich wie Millionen andere einpfeift: Nasenata. Das Zeug macht flatterzüngig, laberig und genauso anstrengend und plakativ, wie Friedman sich im Fernsehkasten präsentiert. Eingesogen als Marschierverpflegung, als Energielieferant und Außenbordmotor, bläht es den Kokskopf auf; unangenehme Demonstrationen von Größenwahn sind quasi unvermeidlich. Wer unter Vollgekokste fällt, kann sich vor ganz dollen Hechten nicht mehr retten. Kokain ist das Zeug, das Angeber- und Schreifiguren weiterschiebt. Dabei ist doch eigentlich logisch, dass ein enthemmtes Würstchen naturgemäß unangenehmer ist als ein nicht enthemmtes.

Für die Birne, soweit vorhanden, ist Nasenata gar nicht gut. Michel Friedman fand es offenbar lustig, seine telefonischen Bestellungen unter dem Pseudonym Paolo Pinkel aufzugeben - Paolo Pinkel, harr harr. Dem Proletigen ist das Toilettige zugehörig - und Koks wird ja bevorzugt von Klosettdeckeln in die Nasenlöcher gezogen. Das genuin Stilfreie gibt sich gern verrucht, riecht aber bloß nach Lokus.

Nicht interessant, aber immerhin fair wäre es, wenn all die Jungschriftsteller, Schauspieler, Musiker, Medienmutanten, Gastronomen und Kulturbetriebsnasen bekennen wollten, was sie sich bisweilen antun: sich das Koks reinschaufeln wie die Besengten und das dann genauso toll finden wie sich selbst. Man hätte erstens eine plausible Erklärung dafür, warum sie einem alle penetrant auf den Wecker fallen, und zweitens stände Michel Friedman nicht allein und nackt unter Heuchlern. Mit dem Pulver, das in Deutschland an einem Wochenende durchgezogen wird, könnte man sämtliche Fußballplätze eines Bundesligaspieltages abkreiden - zweite Liga inklusive. Koks ist so doof, das müsste es eigentlich bei Aldi geben.

Wo auch die Kokser des Kultur- und Medienbetriebs zügig vor Anker gehen sollten, um von nun an auch ganz offiziell zu fabrizieren, was sie bislang unter falscher Flagge firmieren ließen: Aldi-TV. Den Anfang macht ein artist formerly known as Michel Friedman unter seinem wahren Namen Paolo Pinkel - ein Strizzi und Schmieri, der geeignet ist, alle antisizilianischen Ressentiments der Welt zu mobilisieren. Sein erster Gast möge der exhumierte Jürgen W. Möllemann sein zum Beweise dessen, dass Friedman stets derselbe gerechte Lohn für Möllemann war, den Möllemann ihm umgekehrt auszahlte." WIGLAF DROSTE

Wer unter Vollgekokste fällt, kann sich vor ganz dollen
Hechten nicht mehr retten -->

taz Nr. 7079 vom 16.6.2003, Seite 20, 150 Zeilen (Kommentar), WIGLAF DROSTE,

 

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