Krieg in den Trümmern des Rechts


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Eröffnet am:27.03.03 12:02von: Happy EndAnzahl Beiträge:1
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95441 Postings, 8961 Tage Happy EndKrieg in den Trümmern des Rechts

 
  
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27.03.03 12:02
Außenpolitik ohne Moral ist zynisch, doch Moral allein schützt nicht vor Terror und Massenmord

Schrecklich ist das Fernsehbild explodierender Bomben in Bagdad, entsetzlich auch die Filme von zerfetzten Leibern, von amerikanischen und irakischen Gefangenen, deren panische Blicke die fernen Betrachter vor den Bildschirmen zu fragen scheinen, warum ihr Schicksal sie in diese Not gebracht hat. Ekelhaft die lachende Visage Saddam Husseins oder seines unglückseligen Doppelgängers irgendwo in einem Bunker im Irak.

Am bedrückendsten aber ist die Ahnung, dass dieser neue, simultan vom Kriegsschauplatz übertragene, elektronische Realismus keineswegs die Wahrheit des Krieges, des Tötens und Sterbens vermittelt, sondern nur vortäuscht. Gab es je solche Obszönität wie den abendlichen BBC-Zusammenschnitt der prachtvollsten Explosionen, der aufregendsten Panzerfahrten – unterlegt mit pulsierender Rockmusik? Alles wird zur Oberfläche, auch der Tod.

Mit den spannenden Fernsehbildern droht die moralische Einbildungskraft des Publikums auf beiden Seiten des Atlantiks zu versiegen. Vielleicht soll sie auch verschwinden – die geschichtsbekannte Wahrheit, dass mancher gefallene Soldat im letzten Moment seines Lebens nach seiner Mutter schreit, und auch die Wahrheit, dass Leichengeruch nach wenigen Tagen das Schlachtfeld und bombardierte Wohnviertel überzieht. Echte Gewalt als ästhetisches Erlebnis hat Zukunft im Mediengeschäft. Für moralische Reflexionen wird die Zeit knapp.

Was für eine seltsame Neugierde treibt uns zu den Kriegsbildern? Es ist, als wollten wir in archaische Geheimnisse gesellschaftlicher Existenz blicken – in die alten Formen von höchster politischer Gewaltausübung, die zumal wir Deutschen überwunden glaubten. Zwar hat es seit 1945 mehr als einhundert Kriege gegeben, aber (bis auf die Bürgerkriege Jugoslawiens) nicht in Europa. Wir hofften, jenes dunkle Rätsel, die mörderische Gewalt-Latenz der Menschen, mit diplomatischer Vernunft gelöst und überwunden zu haben. Das Völkerrecht, dieses historische Geflecht internationaler Abmachungen, Bündnisse und Konventionen, die das friedliche Zusammenleben nach von „Kulturvölkern anerkannten Rechtsgrundsätzen“ ordnen wollen (so der Internationale Gerichtshof), dieses Recht würde uns vor dem Rückfall in jegliche Barbarei beschützen.

Artikel 25 des Grundgesetzes stellt fest, dass die allgemeinen Regeln des Völkerrechts Bestandteil des Bundesrechtes sind. Zu jenen Regeln zählt das zwischenstaatliche Gewaltverbot der UN-Charta. Doch spätestens seit der Kosovo-Intervention der Nato ohne Mandat des UN-Sicherheitsrats wird es in Abwägung mit elementaren Menschenrechten gebracht. Mit hohem moralischem Pathos („nie wieder Auschwitz“) angesichts eines drohenden Genozids im Kosovo beschworen Rudolf Scharping und Joschka Fischer den Bundestag, den ersten deutschen Waffengang seit 1945 zu genehmigen. Es war, bei Lichte betrachtet, ein moralisch legitimierter Krieg gegen das zerfallende Jugoslawien des Diktators Milo∆eviƒ. Und natürlich stand er im Gegensatz zu Artikel 26 des Grundgesetzes, der schon die Vorbereitung eines Angriffskriegs für verfassungswidrig erklärt. Dass er gleichwohl vom Parlament genehmigt und von der großen Mehrheit der Bevölkerung gutgeheißen wurde, sprach für das allgemeine menschliche Verantwortungsgefühl, das stärker war als die Gebote der Verfassung und des Völkerrechts. Aber bis in den Irak reicht dieses Gefühl nicht.

Die Glaubwürdigkeit des Sicherheitsrats ist begrenzt

Dem serbischen Kosovo-Gemetzel ähnliche, weitaus grausamere staatliche Mordaktionen hatte es nach Ende des Zweiten Weltkriegs mehrfach gegeben. Genozidforscher haben seit 1945 mindestens 50 Völkermorde gezählt, unter ihnen die Schlächtereien von Uganda, Ruanda und dem Sudan, die Millionen Menschenleben kosteten, ohne dass die „Kulturvölker“ militärisch eingriffen. Denn der Moral des Menschenrechts vorgelagert sind offenkundig die praktischen Überlegungen der Realpolitiker in den Regierungskanzleien in aller Welt. „Warum“, so mögen sie sich gefragt haben, „sollen unsere Soldaten für Afrikas Recht auf Leben, für die Freiheit und Menschenwürde der Tutsis oder Hutus sterben?“

Zwischen dem moralisch begründeten, universalen Anspruch des völkerrechtlichen Gewaltverbots und seiner politischen Aussetzung durch Nichtstun klafft genau jene Glaubwürdigkeitslücke, die auch die Zusammensetzung des Sicherheitsrats kennzeichnet. Eine Versammlung von überwiegend nichtdemokratischen Nationen hat sich zum Hüter von Menschenrechten erklärt, die in ihren eigenen Ländern mit den Füßen getreten werden.

Was genau würde denn eine Legitimation zum menschenrechtlichen Interventionskrieg bedeuten, wenn sie von Veto-Mächten wie China oder Russland erteilt wird, die selbst seit Jahrzehnten ganze Völker – wie zum Beispiel die Tibeter und Tschetschenen – gewalttätig in Schach halten? Doch nichts anderes als die bittere Wahrheit, dass im Spannungsverhältnis zwischen macht- und interessengelenkter Außenpolitik einerseits und völkerrechtlicher Moral andererseits die Letztere allenfalls Dekorations-Funktionen übernehmen kann, solange die Weltgemeinschaft nicht ganz und gar demokratisch ist.

Und doch gliche der prinzipielle Verzicht auf den Versuch, Außenpolitik – und als Ultima Ratio auch Kriege – moralisch zu begründen, einem unerträglichen Zynismus. Er käme dem Abschied von der Rechtsgeschichte Europas (und Amerikas) gleich. Die ist identisch mit der langsamen Ausbildung der Staaten und ihrer gesetzlichen Ordnung. Recht ist das Mindestmaß von Moral, und beide bedingen einander. Selbst der kühlste demokratische Realpolitiker kann auf sie nicht verzichten, bei Strafe seines Scheiterns.

Die absoluten Grundwerte des europäischen Naturrechts, die sich über Jahrhunderte hinweg entwickelt haben – Menschenwürde, Freiheit der Person, Gleichheit der Individuen, Gemeinwohl –, sie alle sind nicht gebunden an unterschiedliche Formen von Staatsräson. Mithin sind sie auch keine frei verfügbaren Variablen demokratischer Außenpolitik, sondern sollten ihr Richtmaß sein. Und sie sind die besten ideellen Exportgüter des Westens. Auch sind sie nicht vom Himmel gefallen, sondern im ständigen Kampf der Gesellschaften seit der Antike um die Einhegung von Macht und staatlicher Gewalt entstanden. Imperium limitatum, die begrenzte Herrschaft, ist das Emblem des besseren politischen Europas. Politische Herrschaft meint seit der Antike vor allem Rechtsherrschaft, die das menschliche Gewaltpotenzial einschränkt, zivilisiert und der Gerichtsbarkeit unterwirft. „Alles, was einer den anderen wider dessen Willen zu tun zwingt“, heißt es in Xenophons Memorabilia, „sei es schriftlich gefasst oder nicht, scheint mir Gewalt und kein Gesetz zu sein.“ Dies ist die Kernidee der Rechtsgeschichte und des Völkerrechts. In ihr ist die Hoffnung beschlossen, Krieg und innerstaatliche Gewalt durch Einsicht zu verhindern.

Dass sie gerade in Deutschland und von Deutschen bitter enttäuscht wurde, schafft die Berechtigung, ja, die Schönheit dieser Hoffnung nicht aus der Welt. Vielleicht bedurfte es eines deutschen Gelehrten, um die Wahrheit der eigenen Geschichte intellektuell hochfahrend zu leugnen. Der Frankfurter Soziologe Karl Otto Hondrich schreibt in Verteidigung der amerikanischen Hegemonialpolitik in der Neuen Zürcher Zeitung: „Ordnung und Freiheit stellen sich nicht einfach her durch Gleichverteilung, sondern durch Unterdrückung von Gewalt durch noch größere Gewalt.“ Für ihn ist folgerichtig „Krieg die Hoch-Zeit der Moral“. Dann wäre er immer noch der Vater aller Dinge, auch der gesellschaftlichen Ordnung – als wäre jene nicht entstanden, um ihn zu überwinden.

Das Völkerrecht hat nukleare Terroristen nicht vorgesehen

Welch seltsamer Advokat Washingtons hier das Wort ergreift! Hondrich: Es ist „amerikanischer Aktivismus, der den Krieg entfesselt. Wen wundert das? ‚Amerika ist auf Gewalt gebaut. Es gründet sich auf Genozid und Sklaverei. So einfach ist das‘, sagt der schwarze Regisseur Spike Lee.“ Doch so einfach ist das gerade nicht; denn die Überwindung der Sklaverei, dieses Importguts der Europäer in Amerika, zählt zu den blutig erkämpften Rechtsfortschritten der USA.

Millionen Europäer, die gegen den Irak-Krieg demonstrieren, verstehen sich offenkundig als das gute Gewissen auch dieser rechtshistorischen Tradition. Sie scheinen kein konkretes politisches Programm zu verfolgen, und selbst auf die Frage, wie sie das totalitäre Regime Saddam Husseins einschätzten, gäbe es zwischen ihrer und George W. Bushs Meinung keinen Unterschied. Sie hoffen vielmehr, ihre Vorstellung von Frieden zur Überzeugung der ganzen Welt zu machen.

Dass ihr guter Wille ausgerechnet im Schatten der jahrelangen und gefährlichsten Militärkonfrontation der Menschheitsgeschichte gewachsen ist, dass die europäische Entwöhnung vom Krieg das Ergebnis amerikanischer atomarer Sicherheitspolitik darstellt, gibt den Aufmärschen ihren paradoxen Charakter. Denn in Wirklichkeit lebte die alte Welt ein halbes Jahrhundert lang friedlich im Schatten der Abschreckung, geschützt von der amerikanisch-russischen Nuklearkriegs-Logik, der zufolge jeder militärische Konflikt zwischen den beiden Großmächten im atomaren Weltuntergang enden könnte. Doch der apokalyptisch geprägte Waffenstillstand ist vorüber. Zwar hat Russland seinem Welterlösungsprojekt abgeschworen, doch abseits der jahrzehntelangen Konfrontation sind Massenvernichtungswaffen in die Hände von unberechenbaren Regierungen geraten. Sie könnten sie an Terroristen weitergeben oder selbst von Terroristen überwältigt werden. Derlei hat es in der Geschichte der Menschheit noch nie gegeben. Und es könnte ihr Ende sein. Die Anschläge auf das World Trade Center von New York und das Pentagon sind die lesbare Schrift an der Wand.

Das Völkerrecht hat diese Entwicklung nicht vorgesehen, und die in den Vereinten Nationen versammelte Völkergemeinschaft hat viel zu wenig getan, um sie zu verhindern. Fatal ist Amerikas Irak-Politik gerade deshalb, weil sie auf einen weltweit legitimierten und erzwungenen Abrüstungsprozess des Regimes von Bagdad nicht mehr warten, sondern ihn mit Gewalt „präemptiv“ durchsetzen wollte. Sie verstößt damit nicht nur gegen das Völkerrecht, sondern auch gegen die strategische Vernunft im „Krieg gegen den Terrorismus“. Er müsste ja mit erneuten, weltweiten Abrüstungsgesprächen beginnen. Das Gegenteil ist der Fall.

Der Irak-Krieg unterminiert das Vertrauen der Staatengemeinschaft darauf, dass die Rechtsvorstellungen des militärisch Stärkeren nicht mit Gewalt durchgesetzt werden. Das Misstrauen jener islamischen Nationen, die dem ursprünglich „westlichen“ Völkerrecht mit dem offenbarten Recht des Korans begegnen, wird mit jedem neuen Bild aus dem umkämpften Irak wachsen. Wenn es den clash of civilizations wirklich geben sollte, dann hat er jetzt begonnen, und jeder militärische Sieg wird sich zugleich als Niederlage der Vernunft entpuppen.

(c) DIE ZEIT 14/2003  

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