Ingenieure 2001


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18.02.01 15:57
C H A N C E N - S P E Z I A L

Ingenieure 2001

Das Orakel von Paderborn

Drei Wirtschaftsingenieure entwickeln Szenarien für die Welt von morgen

Von Ulf Schönert



Gottlieb Daimler galt schon als großes Genie, als er seine berühmteste Fehlprognose abgab: Dass "die weltweite Nachfrage nach Kraftfahrzeugen eine Million nicht überschreiten wird", schloss er allein aus der Tatsache, dass es sonst einen "Mangel an verfügbaren Chauffeuren" geben würde. Auch der Physiker Albert Einstein gehörte zu den Meistern seines Fachs, als er 1932 schrieb, es gebe "nicht das geringste Anzeichen, dass wir jemals Atomenergie entwickeln können". Und Wilbur Wright, einer der bahnbrechenden Pioniere der Luftfahrt, schrieb 1901: "Der Mensch wird es in den nächsten 50 Jahren nicht schaffen, sich mit einem Metallflugzeug in die Luft zu erheben." Nur zwei Jahre später gelang ihm selbst der erste Motorflug.

Alexander Fink, 33, zitiert sie gern, diese legendären Falscheinschätzungen. Genüsslich faltet er dann die Hände über seinem Wohlstandsbauch und lächelt. Dass auch Jahrhundertgenies irren können, beweist für ihn vor allem eins: "Man kann gar nicht genug über die Zukunft nachdenken."

Das tut Fink sogar beruflich. Gemeinsam mit zwei Studienfreunden gründete der Wirtschaftsingenieur vor zwei Jahren die Firma Scenario-Management International in Paderborn (ScMI), eine "Aktiengesellschaft für Zukunftsgestaltung", wie sie sich im Briefkopf nennt. Seitdem analysiert er im Auftrag von Unternehmen die Zukunft - und das Geschäft läuft ausgezeichnet. Die Zahl der Angestellten ist auf zwölf gestiegen, dazu kommen noch einmal so viele freie Mitarbeiter. Im vergangenen Oktober eröffnete die ScMI ihr erstes Außenbüro in San Diego/Kalifornien.

Dass es ausgerechnet sonst eher als bodenständig angesehene Ingenieure sind, die mit Zukunftsdeutung ihr Einkommen bestreiten, sei "keineswegs widersinnig, sondern sogar folgerichtig", sagt Fink. "Ingenieur sein bedeutet heute doch längst mehr, als nur Ahnung von Technik zu haben." So müssten sich angehende Produktentwickler von Anfang an mit Marktbedingungen und Marketing beschäftigen. Und da ginge es immer auch um Prognosen: "Dass es möglich ist, Zukunftsfragen systematisch zu erörtern, habe ich erst während meines Ingenieurstudiums gelernt."

Vor allem Großkonzerne interessieren sich für die Paderborner Zukunftsdeuter. Zum Kundenkreis gehören die Deutsche Bank, DaimlerChrysler und Siemens. Ein- bis zweitägige Workshops veranstalten die Szenario-Deuter mit den Managern, manchmal auch länger dauernde "Zukunftskonferenzen". Darüber hinaus bieten sie "Szenario-Projekte" an, die sich über Wochen oder sogar Monate hinziehen. Mindestens 80 000 Mark muss das Unternehmen dafür lockermachen. "Indem sie uns engagieren, zwingen sich unsere Auftraggeber, gezielt über die Zukunft nachzudenken", sagt Fink. Denn nur die systematische Vorausschau sichere den nachhaltigen Unternehmenserfolg. Egal ob der totale High-Tech-Overkill oder "Zurück zur Natur" der neue Trend werde: Für die Unternehmen sei es vor allen Dingen wichtig, sich auf alle Eventualitäten vorzubereiten.

Sie lesen in "Spiegel" und "FAZ" statt aus dem Kaffeesatz

In früheren Zeiten lasen Hellseher die Zukunft aus dem Kaffeesatz, aus Träumen, Innereien und aus dem Vogelflug. Im ScMI-Büro liegen Ausgaben von Spiegel, FAZ und Welt. Die "Beobachtung globaler Rahmenbedingungen" sei essenziell, erklärt Fink. Zeitung lesen, Fernsehen, Radio hören: alles kann von Belang sein, Wissenschaftsmeldungen, gesellschaftspolitische oder Wirtschaftsnachrichten.

"Wir versuchen nicht, die Zukunft vorherzusagen, sondern lediglich, alle Möglichkeiten der Zukunft zu durchdenken", sagt Fink. Dazu erstellen die Szenario-Manager mit den Führungskräften der jeweiligen Firma eine Tabelle. Darin werden die Schlüsselfaktoren der Firma eingetragen: Preisniveau und Vertriebskanäle, Lieferanten, Abnehmer, Konkurrenten, politische Stimmung. Auf der anderen Seite ist Raum, so genannte Projektionen zu erstellen - Möglichkeiten, wie sich die Schlüsselfaktoren in Zukunft entwickeln könnten: Klappt der Einstieg in den asiatischen Markt, oder scheitert er? Überholt uns die Konkurrenz, bleibt sie auf gleichem Niveau, oder sackt sie ab? Kommt unser Produkt groß in Mode, oder wendet sich das gesellschaftliche Klima vielleicht sogar gegen uns?

Im nächsten Schritt ermitteln die Zukunftsforscher Wahrscheinlichkeiten und stellen Querverbindungen her: Ist es wahrscheinlich, dass die Preise fallen, wenn es in der Branche kriselt? Stellt sich ein Führungskräftemangel ein, wenn die Universitäten besser finanziert werden? Etwa 1800 Bewertungen auf einer Skala von 1 bis 5 werden erstellt und in den Computer eingegeben.

"Bei der Eingabe von 18 Schlüsselfaktoren und 3 Projektionen kommt man auf 387 Millionen Kombinationsmöglichkeiten", sagt Fink. "Ein Mensch bräuchte für die Analyse 700 Jahre." Und selbst ein Pentium-Prozessor rechnet mehrere Stunden daran herum.

Am Ende spuckt der Rechner etwa fünf Szenariobündel aus, die aus jeweils mehreren hundert Teilprognosen bestehen. Die werden in einem Diagramm dargestellt, das einer Landkarte gleicht - und kaum weniger verwirrend ist als die Zukunft selbst. "Software und Diagramme sind nur Hilfsmittel", sagt Fink. "Wichtig sind unsere Fachleute, die die Ergebnisse analysieren."

Auch für die ScMI? Natürlich habe man auch für die eigene Unternehmensentwicklung Szenarien erstellt, sagt Fink. Er steht auf der Dachterrasse seines Büros, einer kleinen Etage in einem abgelegenen Gewerbegebiet. Hinter ihm erstrecken sich die Felder der ostwestfälischen Provinz, dahinter die Skyline von Paderborn mit ihren flachen Häusern und den kantig wirkenden Kirchtürmen. Auch in der Antike war das Orakel nicht in Athen, sondern in Delphi.

Fink träumt von Büros "in anderen europäischen Ländern und darüber hinaus". San Diego sei nur der Anfang. Ansonsten fühle er sich aber in Paderborn wohl: "Hier werden wir wohl auch in Zukunft bleiben." Aber das ist auch nur ein Szenario.



(c) DIE ZEIT   08/2001

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