"Ich bin kein Ausbeuter"


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Neuester Beitrag: 18.04.03 22:35
Eröffnet am:18.04.03 22:35von: NassieAnzahl Beiträge:1
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16074 Postings, 8198 Tage Nassie"Ich bin kein Ausbeuter"

 
  
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18.04.03 22:35
Die Alten von heute plündern das Sozialsystem und verprassen die Renten - sagen die Jungen. Die Alten von morgen werden arm und entrechtet sein - behaupten Politiker. Sie alle irren sich. Ein Plädoyer wider den Kampf der Generationen

Von Wilfried Herz

In wenigen Jahren werde ich dazugehören: zu den Alten, die auf Kosten der Jungen leben. Dann werde ich einer derjenigen sein, die als Rentner – so die inzwischen weit verbreitete Lesart in Parlament und Medien – „überversorgt“ sind. Werde ich das honigsüße Leben einer Drohne genießen, während die emsigen Arbeitsbienen nicht mehr wissen, wie sie die üppigen Altersrenten aufbringen sollen?

Schon seit mehr als einem Jahrzehnt sind die Propagandisten eines „Kriegs der Generationen“ am Werke – 1989 hat der Gießener Sozialwissenschaftler Reimer Gronemeyer den „drohenden Krieg der Jungen gegen die Alten“ vorhergesagt. Mitte der neunziger Jahre säte das Autorengespann Vater Günter und Sohn Peer Ederer Zwietracht: „Eine Generation der Schmarotzer hat eine ,Vollkaskogesellschaft‘ aufgebaut, die ihre Enkel einlösen sollen.“ Und vor wenigen Monaten verteufelte Walter Wüllenweber im stern meine Generation als rücksichtslose Schmarotzer, die ihre Kinder bestehlen.

Die Debatte wird mit üblen falschen Argumenten angeheizt, und sie offenbart bei den Einpeitschern ein erschreckendes Ausmaß ökonomischer Unkenntnis. Doch die Polemik zeigt Wirkung. Jüngere fühlen sich als Opfer – fremdbestimmt von der Führungsriege der Alten in Wirtschaft und Politik und ausgeplündert von einem Sozialsystem, das Rentner und Pensionäre großzügig bedenkt, von dem sie aber selbst kaum noch etwas zu erwarten haben. 80 Prozent der unter 25-Jährigen glauben laut einer Umfrage nicht, dass sie im Alter noch eine Rente bekommen, von der sie leben können. Die Politik hat parteiübergreifend reagiert: Nicht mehr die Alten, wie bis in die achtziger Jahre hinein, gelten als schützenswerte Spezies, sondern die Jungen.

Zeit meines Berufslebens habe ich zu den Besserverdienenden gezählt, jahrzehntelang Höchstbeiträge an die Rentenversicherung gezahlt. Die Arbeit, auch viel Arbeit, hat mir immer Spaß gemacht, die Grenzen tariflicher Arbeitszeiten haben mich nie interessiert. Nun kündigt mir die Angestelltenversicherung eine Monatsrente netto – nach Abzug des Krankenversicherungsbeitrags – von 1500 Euro an. (Die Rente wäre etwas höher, wäre ich nicht von einem gesetzgeberischen Kuriosum der deutschen Einheit betroffen: Weil das Berliner Büro der ZEIT wenige Kilometer vom ehemaligen Westen in den einstigen Ostteil der Stadt umgezogen ist, bin ich seit einigen Jahren für die Rentenversicherung ein Ossi – mit einem geringeren Höchstbeitrag, aber eben auch später mit einer niedrigeren Rente.)

Ein solcher Betrag erlaubt kein Leben im Luxus, auch wenn dies mehr ist, als die meisten Ruheständler aus den Rentenkassen bekommen. Zum Glück habe ich zusätzlich fürs Alter vorgesorgt. Aber bis ich in den Ruhestand gehe, werden die Renten besteuert. Das schmälert nicht nur die Rente, sondern vor allem auch die eingeplanten Zusatzeinkünfte aus dem in Jahrzehnten zurückgelegten und durch den Börsencrash ohnehin reduzierten Sparkapital. Und bis zur Altersgrenze bleibt mir auch nicht genug Zeit, die Verluste durch die im Nachhinein geänderten Regeln auszugleichen. Nein, ich klage nicht. Aber auch für die nachfolgende Generation gibt es keinen Anlass zum Jammern.

Dass die Angstmache bei so vielen Jüngeren überhaupt verfängt, hat vor allem einen Grund: Weil Kinder ein knappes Gut geworden sind und die Alten immer länger leben, altert die Gesellschaft. Folglich müssen im Rentensystem, in dem die Berufstätigen mit ihren Beiträgen direkt die Renten bezahlen, immer weniger Berufstätige für immer mehr Ruheständler aufkommen. Schon jeder Lehrling, jeder Student kennt die furchteinflößende Kennzahl: dass in drei Jahrzehnten ein Beitragszahler einen Rentner zu versorgen hat, während heute das Verhältnis zwei zu eins ist.

Tatsächlich sind die Bevölkerungsprognosen das einzig Sichere in diesen Katastrophenszenarien. Dabei sagt die Altersstruktur nichts über den Wohlstand gegenwärtiger und künftiger Generationen aus. „Eigentlich müssten wir nach der Kopfzahltheorie verhungert sein“, schrieb der ehemalige Sozialminister Norbert Blüm (CDU), weil 1900 ein Bauer drei Konsumenten ernährt habe, heute aber auf einen Landwirt über achtzig Verbraucher kämen. In diesem Punkt hat Blüm Recht: Entscheidend ist die Produktivität.

Deshalbaber sind die so genannten Generationenbilanzen, die den Jungen eine düstere Zukunft verheißen, mehr als fragwürdig. Andererseits wecken jedoch Politiker wie früher Blüm, Jahrgang 1935, oder heute die Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt, Jahrgang 1966, mit ihren Versprechungen, die Rentenversicherung „zukunftsfest“ zu machen, nur Illusionen. Niemand weiß, wie sich die Wirtschaft in den nächsten drei- ßig Jahren entwickeln wird. Gerade in jüngster Zeit haben doch die Wirtschaftsgelehrten ihr Unvermögen bewiesen, auch nur die Entwicklung der nächsten Monate halbwegs zuverlässig einzuschätzen. Das künftige Wachstum entscheidet aber darüber, wie groß der Kuchen sein wird, der zwischen Alt und Jung verteilt werden kann.

Wächst die deutsche Volkswirtschaft nur um bescheidene zwei Prozent im Jahresdurchschnitt – und das wäre zu wenig, um die Massenarbeitslosigkeit substanziell zu verringern –, wäre das Bruttoinlandsprodukt in gut drei Jahrzehnten immerhin real doppelt so hoch wie heute. Das sollte wirklich für ein auskömmliches Leben aller, vom Baby bis zum Greis, reichen. Vielleicht gelingt es den heute Jungen im Laufe ihres Arbeitslebens sogar, dank neuer Technologien, besserer Bildung und mehr Investitionen die Produktivität deutlich zu erhöhen. Wenn dadurch die jährliche Wachstumsrate gar auf vier Prozent im Durchschnitt stiege, würde der Kuchen in dreißig Jahren auf mehr als das Dreifache zunehmen. Immerhin wurden solche Raten in der Bundesrepublik bis in die siebziger Jahre und in den Vereinigten Staaten in den neunziger Jahren erreicht. Die Wachstumschancen und nicht die Versorgung im Alter sollten der Dauerbrenner in der innenpolitischen Debatte sein.

Wer den Jüngeren weismacht, sie seien die Armen und Entrechteten, vernachlässigt eindeutige Fakten und simpelste ökonomische Zusammenhänge. Denn jede Generation baut auf den Fundamenten auf, die ihr die Vorgänger hinterlassen. Ich neide doch nicht den Jüngeren, dass sie heute mehr verdienen, kürzere Arbeitszeiten und mehr Urlaub haben, in größeren Wohnungen wohnen als meine Generation oder die meiner Eltern. Aber die Wirtschaft ist doch jetzt weitaus produktiver als in den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren, weil die Senioren von heute in ihrer aktiven Zeit gespart und das Kapital investiert haben.

Ich lasse mir auch kein schlechtes Gewissen einreden, weil es mir voraussichtlich auch als Rentner besser gehen wird als den Vorvätern und -müttern. Aber vielleicht neiden viele Junge den Alten auch deren Einkommen, weil sie die Höhe der Renten überschätzen. Denn nach einer Untersuchung des Deutschen Instituts für Altersvorsorge aus dem Jahre 2001 stufen zwei Drittel der Frauen, aber auch ein erklecklicher Anteil unter den Männern ihren Rentenanspruch deutlich höher ein, als er tatsächlich ist.

Die Grauhaarigen, die es sich auf Kreuzfahrtschiffen und in Luxushotels unter südlicher Sonne gut gehen lassen, sind nicht diejenigen, die ausschließlich auf ihre Sozialrenten angewiesen sind. Ein „Eckrentner“, so der Fachjargon für einen Ruheständler, der 45 Jahre lang exakt das Durchschnittseinkommen verdient hat, bekommt im Westen eine Rente von netto 1072 und im Osten von gerade einmal 941 Euro. Altersarmut ist zum Glück selten geworden, aber mit den meisten Renten lassen sich wahrlich keine großen Sprünge machen.

Ich kann mich nur wundern, wie leicht sich Junge ins Bockshorn jagen lassen und glauben, dass sie statt privater Milliardenvermögen nur einen staatlichen Schuldenberg erben. Es gibt kein ernst zu nehmendes Anzeichen dafür, dass die unternehmungslustigen Alten ihr gesamtes Vermögen verjubeln, bevor die Erben zum Zuge kommen. Denn es ist merkwürdig: Obwohl die Altersvorsorge für die Bundesbürger das Hauptmotiv für das eigene Sparen ist, legen viele der Alten immer noch Geld auf die hohe Kante, wenn sie längst Rente beziehen.

Es ist nicht einmal die halbe ökonomische Wahrheit, wenn der SPD-Fraktionschef Franz Müntefering, Jahrgang 1940, in der Etatdebatte des Parlaments den Sparkurs der Koalition mit dem Argument begründet, sie wolle, „dass unsere Kinder und Kindeskinder von uns noch etwas anderes erben als Schuldscheine und Hypotheken“. Der Schuldenberg belastet zwar die staatlichen Budgets und die Steuerzahler, aber er schafft mit den Kreditzinsen auch Einkommen.

Das macht deutlich: Es geht nicht um einen Verteilungsstreit zwischen Alt und Jung, sondern es ist das uralte Problem der gerechten Verteilung zwischen Arm und Reich – unabhängig von der Generation. Es sind ja nicht die Bedürftigsten, die dem Staat Geld leihen. Es ist auch nicht der Nachwuchs der armen Teufel, der sich auf ein opulentes Erbe freuen kann.

Ähnliches gilt auch für die Debatte, wie die Rentenlasten zwischen Kinderlosen einerseits und Vätern und Müttern andererseits aufgeteilt werden sollen. Sollen diejenigen, die keine Kinder aufziehen (und damit keine potenziellen Beitragszahler in die Welt setzen) künftig kräftige Rentenabschläge hinnehmen, wie es der Wirtschaftsprofessor Hans-Werner Sinn, selbst Vater von drei Kindern, oder auch die kinderlose CDU-Chefin Angela Merkel vorschlagen? Jeder soll nach seiner Fasson leben, aber immerhin belastet jedes Kind in seinen ersten achtzehn Lebensjahren das Familienbudget mit insgesamt mehr als 150000 Euro. Unfair ist es jedoch, das in den letzten Jahrzehnten gestiegene Armutsrisiko von Kinderreichen gegen die inzwischen weitaus geringere Altersarmut ausspielen zu wollen.

Ausgesprochen boshaft ist das Argument, die Lastenverteilung zwischen Jung und Alt müsste sehr schnell neu geregelt werden, weil sonst der übermächtige Block der Senioren-Wähler solche Reformen verhindern werde. Die Altenteiler haben in der Vergangenheit immer wieder bewiesen, dass sie unumgängliche Abstriche an der Altersversorgung akzeptieren. Seit Mitte der siebziger Jahre die ersten Löcher in den Rentenkassen offenkundig wurden, hat der Gesetzgeber viele Male die Rentenansprüche gekürzt, ohne dass die Alten auf die Barrikaden gegangen sind. Ohne die ganzen Eingriffe wären die Renten heute um rund die Hälfte höher. Und die aktuelle Debatte in der rot-grünen Koalition um eine Streichung der Rentenerhöhung 2004 und eine neue Rentenformel für die nächsten Jahrzehnte sind Vorboten weiterer Reduzierungen.

Selbstverständlich habe auch ich ein Interesse daran, dass die Jungen nicht überfordert werden – schließlich lebe ich bald von ihnen. Die Höhe des Rentenversicherungsbeitrags ist vor allem eine Frage nüchternen ökonomischen Kalküls, weniger der Gerechtigkeit. Die Grenze liegt dort, wo die Beiträge Arbeitsplätze vernichten und neue Beschäftigung verhindern. Gelingt es tatsächlich, der Massenarbeitslosigkeit Herr zu werden, könnten allein wegen der zusätzlichen Einzahler in die Rentenkassen die Beiträge gesenkt werden. Und die Jüngeren würden sogar doppelt profitieren, weil für sie dann auch die Arbeitslosenversicherung billiger würde.

Wenn Junge glauben, mit einer kapitalgedeckten Rentenversicherung, wie sie mit der Riester-Rente ansatzweise begonnen wurde, der vermeintlichen Demografiefalle entkommen zu können, irren sie. Die Hoffnung auf mehr Sicherheit und Rendite ist trügerisch. Solche Versicherungen, die ihr Kapital in Wertpapieren und Immobilien anlegen, können sich nicht vom Auf und Ab der Wirtschaft und der Börsen abkoppeln – spätestens mit dem Platzen der Spekulationsblase an den Aktienmärkten sollten auch diese Träume erledigt sein. Denkbar ist noch eine ganz andere Variante: dass die neue Arbeitswelt ein ganz neues Finanzierungssystem der Sozialversicherung erzwingt, und zwar über Steuern und nicht mehr durch vom Arbeitseinkommen abhängige Beiträge – erste Ansätze und Überlegungen gibt es bereits.

Doch jenseits aller Finanzierungsmodelle können die Älteren die Jungen entlasten – wenn es die Jungen zulassen. Die Senioren müssten länger arbeiten und dürften nicht – so der seit Jahrzehnten nahezu unveränderte Durchschnitt – mit sechzig in Rente gehen. Sie würden dann nicht nur länger Beiträge zahlen, sie wären zugleich auch kürzere Zeit Kostgänger der Rentenversicherung. Wer sich in seinem Berufsleben schon immer an das Wort vom lebenslangen Lernen gehalten hat, ist auch mit sechzig plus fit genug, um im Arbeitsprozess mitzuhalten. Eine generell verminderte Leistungsfähigkeit der Älteren ist, abgesehen bei harter körperlicher Arbeit, eine von Medizinern längst widerlegte Mär.

Inzwischen gehöre ich schon zu der Minderheit, die in meiner Altersgruppe noch einen festen Job hat. In der Hälfte der deutschen Unternehmen arbeitet keiner mehr, der über fünfzig ist. Ein Netto-Supermarkt, der nur über 45-Jährige einstellt und damit gute Erfahrungen gesammelt hat, signalisiert noch keine Wende. Auch nicht die Bellheims, die nach dem Ende der New-Economy-Träume vorübergehend wieder an die Chef-Schreibtische zurückgeholt wurden.

Eigentlich ist es längst eine allgemeine Erkenntnis, dass der vorzeitige Wechsel von älteren Beschäftigten in den Ruhestand für alle zu teuer ist – nicht nur für die Sozialversicherung, sondern auch für die Volkswirtschaft. Meine Erfahrung und mein Wissen, in fast vier Jahrzehnten angesammelt, beschränken sich doch keineswegs auf heute nicht mehr so bedeutsame Ereignisse – etwa wie sich in den siebziger Jahren Helmut Schmidt als Chef der SPD/FDP-Regierung vor dem Bundestag für eine Wahltäuschung der Rentner entschuldigte oder wie die Bundesregierung Anfang der achtziger Jahre den Bau von Bunkern in Saddam Husseins Bagdad mit einer staatlichen Bürgschaft absicherte. Die Hochs und Tiefs in der Wirtschaft, auch die misslungenen Versuche der Konjunkturankurbelung, eine Vielzahl von Währungskrisen und das Abstürzen großer Konzerne oder ganzer Staaten in die Misere, all die wechselnden Moden in der Wissenschaft verfolgt zu haben, das ist ein Erfahrungsschatz. Es geht nicht darum, die unbestreitbaren Leistungen der Jüngeren zu schmälern, sondern das human capital, und zwar von Alt und Jung, optimal zu nutzen.

Doch auch den Älteren, denen weitere Karrierestufen nicht mehr wichtig sind, müssen attraktive Jobs geboten werden, damit sie nicht vorzeitig auf Golfplätze, in Kleingärten oder nach Mallorca ausschwärmen. Wer eigenverantwortlich gearbeitet hat, will im Alter nicht zum Handlanger und Befehlsempfänger werden, nur um die Jüngeren in der Rentenversicherung zu entlasten.

Meine Rente ist sicher. Aber mir ist bewusst – und das muss allen künftigen und heutigen Rentnern klar sein: Wegen der Wechselfälle der Wirtschaft kann kein Sozialstaat eine absolute Höhe der Rente garantieren. Eine größere Sicherheit als die glaubwürdige Zusicherung, dass die Rentner angemessen an der allgemeinen Wirtschaftsentwicklung teilhaben, konnte und kann es nie geben. Wenn ein Krieg der Generationen dieses Versprechen zerstören würde, wäre dies für alle künftigen Rentner schädlich. Auch noch in Jahrzehnten.

 

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