Erwartungen an Schröder


Seite 1 von 1
Neuester Beitrag: 26.11.02 08:31
Eröffnet am:26.11.02 08:31von: TraderAnzahl Beiträge:1
Neuester Beitrag:26.11.02 08:31von: TraderLeser gesamt:504
Forum:Talk Leser heute:1
Bewertet mit:


 

1943 Postings, 8861 Tage TraderErwartungen an Schröder

 
  
    #1
26.11.02 08:31


Nicht nur seitens der SPD-Ministerpräsidenten, sondern auch im Regierungsapparat heißt es: Die Linie fehlt / Von Günter Bannas

BERLIN, 25. November. Keine Frage sei es, daß es so nicht weitergehe wie am vergangenen Wochenende - so wurde das Ergebnis einer Telefonschaltkonferenz der SPD- Spitze beschrieben, die am Montag anstelle der üblichen Präsidiumssitzung abgehalten wurde. Hinter dem Stichwort "aktuelle Lage" verbarg sich die "Vielstimmigkeit", die führende Sozialdemokraten in den zurückliegenden Tagen geboten hatten. Vor allem die Spitzenkandidaten der Partei in Hessen der dortige Oppositionsführer Bökel und in Niedersachsen Ministerpräsident Gabriel, hatten sich zu rechtfertigen. Aber auch andere Ministerpräsidenten, Heide Simonis in Schleswig-Holstein und Steinbrück in Nordrhein- Westfalen, waren beteiligt. Auf diplomatische Weise faßte der SPD-Generalsekretär das Resultat der Sitzung so zusammen: "Es bestand Einigkeit, daß die Vielzahl und die Komplexität der Maßnahmen, die in den letzten Wochen eingeleitet werden mußten, weitere Anstrengungen erfordern, um den Zusammenhang und die Zielrichtung des Maßnahmenpakets öffentlich zu vermitteln."

Das Wochenende hatte dazu nicht beigetragen, lautete die in dieser Erklärung nicht ausdrücklich erwähnte Schlußfolgerung. Gabriel, der sich früher schon von Berliner Vorhaben - etwa zur Eigenheim-Förderung - abgesetzt hatte, hatte moniert, es sei "einfach zuviel in zu kurzer Zeit angepackt" worden. Auch kritisierte er das Erscheinungsbild der Berliner Parteifreunde. Steinbrück hatte geäußert: "Manche steuerliche Maßnahme hat zu viele Wandlungen erlebt. Das hat Verwirrung gestiftet." Frau Simonis plädierte für eine "Blut-Schweiß-und-Tränen-Rede". Die bisherigen Beschlüsse wollte sie nicht kritisieren. "Aber das ist nicht genügend in einem geschlossenen Konzept vorgetragen worden." Bökel schließlich sagte: "Alles das, was mit der Umsetzung der Koalitionsverhandlungen zusammenhängt, hat nicht gerade für Rückenwind gesorgt." Solche Stimmen gibt es auch im Regierungsapparat. Es fehle die Linie; es sei doch nicht so, als habe die Koalition neu zu arbeiten begonnen wie 1998. Manche glauben, Schröder habe sich von Finanzminister Eichel zu sehr unter Zeitdruck setzen lassen, die Sparmaßnahmen noch in diesem Jahr durchzusetzen. Andere sagen, bei den Koalitionsverhandlungen habe allein die Finanzierung des Bundeshaushalts 2003 im Mittelpunkt gestanden, und dieses Verhalten sei zu Lasten von politischen Perspektiven gegangen. Es fehle die Linie. Die Abgeordneten trauten sich kaum, die Berliner Beschlüsse in ihren Wahlkreisen zu vermitteln, sondern tauchten ab.

Bökel und Gabriel waren bei der Telefonkonferenz zugeschaltet. Es hieß, sie hätten auf die Lage ihrer Wahlkämpfe hingewiesen und damit auch ihr Verhalten erklärt. Zwar wurde dem Vernehmen nach keine direkte Kritik an den Regierungsvorhaben selbst geäußert. Die Maßnahmen seien auch nicht in Frage gestellt worden. Doch hieß es auch, die Beschlüsse der Koalition müßten besser erklärt werden. Das sei zwar ein Appell an "alle Beteiligten" gewesen. Doch habe dieser vor allem der Führung der Bundesregierung und der Parteispitze in Berlin gegolten. Zunehmend wird deutlich, daß sich die Erwartungen an den Vorsitzenden und Bundeskanzler persönlich richten.

Möglicherweise war das in der Summe undisziplinierte Verhalten in jedem Einzelfall der Versuch, im Interesse von Koalition und Bundesregierung Gutes zu tun. So sprechen sie in jedes Mikrophon, und was im Einzelfall wohlbegründet erscheint, bildet als Summe eine vielstimmige Kakophonie, was wiederum - glauben die Leute in der Zentrale - jeder einzelne aufgrund seiner Erfahrungen im Umgang mit Medien hätte wissen müssen. Gleichwohl: Gabriel und Bökel sorgen sich - angesichts daniederliegender Umfragezahlen - um den Ausgang ihrer Wahlen. Steinbrück ist neu im Amt des Ministerpräsidenten und will sich, wenn er gefragt wird, auch positionieren. Frau Simonis neigte seit je dazu, in solchen Situationen deutliche Worte zu finden und die männlichen Kollegen in der Regierungszentrale zu rüffeln. Doch heißt es mahnend auch, die SPD sei immer dann stark gewesen, wenn sie ein Bild der Geschlossenheit geboten habe.

Einiges hängt damit zusammen, daß führende Leute ihre neue Rolle noch nicht gefunden haben. Franz Müntefering ist nicht mehr Chef der Parteizentrale, sondern nun Vorsitzender von 251 Abgeordneten. Er hat Rücksichten zu nehmen, will er in der Bundestagsfraktion seine Position festigen. Olaf Scholz ist neu im Amt des Generalsekretärs, und es kommt hinzu, daß es seine erste Führungsfunktion im Bund ist. Die harte Hand, mit der Müntefering im Sinne Schröders früher die Partei organisierte, muß sich Scholz noch erarbeiten. Dabei sind die Koordinierungssitzungen die gleichen wie in der vergangenen Legislaturperiode. Einmal in der Woche trifft sich das Parteipräsidium mit den Ministerpräsidenten. Früher galten die Absprachen für den Rest der Woche. Derzeit scheinen einige Beteiligte die Sprachregelungen wenige Tage später vergessen zu haben. Es würde an den zeitlichen Arbeitsbedingungen scheitern, eine weitere Präsidiumssitzung einzuführen. Also hat, glauben manche, der Generalsekretär die Interviews zu koordinieren, die übers Wochenende gegeben werden. Mehrfach in der Woche beraten Vertreter des Bundeskanzleramtes - häufig mit Schröder, immer aber mit dem Chef des Kanzleramtes, Steinmeier, und dem Staatsminister Schwanitz - mit der Fraktionsspitze (Müntefering) und der Parteiführung (Scholz).

Gleichwohl gab es zuletzt Reibungen zwischen Schröder und Müntefering. Der Fraktionsvorsitzende beharrte - auch auf Drängen der Fraktion - darauf, daß neben der Regierungskommission zur Reform der Sozialversicherungen unter Vorsitz des Wissenschaftlers Rürup in der Fraktion eine eigenständige Kommission zum selben Thema eingesetzt wurde. Auch fiel auf, daß Schröder und Müntefering Unterschiedliches zu den Wünschen sozialdemokratischer Landespolitiker sagten, zugunsten der Bildungspolitik solle die Vermögensteuer wieder eingeführt werden. Zu deren Verwunderung lehnte Schröder eine solche Bundesratsinitiative in der vorletzten Woche ab. "Meine Position, daß wir bis auf den Abbau von Subventionstatbeständen in der jetzigen Situation keine Erhöhungen vornehmen sollten, gilt", sagte er zur Steuerpolitik. Müntefering hingegen sicherte nun aber Unterstützung zu. Allseits wird freilich versichert, Müntefering baue keine Gegenposition zu Schröder auf - weder persönlich noch politisch. Beide müßten auch ihren Rollen und den damit verbundenen Erwartungen entsprechen. Und es wird der Optimismus geäußert, die eigene Sozialversicherungskommission der Bundestagsfraktion nehme Rücksicht auf deren Begehren, in wesentlichen Teilen der Regierungspolitik mitzuwirken, und das könne auch die folgenden Gesetzesberatungen beschleunigen.

Schröder dürfte der Auffassung sein, an Kommunikation innerhalb der eigenen Reihen mangele es nicht. Die Vorhaben der Regierung seien im Parteivorstand, in der Bundestagsfraktion und im Parteirat, wo Vertreter der SPD- Gliederungen sitzen, oft genug erläutert worden. Insofern dürfte eigentlich niemand überrascht worden sein. Seine Führungsautorität dürfte er nicht in Frage gestellt sehen. Manches sei auch mit der Ungeduld zu erklären, schon über neue Schritte zu reden, obwohl die bisherigen Maßnahmen noch nicht in Kraft getreten seien. Aus seiner politischen Erfahrung dürfte Schröder ableiten, auch ein Bundeskanzler könne nicht zu jeder Zeit die Welle der Kritik in der Öffentlichkeit erfolgreich brechen. Doch könnte der Zeitpunkt bald kommen - in der nächsten Woche etwa, wenn der Bundestag über den Haushalt 2003 entscheiden wird. Schon richten sich machtvolle Erwartungen an die Rede, die Schröder dann halten wird.

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.11.2002, Nr. 275 / Seite 3

Gruß
Trader  

   Antwort einfügen - nach oben