Ein weiterer Beitrag zur Völkerverständigung.


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Eröffnet am:14.11.03 13:19von: Major TomAnzahl Beiträge:1
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4428 Postings, 7794 Tage Major TomEin weiterer Beitrag zur Völkerverständigung.

 
  
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14.11.03 13:19
Der Eisbrecher

Heskel Nathaniel will mit Israelis und Palästinensern in der Antarktis einen Berg besteigen

Irgendwann an diesem Abend hat Heskel Nathaniel den Finger am Abzug. Er zieht den Kopf ein, das rechte Auge wird schmal, schon zuckt der Zeigefinger, Nathaniel schießt, zwei-, dreimal – und greift zum Espresso. Kein Knall, nichts passiert im Restaurant hinterm Kurfürstendamm in Berlin. Es ist eine Luftnummer, die Pistole ist imaginär.

"Unter anderen Umständen würden wir aufeinander schießen", sagt Nathaniel. Wenn sie aufeinanderstießen in Ramallah, sich aus heitrem Himmel begegneten im Westjordanland – doch die acht Abenteurer, vier Palästinenser und vier Israelis, begegnen sich dort nicht. Noch nicht. Sie haben sich einen Tag lang auf einem Schiff im Mittelmeer getroffen, sie haben vergangene Woche gemeinsam am Mont Blanc gefroren, sie werden sich auch am Jahresende an der Südspitze Amerikas wieder begegnen, sie werden zur Antarktis segeln und einen unbestiegenen Zweitausender erklimmen und ihm einen Namen geben. Alles für den Frieden.

"Es war kritisch am Mont Blanc, wir hatten dreißig Grad minus." Keine Erfrierungen? Heskel Nathaniel zeigt auf seine Finger, seine Ohren, lacht kurz. "Ein bißchen." Es ist alles noch dran. Ein Teil der Ausrüstung ist am Berg geblieben, sonst nichts. Wer ins Eis geht, muß damit rechnen. Das Wetter ist widrig, doch kalkulierbar, das Klima unter den Teilnehmern ist schwerer vorauszusehen.

Breaking the Ice nennt Nathaniel seine Expedition, auf der Palästinenser und Israelis etwas gemeinsam machen sollen, ein Abenteuer bestehen, Neuland betreten, und wenn es nur je vier Auserwählte sind, und wenn es in der Antarktis ist. Wenigstens dort.

Heskel Nathaniel lebt seit zehn Jahren in Berlin und verdient mit Investmentgeschäften sein Geld. Er könnte also an den Wochenenden in Clubs abhängen, im Urlaub an Expeditionen teilnehmen und sich aus der Politik raushalten. Heskel Nathaniel hat seine Heimatstadt Haifa verlassen, fühlt sich in London so wohl wie in Berlin, verträgt sich mit Arabern ebenso gut wie mit Deutschen. Er hat den Nahostkonflikt hinter sich – bis er am Abend den Fernseher einschaltet. Ob CNN oder Tagesschau – die Bilder aus seiner Heimat gleichen sich immer, und sie sind nicht gut. Was kann man von Berlin aus tun, was andere nicht schon getan haben? Daniel Barenboim hat das israelisch-arabische Jugendorchester mitgegründet und versucht es mit Musik.

Heskel Nathaniel versucht es nun mit Eis und Schnee. Er tritt in der Daunenjacke am Mont Blanc genauso gut auf wie im Maßanzug neben Bundestagspräsident Wolfgang Thierse oder dem geistigen Führer der Tibeter, dem Dalai Lama, die er als Unterstützer gewonnen hat. Vor zwanzig Jahren hat ihm die Uniform der israelischen Armee ebenso angegossen gepaßt, später hat er im Auftrag der Regierung im Ausland "Terroristen" gejagt. Terroristen? "Araber natürlich".

Nathaniel ist kein Pazifist. Er kann nicht nur mit imaginären Pistolen schießen. Doch beim Vierzigjährigen ist der Vorrat an Haß offenbar aufgebraucht. Wer mit Anfang zwanzig Araber verfolgt hat, der ist gut zwanzig Jahre später beinahe altersweise, auch wenn er gelegentlich strahlt wie ein Junge. "Es ist eine rein symbolische Aktion!"

Nathaniel greift zur Zigarette. "Es ist eine spektakuläre Aktion!" Rauch steigt auf, der Kellner bringt Wein, kein schlechter Jahrgang, die Kerze flackert. Ja, Nathaniel ist gern Gastgeber, er ist kein Asket und auch kein Phantast. Er sitzt durchaus gern in solchen Restaurants, und als Ausgleich sucht er dann am Berg das Abenteuer. Er brauchte es nicht zu erklären, wenn er sich weiterhin heraushielte aus dem Nahostkonflikt.

Anfang des Jahres hatte Nathaniel genug von den Fernsehbildern. "Israelis und Palästinenser kommunizieren einfach nicht." Die Diagnose ist nicht neu, neu ist seine Lösung: "Da draußen ist es völlig egal, ob du Jude oder Araber bist!" Er beriet sich mit Doron Erel, einem bekannten israelischen Bergsteiger – und die Idee war geboren.

Gemeinsam haben sie das Team ausgesucht, handverlesen, aber nicht handzahm. "Wir wollten Leute mit unterschiedlichen Anschauungen, Leute, die emotional geladen sind." Es ist kein Länder-, es ist ein Völkerspiel. Es sind nicht zwei Mannschaften, es ist ein Team, sechs Männer zwei Frauen. Ein Rechtsanwalt, der vier Jahre in einer israelischen Eliteeinheit gedient hat, wird mit einem palästinensischen Journalisten in einer Seilschaft gehen, der seinen Bruder bei einem Bombenangriff verloren hat

"Ja, es ist verrückt!" Nathaniel greift zur Zigarette. "Es ist ein politisches Statement!" Das ist ihm spätestens klargeworden als er anfing, Sponsoren zu gewinnen. Eine politische Aktion? Da hat mancher abgewinkt. Nathaniel sucht noch Unterstützer für sein Projekt, das zweihundertfünfzigtausend Euro kosten wird. Es gehe nicht um große Summen, es geht in erster Linie um Briefe, um E-Mails, es geht um kleine Beträge, fünf Euro oder zehn. Und es geht darum, daß möglichst viele in Gedanken diese Reise begleiten, auf seiner Homepage www. breaking-the-ice.de und am Bildschirm. Ein Kamerateam wird täglich Bilder liefern. "Big Brother" für den Frieden? Nathaniel ist das egal. "Wenn die Leute im Nahen Osten vor dem Fernseher sitzen und sich fragen: schaffen sie’s oder schaffen sie’s nicht?, ist das okay!"

Es soll ein mediales Ereignis werden, aber anders als die Terrorbilder. Im Januar soll eine andere Botschaft über die Mattscheibe flimmern.Vielleicht ist es einfach ein Traum, der erfolgreiche und eher abgehärtete Geschäftsmänner gelegentlich weich macht wie Nutella: Etwas Großes, etwas Erhabenes tun. Es ist der Traum, gleichzeitig das Kind zu sein und der Onkel, der kommt und Wünsche erfüllt, und die Welt verändert – oder zumindest das Kinderzimmer.

Sicher ist das unvernünftig. Aber vielleicht ist die Vernunft im Nahen Osten an ihre Grenze gestoßen? Heskel Nathaniel lacht und greift wieder zur Zigarette. Bei so viel Tabak bangt man ein wenig um die Kondition des Initiators. Aber das ist wohl die geringste Sorge.

von Thomas Gerlach , 12. November 2003

ariva.deariva.deariva.de  

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