Die Lüge von der Solidarität


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Eröffnet am:11.01.03 17:53von: NassieAnzahl Beiträge:2
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16074 Postings, 8200 Tage NassieDie Lüge von der Solidarität

 
  
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11.01.03 17:53
Die Lüge von der Solidarität

Krankenkassensozialismus oder Zwei-Klassen-Medizin? Feindbilder prägen den Kampf um das Gesundheitswesen von morgen. Bloß über den Kern redet keiner: Wer Geld hat, wird heute schon systematisch bevorzugt


Für viele Ökonomen ist das deutsche Gesundheitswesen der reine Horror. Mit den normalen Erkenntnissen des Fachs kommt man nicht weit, es gelten eigentümliche Regeln. Kaum ein Patient kennt die Kosten seiner Behandlung genau – keine Transparenz. Krankenkassen und Ärzteverbände bilden Preiskartelle – kein vernünftiger Wettbewerb. Außerdem funktionieren die normalen Ausgleichsmechanismen zwischen Angebot und Nachfrage nicht: Meist bestimmt allein der Arzt, also der Anbieter, ob und wie viel geröntgt, geschnitten, gemessen wird. Vermutlich könnte man ein Lehrbuch über ökonomische Absonderlichkeiten allein mit Beispielen aus Arztpraxen, Kreißsälen und Kurkliniken füllen.

Für manche Ökonomen aber ist das deutsche Gesundheitswesen ein Grund, sich die Hände zu reiben. Deutsche werden doppelt so oft durchleuchtet wie Niederländer, sie gehen dreimal öfter zum Arzt als die Schweden und schlucken in ihrem Leben fast zweimal so viel an Medikamenten wie Norweger – ohne dass ihr Gesundheitszustand deswegen besser wäre. Das spricht für viel Verschwendung, und mit deren Bekämpfung und der Steigerung von Effizienz kennen Wirtschaftswissenschaftler sich normalerweise aus. Für alle Forscher ist die Gesundheitspolitik vor allem ein hoch kompliziertes Gebiet: Mit Ökonomie allein kann man die Regeln für das Solidarsystem nicht eindeutig bestimmen. So sind Ratschläge von Wirtschaftswissenschaftlern zwar einerseits erwünscht. Andererseits ist das Kosten- und Nutzendenken der Zunft verpönt. Besonders krass brachte das während des Wahlkampfes Peter Kirch, der Verwaltungsratsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes, zum Ausdruck. Die „Ökonomisierung des Sozialen“ sei Wasser auf die Mühlen von Rechtsradikalen und Populisten, behauptete er. „Wer die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung rasiert, produziert Glatzen.“
Dass für jeden Versicherten, auch für den Ärmsten, das Beste in der Medizin gerade gut genug ist – an diesem Konsens lässt sich nicht ohne weiteres rütteln. In keinem anderen Teil des Sozialstaats ist das Streben nach einer klassenlosen Gesellschaft so ausgeprägt – und nirgends sind die Deutschen ihr so nahe gekommen wie in der Arztpraxis. „Krankenkassensozialismus“ nannte der frühere Wirtschaftsminister Karl Schiller diese Entwicklung einmal. Der niedersächsische Ministerpräsident und SPD-Wahlkämpfer Sigmar Gabriel bringt das Prinzip anders auf den Punkt: „Keiner wird krank, weil er arm ist – und keiner wird arm, weil er krank ist.“ Bis hierhin die Theorie. Die Praxis des deutschen Gesundheitswesens sieht anders aus: Weder tragen die Starken tatsächlich zur Finanzierung des Systems bei, noch kommt das Geld grundsätzlich da an, wo es besonders nötig wäre.

Die beiden Regierungsparteien haben sich in dieser Woche bei ihren Klausurtagungen an das schwierige Gebiet herangewagt. In ihren Sitzungen diskutierten Rote und Grüne über „grundlegende Sozialstaatsreformen“. Bloß kreist die Debatte um eine Frage, die angesichts echter Gerechtigkeitslücken zu vernachlässigen wäre: Wie viel sollen die Deutschen über ihre Versicherungsbeiträge hinaus für Gesundheitsleistungen selbst bezahlen? Seit vor Weihnachten ein Papier des Kanzleramts bekannt wurde, in dem viel von „Eigenverantwortung“ die Rede war, ist die Aufregung groß.


Kaum eine Maßnahme lässt sich so leicht als „neoliberal“ geißeln wie Pläne, den Patienten gewisse Kosten pro Arztbesuch aufzuerlegen oder pauschale Selbstbehalte nach dem Vorbild der Auto-haftpflicht einzuführen. Deshalb fordern die Politiker schnell Veränderungen von der Pharmaindustrie und den Apothekern, von den Kurdirektoren und den Fachärzten. Doch der Patient blieb auf merkwürdige Weise außen vor. Dabei geht es eigentlich um eine Banalität: Wer unnötig viele Ärzte konsultiert, überflüssige Medikamente anfordert oder jedes Zipperlein behandeln lässt, gehört zu den Verschwendern im System. Die fünf Wirtschaftsweisen haben denn auch in ihrem jüngsten Jahresgutachten die steuernde Wirkung von Zuzahlungen gelobt.

„In keinem anderen Industrieland gibt es so wenig Selbstbeteiligung der Patienten wie in Deutschland“, sagt Klaus-Dirk Henke, Volkswirtschaftsprofessor an der Technischen Universität Berlin und langjähriger Chef des Gesundheits-Sachverständigenrats der Bundesregierung. Ob für Zahnbehandlungen, Prothesen oder schwere Eingriffe: Zuzahlungen und Selbstbehalte gehören in Schweden, der Schweiz oder Frankreich seit langem dazu. Für Henke ist deshalb die Aufregung über Selbstbehalte nicht nachvollziehbar. Unbestritten treffen solche Instrumente Kranke stärker als Gesunde, weswegen man sie für wenig sozial halten mag. Unbestritten erhöhen sie aber auch die Effizienz im System. Und das ist dann wieder sozial. Deshalb müsste es nach Henkes Ansicht um einen Kompromiss, eine maßvolle Einführung gehen. „Im heutigen System gibt es für die Versicherten viel zu wenig Anreize, sparsam mit Gesundheitsleistungen umzugehen“, sagt er.

Doch Gerhard Schröder hat da andere Erfahrungen. Womöglich wäre er ohne das links besetzte Gesundheitsthema nie ins Kanzleramt gelangt. Im Wahlkampf des Jahres 1998 sammelten die Sozialdemokraten vor allem mit ihrer Kritik an der Gesundheitspolitik der alten Kohl-Regierung Sympathien. Die Rechten wollten doch glatt – genau: Zuzahlungen und Selbstbehalte.

Dem Erfolgsprinzip blieb die SPD in diesem Sommer treu. Im Wahlprogramm der SPD, beschlossen vor gerade einmal sieben Monaten, hieß es, „ein vom Einkommen unabhängiger Leistungsanspruch“ zähle zu den „Stärken“ des Systems, die man auf jeden Fall „erhalten“ wolle: „Eine Zwei-Klassen-Medizin wird es mit … uns nicht geben.“

Weil sie aber längst existiert, ist die aktuelle Gerechtigkeitsdiskussion so ungenügend. Untersuchungen belegen, dass Gesundheitszustand und Lebenserwartung auch in Deutschland eine Frage des Einkommens sind. Wer arm ist, stirbt früher – das gilt nicht nur in Tansania oder Bangladesch, sondern beispielsweise auch im Ruhrgebiet. Eine neue Untersuchung des Bochumer Professors Peter Strohmeier zeigt: Die Lebenserwartung in strukturschwachen Teilen des Reviers bleibt zwei Jahre hinter dem Durchschnitt zurück.

Es ist auch keineswegs so, dass vor dem Arzt jeder Patient gleich wäre – das lässt schon die Arbeitszeit eines Mediziners im Normalfall nicht zu. Verzögern, verschrecken, verweisen: Das sind gängige Mechanismen der Leistungsverweigerung im Alltag der deutschen Medizin. In anderen Ländern geht man mit diesem Dauerzustand nur brutaler und ehrlicher um: Dass in Großbritannien ein über 70-Jähriger noch eine neue Hüfte bekommt, ist ungefähr so wahrscheinlich wie ein Lottogewinn. Das sollte für Deutschland kein Vorbild sein – wohl aber die Bereitschaft, sehr klar zu benennen, was noch finanzierbar ist. Sonst entscheidet allein der Arzt.

Bislang ertragen die Deutschen ein teures, intransparentes und inflexibles Zwangssystem ja vor allem deshalb, weil es angeblich gerechter zugeht. Das Solidarsystem, so die Vorstellung, schaffe einen fairen Ausgleich zwischen Arm und Reich, Jung und Alt, Singles und Familien. Eine falsche Vorstellung: Schließlich wird das Solidarsystem unsolidarisch finanziert.

Wie solidarisch ist ein System, in dem nur die Besserverdienenden, deren Gehalt oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze liegt, jederzeit in eine preiswertere Privatversicherung wechseln dürfen? Wie fair ist eine Umverteilungsmaschine, die Beamte als Privatversicherte generell außen vor lässt? Wer viel Geld aus Vermietungen, Verpachtungen oder Aktiengeschäften bezieht, braucht davon ebenfalls nichts in die Solidarkasse einzubezahlen. Ehepartner von Beitragspflichtigen werden zulasten der Solidargemeinschaft auch dann kostenlos mitversichert, wenn sie weder Kinder großziehen noch Angehörige pflegen.

All diese Mängel ließen sich beheben, wenn der Sozialstaat durch Steuern statt Lohnabgaben finanziert würde. Es wäre zwar utopisch, schnell und komplett umzustellen. Gegen eine allmähliche Umstellung spricht aber nach Sicht von Bert Rürup, dem Chef der Sozialstaatskommission der Regierung, überhaupt nichts. Solch ein Projekt werde allerdings nicht in ein oder zwei Legislaturperioden bewältigt – und auch nicht von einer (und damit auch nicht von seiner) Kommission.


 

8305 Postings, 8539 Tage maxperformanceein toller Artikel den

 
  
    #2
11.01.03 18:25
sollte sich die reformresitente Ulla Schmid mal
über das Bett hängen. (Quellenangabe wäre nett)

Der wirksamste Mittel sind wirklich Anreize wie Beitragsrückerstattungen
und pauschale Selbstbehalte mit Obergrenze.

Der vor Überkapazitäten strotzende Pharma-, Apotheker-, und Rönthgenbereich
mit kartellrechtlich organisiertem Preissystem freut sich
über unser Gesundheitssystem das Verschwender nicht an den Kosten beteiligt
und damit alles andere als sozial ist,,  

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