Der Trümmerhaufen vor dem ersten Schuss
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Eröffnet am: | 13.03.03 14:35 | von: armada2000 | Anzahl Beiträge: | 2 |
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Die Stricke reißen
Europa, Russland, USA: Der Trümmerhaufen vor dem ersten Schuss
Von Josef Joffe
Die Argumente sind ausgetauscht, das Veto-Schwert ist aus der Scheide, und die Welt steht vor einem diplomatischen Trümmerhaufen, wie sie ihn seit dem Kollaps des Völkerbundes nicht mehr erlebt hat. Mag sein, dass Amerika nun allein in den Krieg zieht, mag sein, dass Bush in letzter Sekunde zurückzuckt. So oder so würde der Trümmerhaufen nicht kleiner werden.
Nehmen wir das Szenario vom einsamen Krieg. Militärisch könnten ihn die Amerikaner schnell gewinnen – und zwar nicht mit einer städtevernichtenden Feuerwalze wie im Zweiten Weltkrieg, sondern mit einem Präzisionsbombardement, das Saddam Hussein in den ersten 48 Stunden „blind“, „taub“ und „stumm“ schlägt. Wer den Feind nicht mehr sehen, mit seinen Truppen nicht mehr kommunizieren kann, wird kriegsunfähig. Gewisslich werden die USA dann auch die Beweise finden, die den UN-Inspektoren entgangen sind. Womöglich schlägt hernach in Bagdad ein Regime Wurzeln, das etwa dem jordanischen entspricht: autoritär, aber weder despotisch noch blutrünstig. Eine teuflische Diktatur wäre ebenso beseitigt wie eine Dauerbedrohung der Region.
UN als Hilfstruppe der USA
Natürlich kann dieses lichte Szenario auch in sein Gegenteil umkippen – in einen endlosen Krieg mit unzähligen Opfern und unendlichen Weiterungen. Doch ganz gleich, welches Szenario obsiegt, ist der Trümmerhaufen schon heute Realität. Und niemand – weder Bush noch Blair, weder Schröder noch Chirac – möge sich jetzt in die Brust werfen und behaupten, allein der andere hätte die Sprengsätze gelegt und gezündet.
Die Regierung Bush hat nach dem 11. September ihr legitimes Selbstverteidigungsrecht sehr weitläufig ausgelegt – eben bis an den Euphrat, um zu verhindern, dass al-Qaida beim nächsten Mal mit geborgten Atom- und Biowaffen zuschlägt. Um aber den Bogen von New York nach Bagdad zu schlagen, ist Bush von einer Begründung in die nächste gestolpert, von Entwaffnung über Regimewechsel zur Neuordnung von Nahost. Ein einzelnes Argument ist stets besser als deren drei. Bush I. hatte es einfacher, lag doch 1990 ein klarer Fall von Aggression und Staatenraub vor.
Gravierender aber war die Unterwerfung der UN unter die US-Militärstrategie: Entweder ihr zieht mit, oder wir machen es mit einer Koalition der Willigen. Dies war eine unverzeihliche Herausforderung an Russland, die Großmacht von gestern, und Frankreich, die Möchtegern-Großmacht von heute. Kein Wunder, dass diese beiden Veto-Mächte, mit Berlin im Schlepptau, den Angriff auf ihr kostbarstes Rangabzeichen abwehren wollen. Denn: Der UN-Sicherheitsrat als bloße Abstimmungsmaschine für Amerika wäre das Ende ihres Sonderstatus. Schlimmer noch könnte eine Zukunft aussehen, in der die Bushies die „irrelevanten“ UN ganz umgingen, um mit wechselnden Koalitionen weltweite Ordnungspolitik auf Amerikanisch zu machen.
Dies, nicht der Irak, ist der wahre Grund für den Trümmerhaufen, der die UN, die Nato und das deutsch-amerikanische Verhältnis zu begraben droht. Wir erleben einen beispiellosen Machtkampf mit dem Ziel, den einst von der Sowjetunion eingehegten Gulliver wieder in Ketten zu schlagen. Das historische Datum war der 5. März, als Frankreich, Deutschland und Russland sich gegen die „Hypermacht“ zusammenschlossen: Eine Kriegsresolution „werden wir nicht zulassen“. Dies war das renversement des alliances, die „Umkehrung der Bündnisse“ – wie 1757, als sich die „Erzfeinde“ Frankreich und Österreich plötzlich gegen Friedrichs Preußen zusammenrotteten.
Wir erleben somit tatsächlich das Ende der Nachkriegszeit, das mit der Selbstentleibung der Sowjetunion am Weihnachtstag 1991 begann. Alte Freunde werden zu erbitterten Gegnern, die sich mit alten Feinden gegen die „letzte verbleibende Supermacht“ vereinen. Der Schlachtruf ist „one nation, one vote“, und das Kriegsziel ist es, den ganz Großen mithilfe der vielen Kleinen zu majorisieren, ihn festzuschnallen in internationalen Institutionen wie den UN. Die Logik dieses Dramas hat mit Saddam Hussein nur noch wenig zu tun.
Der Ausgang wird zeigen, ob die Mechanismen des 18. Jahrhunderts auch im 21. funktionieren. Wahrscheinlich aber ist es, dass sich beide Seiten heftig verkalkulieren werden – die Amerikaner ebenso wie die neuen „Achsenmächte“. Selbstverständlich kann Bush II. den Irak-Krieg allein gewinnen. Aber was dann? Die UN, so sie nicht zum Völkerbund verkommen, wären dann nur noch eine humanitäre Globalbürokratie. Die Anti-Gulliver-Reflexe würden immer mehr Liliputaner erfassen. Das „Imperium“ müsste erkennen, dass sich die interessantesten Probleme des 21. Jahrhunderts – vom Protektionismus bis zum Terrorismus, von der Massenwanderung bis zum Klimawandel – nicht mit Präzisionsmunition, sondern nur durch Kooperation lösen lassen.
Und die Europäer? Grundsätzlich gilt, dass sie den Wert des Militärischen so unterschätzen, wie die Amerikaner ihn überschätzen – kein Wunder, denn diese haben die Feuerkraft und jene nicht. Frankreich et al. wissen sehr wohl, dass allein der amerikanische Aufmarsch den Diktator dazu gezwungen hat, seine Arsenale zentimeterweise aufzudecken. Sie wissen sehr wohl, dass es sich auf dem Trittbrett amerikanischer Übermacht trefflich auf der Friedensschalmei blasen lässt. Und sie signalisieren Gulliver: „Wann und ob du von der Kette kommst, bestimmen wir.“
Sterile Konfrontation
Es klafft also kein Arroganz-Defizit im transatlantischen Verhältnis. Trotzdem wäre der Krieg (so wie der innerwestliche Clash of Civilizations) noch zu verhindern, wenn beide Seiten aufhörten, va banque zu spielen. Der unverrichtete Abzug, mithin die Demütigung der USA kann nicht wirklich das Interesse Europas sein – und schon gar nicht Saddam Husseins Triumph. Das wäre die absolut falsche Lektion für Nordkorea, Iran und al-Qaida sowie das Ende des Sicherheitsrates als Bollwerk gegen die neue Weltunordnung. Es kann aber auch nicht das Interesse der USA sein, auf das europäische „Kein Krieg, nie!“ mit „Doch Krieg, sofort!“ zu antworten; das würde den Trümmerhaufen bloß vergrößern.
Was bleibt? Im Sicherheitsrat herrscht zumindest ein Konsens: Saddam Husseins Entwaffnung. Amerikas Gegner wissen auch, dass der Aufmarsch die einzige Chance für eine halbwegs friedliche Entwaffnung durch langfristige Inspektionen bietet – wenn denn die Uhr verlangsamt werden könnte, die bisher nur zwei üble Optionen aufweist: Abzug oder Zuschlagen. Das heißt: Paris, Moskau und Berlin müssten ihre reine Blockadepolitik (die leider für Saddam Hussein arbeitet) durch konditionierte Kooperation ersetzen. Konkret: Frankreich und Russland beteiligen sich an der militärischen Drohkulisse, um so zweierlei zu erreichen. Sie rauben Saddam Hussein die Illusion des Divide-et- Impera und gewinnen ein reales Mitspracherecht über die amerikanische Strategie. In einigem Abstand könnten sogar die Deutschen folgen – indem sie etwa den türkischen Luftraum schützen. Andere könnten sich mit Subsidien an der Aufrechterhaltung der Militärpräsenz beteiligen.
Zu spät? Wenn es die Mächte ernst meinen mit der Entwaffnung, dann wäre dies zumindest in letzter Minute ein Auweg aus der sterilen Konfrontation. Wenn es aber Paris/Berlin/Moskau nur um die Lähmung Gullivers geht – und diesem nur um Krieg, dann wäre alles nicht nur zu spät, sondern auch vergebens. Ein grausamer Triumph für Saddam Hussein – ob er siegt oder untergeht.
(c) DIE ZEIT 12/2003