D. Maxeiner/Zehn Schlüsselfragen für die Zukunft


Seite 1 von 1
Neuester Beitrag: 13.09.04 22:59
Eröffnet am:13.09.04 22:59von: proxicomiAnzahl Beiträge:1
Neuester Beitrag:13.09.04 22:59von: proxicomiLeser gesamt:5.312
Forum:Talk Leser heute:4
Bewertet mit:
1


 

4690 Postings, 8594 Tage proxicomiD. Maxeiner/Zehn Schlüsselfragen für die Zukunft

 
  
    #1
1
13.09.04 22:59
Zehn Schlüsselfragen für die Zukunft



Wenn wir es am wenigsten erwarten, kann sich eine spontane Höherentwicklung einstellen, können sich durch eine neue Kombination plötzlich unerwartete Eigenschaften ergeben, die einen Quantensprung bedeuten. Kam es so zur Erfindung der Musik? Und zum Lachen?

William H. Calvin, Neurophysiologe



Die Umweltbewegung kommt nicht um eine neue ökologische Zustandsbeschreibung herum. In den vorangegangenen Kapiteln haben wir an Beispielen exemplarisch aufgezeigt, daß sich der Status quo durchaus hoffnungsvoll darstellt. Die ökologische Idee ist nicht in der Wüste verdörrt, sondern auf fruchtbaren Boden gefallen. An der Oberfläche mag dem flüchtigen Betrachter noch nicht viel auffallen, dennoch steht fest: Diese Saat wird aufgehen. Und sie wird für Überraschungen gut sein.

Ökologen argumentieren gerne mit dem sogenannten " nichtlinearen" Verhalten von Systemen. Zum Beispiel beim Klima: Das bleibe lange geduldig und stabil bis es dann ganz plötzlich umkippe. Die Chaosforscher bemühen in diesem Zusammenhang den sogenannten " Schmetterlings-Effekt" . Ist ein System erst einmal instabil geworden, so genügt der Flügelschlag eines Schmetterlings um einen Wirbelsturm auszulösen. In der ökologischen Debatte wird nun angeführt, daß der Mensch die Biosphäre an allen Ecken und Enden aus dem Gleichgewicht bringt und destabilisiert. Beim nächsten ökologischen Sündenfall (also beispielsweise wenn wir unsere CO2-Emissionen nicht einfrieren), könnte das Geschehen auf der Erde zusammenstürzen. Und wenn nicht beim nächsten Mal, dann vielleicht beim übernächsten Mal. Oder noch später. Deshalb haben wir seit 25 Jahren Großalarm.

309

Doch warum nehmen Ökologen das Phänomen der nichtlinearen Effekte nur in Anspruch, wenn es abwärts geht? Es funktioniert doch auch anders herum. Auch unser derzeitiges Verhalten, das im Ganzen durchaus noch nicht ökologisch genannt werden kann, könnte schon in den nächsten Jahrzehnten kippen. Und zwar in die richtige Richtung: Weniger Energie- und Materialverbrauch, weniger Schmutz und mehr Wohlstand auch für die, die bislang leer ausgingen.

Überall auf der Welt wachsen ökologische Graswurzeln, kommen neue Ideen und Erfindungen zum Durchbruch, treten engagierte Menschen auf den Plan. Die Gesamtheit dieser Erscheinungen wird eine nichtlineare Dynamik entwickeln. Anstatt vor solchen Effekten Angst zu haben, sollten wir uns zu ihrem Bestandteil machen. Vertrauen wir vor allem auf den menschlichen Geist, der ja ebenfalls nichtlinear funktioniert. Der Romancier John Steinbeck schrieb einmal: " Die Relativitätstheorie ist Einstein im Handumdrehen klar geworden. Das ist das größte Rätsel des menschlichen Geistes: der induktive Sprung. Alles fügt sich ineinander, Belanglosigkeiten rücken in einen Zusammenhang, aus Dissonanz wird Harmonie, und was vorher Unsinn erschien, wird von Sinn überwölbt."

Der menschliche Geist (laut dem Neurologen William H. Calvin der einzige Universalcomputer, der von zwei ungeschulten Kräften gebaut werden kann) ist der stärkste Veränderungsfaktor überhaupt. Die Aussage klingt so banal, daß wir uns kaum trauen, sie hier niederzuschreiben. Aber es ist offensichtlich notwendig: In nahezu sämtlichen ökologischen Zukunftsprojektionen wird die Möglichkeit geistiger Quantensprünge nicht in Betracht gezogen. Im Gegenteil: Es wird davon ausgegangen, daß – sagen wir mal in den nächsten 100 Jahren – mit keinerlei bahnbrechenden und uns heute noch völlig unbekannten Ideen und Erfindungen zu rechnen sei. Die Menschheit hat sich in den letzten 100 Jahren in radikalen Umwälzungen geradezu überschlagen und jetzt soll plötzlich Schluß sein? Wer glaubt denn sowas?

Zukunftsentwürfe, die die menschliche Kreativität ausklammern, sind von vorneherein Makulatur. Sie funktionieren auch immer gleich: Weil nichts Neues hinzukommt, wird das Alte anders verteilt. Phantasielos und defensiv wird unser derzeitiger Wohlstands-Status auf die Weltbevölkerung umgelegt, werden Quoten für den Verbrauch und Ressourcen ausgegeben. Für uns in den Industrieländern kommt dann we-

310

niger " Luxus" oder " Konsum" heraus (was auch immer das ist). Zum Ausgleich wird mehr Mitmenschlichkeit und Spiritualität versprochen (so eine Art Mercedes-Ashram). " Wenn eine Utopie heute subversiv ist, dann ist es der Traum vom Glück durch Wissenschaft, Wachstum, Wohlstand – nicht für ein Land, dann ist er reaktionär –, sondern für die Welt" , wundert sich Detlef Gürtler von der Ostberliner Wochenpost. Der Frankfurter Biologe und Umweltjournalist Edgar Gärtner sieht es ähnlich: " Die weitaus meisten deutschen Umweltschützer bleiben dabei, an Hand von Weltmodellen nach Buchhaltermanier vorzurechnen, wieviel Ressourcenverbrauch uns Deutschen bei einer gerechten globalen Verteilung noch zustünde." Diese Weltmodelle strotzen aber vor Plattheiten, Mythen und Vorurteilen. Für die Diskussion der Zukunft taugen sie nicht.

Eine neue Geschäftsgrundlage muß gerade darin bestehen, daß wir nicht dem Phantom eines neuen Weltmodells hinterhereilen. Statt dem Rechenschieber sollten wir unseren Kopf gebrauchen und einige scheinbar feststehende ökologische Glaubenssätze der Feuerprobe der Vernunft unterziehen. Um die Diskussion anzustoßen (mehr können wir nicht leisten) genügen schon ein paar interessante Fragen:



Wie weit geht unsere Verantwortung für künftige Generationen?

" Die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft offenbart sich in ihrer Haltung gegenüber nachkommenden Generationen" , sagte der hessische Ministerpräsident Hans Eichel auf dem deutschen Umwelttag. Ähnliche Sätze verordnen die Redenschreiber Politikern in aller Welt. Von Rita Süssmuth bis Al Gore. Die Sorge um künftige Generationen gehört einfach zum guten Ton. Das ist zunächst einmal richtig so und auch wohl gesprochen.

Doch was wir daraus lernen können, bleibt völlig unklar. Zunächst einmal handelt es sich bei der heutigen Weltbevölkerung ja um keine homogene Gruppe. Es sind wenige sehr reiche Menschen darunter und viele, die arm sind oder hungern. Daraus können sich haarsträubende Komplikationen ergeben. Wilfred Beckerman, Wirtschaftswissenschaftler an der Universität von Oxford, beschreibt das Dilemma in einem

311

Buch mit dem vielsagenden Titel Small is stupid. Vereinfacht argumentiert Beckerman folgendermaßen: Wenn die Reichen von heute zugunsten künftiger Generationen verzichten, so werden die Armen von heute noch ärmer (weil sie uns noch nicht einmal mehr ihre Rohstoffe verkaufen können). Wir können aber doch nicht im Ernst das Elend jetziger Generationen in Kauf nehmen, um künftige Generationen zu schützen. Das Zitat des hessischen Ministerpräsidenten müßte also eigentlich lauten: " Die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft offenbart sich in ihrer Haltung gegenüber gegenwärtigen Generationen." Nur ist dieser Satz weder schick noch speziell ökologisch. Er wäre aber wichtig und richtig. Es ist medienwirksamer, sich um künftige Generationen Sorgen zu machen als in armen Ländern bessere Toiletten und Kläranlagen zu bauen - moralischer ist es nicht.

Das Dilemma läßt sich weiter spinnen: Auch künftige Generationen werden in diese sehr unterschiedliche Welt hineingeboren. Sollen die Armen von heute etwa zugunsten von Reichen in 100 Jahren verzichten? Wie reich werden die Menschen in 100 Jahren überhaupt sein? Und wieviele Menschen wird es geben?

" Unsere Kinder und Enkel werden unser Handeln in erster Linie daran messen, ob wir heute unseren Verpflichtungen zur Wahrung der Schöpfung nachkommen" , sagte Helmut Kohl 1992 auf der Erdgipfel von Rio. Aber kann ihre Meinung über uns überhaupt der Maßstab sein? Mal angenommen, es gelänge der Menschheit nicht ihr Wachstum zu bremsen: Die vielen Menschen, die dann künftig auf die Welt kommen, werden dennoch jeder für sich froh über ihre Geburt und ihr Leben sein. Oder haben wir uns bei unseren Eltern etwa beschwert? Hätten sie beispielsweise zugunsten der Wildkatze und des Bibers auf uns verzichten sollen? Der amerikanische Ökologe und Autor Paul Ehrlich (The population bomb) hat einmal gemeint, es sei für alle besser gewesen " die amerikanische Bevölkerung hätte im Jahre 1940 ihr Wachstum eingestellt." Dazu nur eine Bemerkung: Ehrlich wurde 1932 geboren.

Das Erstaunliche an künftigen Generationen ist obendrein, wie schnell sie sich selbständig machen (Eltern wissen das). Wir können unseren Kindern ein paar gute Ratschläge geben, mit halbwegs anständigem Beispiel vorangehen, aber vielmehr können wir nicht.

Künftige Generationen werden für sich selbst sorgen, wie wir auch, da sind wir ganz optimistisch.

Es wird nun häufig so getan, als gehe es in den nächsten 20

312

oder 30 Jahren um das Überleben der Spezies Mensch, um entweder oder. Wir wissen nicht woher diese Einschätzung stammt, aber sie spukt allenthalben in den Hinterköpfen herum. Und sie ist durch nichts, aber auch durch gar nichts begründbar. Selbst wenn sich die wüstesten Horror-Szenarien bewahrheiten würden, selbst wenn Temperaturen und Meere ansteigen, so steht das Überleben unserer Gattung und auch eines großen Teils der übrigen Schöpfung doch in dem von uns überschau- und beeinflußbaren Zeitrahmen außer Frage. (Es sei denn, es würde uns beispielsweise eine kosmische Katastrophe ereilen).

Wir machen uns deshalb ein bißchen viel Sorgen um künftige Generationen und ein bißchen wenig um die gegenwärtigen. Sehr salopp gesagt: Wir machen uns Sorgen um ungelegte Eier.

Seit Jahrtausenden suchen die Philosophen nach Formeln für ein moralisch vertretbares Miteinander der lebenden Menschen. Und dennoch ist die Ethik nach wie vor eine Großbaustelle. Die Maßstäbe für den Umgang mit künftigen Generationen sind dem gegenüber noch nicht einmal angedacht (geschweige denn geklärt). Diese jetzt auch noch mit der ökologischen Frage zu vermischen vernebelt nur die Sicht. Wahrscheinlich wird das Thema deshalb so gerne in Sonntagsreden aufgegriffen.



Müssen wir im Interesse unserer Nachfahren Ressourcen schonen?

Wenn wir über künftige Generationen sprechen, dann gilt natürlich auch zu klären: Reden wir über die in 50 Jahren, in 100 Jahren, in 1000 Jahren oder in 100 Millionen Jahren? Wird es in 100 Millionen Jahren überhaupt noch Menschen geben? Und wenn ja: Was sollen wir ihnen aufheben? Kohlen? Erdöl? Glaubt denn jemand im Ernst, daß sie dann noch mit Heizöl hantieren? Nein, wir heben garantiert das Falsche auf. Auf lange Sicht macht die Konservierung nicht erneuerbarer Rohstoffe keinen rechten Sinn. Dennoch wird viel übrig bleiben: Ruhrkohle braucht beispielsweise schon heute kein Mensch mehr. Ihre Förderung wird als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme subventioniert. Und über die Braunkohle, die uns Herr Honecker übrig gelassen hat, kann sich auch kein Mensch richtig freuen.

313

Ganz entgegen den in den 70er Jahren prognostizierten Rohstoffengpässen schwimmt die Welt derzeit geradezu in Vorräten. Gegenüber den 70er Jahren haben sich die bekannten Vorräte an Aluminium, Kupfer, Blei, Nickel, Zink, Öl oder Erdgas verdoppelt bis verfünffacht. Und die Experten rechnen noch mit viel mehr Funden in der Erdkruste und unter den Ozeanen. Auch unsere Enkel und Urenkel werden darauf zurückgreifen können - wenn sie es überhaupt noch müssen. Sobald ein Stoff knapp zu werden droht, setzt der Markt zwei Mechanismen in Gang. Erstens: Die Suche nach neuen Vorräten. Zweitens: Die Suche nach Ersatz. Beides funktioniert mit geradezu naturgesetzlicher Zuverlässigkeit. Das theoretische Ende nicht erneuerbarer Rohstoffe wird praktisch ständig widerlegt. Als im Zweiten Weltkrieg Kautschuk knapp wurde, erfanden die Forscher kurzerhand den synthetischen Gummi. Auch heute stehen wir wieder vor der Einführung neuer synthetischer Materialien, die leichter, stabiler und sauberer als bisher bekannte Stoffe sind und diese schlichtweg überflüssig machen.

Einer der hochentwickelsten Stoffe der Welt hat beispielsweise folgende Eigenschaften: Seine Fäden sind so dünn, daß das menschliche Auge sie kaum wahrnimmt. Dennoch hat er eine höhere Zugfestigkeit als Stahl. Bei seiner Herstellung entstehen keinerlei Abgase. Alle Abfälle sind biologisch abbaubar und wasserlöslich. Das für die Produktion erforderliche Rohmaterial kann auf der Straße aufgesammelt werden. Die aufgewendete Energie ist kaum meßbar. Jeder hat dieses Material schon einmal in der Hand gehalten: Ein Spinnennetz. Die sogenannte " Bionik" schaut der Natur ihre Geheimnisse ab und versucht sie für den Menschen nutzbar zu machen. In Verbindung mit Physik und Chemie entwickelt sich daraus eine völlig neue Werkstoffindustrie.

Genauso wird die Sonnenenergie über kurz oder lang die fossilen Brennstoffe ersetzen. " In Wirklichkeit hat jede Energiekrise märchenhaften Fortschritt gebracht" , schreibt das amerikanische Natural History Magazin und fügt hinzu: " Der Wohlstand stieg gewaltig und das Leben wurde nicht schwerer, sondern leichter." Vor dem 20. Jahrhundert gab es drei solcher Krisen und jedesmal glaubten die Menschen, es ginge nicht weiter. Weil der Mensch in der Altsteinzeit mit seiner erfolgreichen Jagd die Tiere stark dezimiert hatte, geriet er in die erste noch archaische Energiekrise. Die Antwort war die Erfindung der Landwirt-

314

schaft. Im alten Rom hielt man lange an der Muskelkraft fest (Arbeitsplätze!), obwohl die Wasserkraft schon erfunden war. Als die Bevölkerungszahl des römischen Reiches nach Christus stark abnahm und Arbeitskräftemangel auftrat, setzte sich dann die Wasserkraft ruckzuck durch. Im 16. Jahrhundert wurde Schottland völlig kahlgeschlagen, am Schluß mußten sogar die Bäume in den Parks als Brennstoff dran glauben. Nur widerstrebend gingen die Menschen zur Kohle als Ersatz über. Doch dann gab es kein Halten mehr: Die Kohle löste einen technologischen Quantensprung mit neuen Maschinen, erhöhter Produktion und gesenkten Kosten aus. Und die Kohle rettete den Wald. (Das klingt nun wirklich wie ein Drehbuch für die Einführung der Sonnenenergie.)

Doch noch einmal zurück zum Grundsätzlichen: " Entweder Ressourcen sind endlich, oder sie sind es nicht" , erklärt Ökonom Wilfred Beckerman und weist damit auf Widersprüche in der Debatte über nicht erneuerbare Ressourcen hin. " Wenn Ressourcen endlich sind, dann wird auch Nullwachstum sie nicht retten" , sagt Beckerman. Einfach ausgedrückt: Wenn wir bestimmte Rohstoffe wirklich für die Nachwelt aufheben wollten, dann müssen wir schlicht aufhören, sie zu benutzen (ein gedrosselter Verbrauch ändert ja nichts daran, daß eines Tages alles verbraucht ist). Doch wofür sollte das gut sei? Wem würde es nutzen? " Was ist vorzuziehen" , fragt Beckerman, " daß zehn Millionen Familien für die nächsten 100 Jahre versorgt sind, oder daß 100 Familien über die nächsten zehn Millionen Jahre?"

Im Bezug auf die handelsüblichen Lösungsvorschläge spitzt Beckerman zu: " Warum ausgerechnet Null-Wachstum? Warum nicht ein Prozent Wachstum oder minus 2,2 Prozent?" Der britische Ökonom sarkastisch: " Hat die Ziffer Null irgendeine mystische Attraktion für Ökokatastrophisten?" Das macht uns doch alles sehr nachdenklich. Deshalb ein Vorschlag zur Güte: Lassen wir die mit ökologischem Pathos vorgetragenen Verzichtsaufforderungen und handeln schlicht nach der Methode Ludwig Erhard: " Maßhalten" . Das klingt zwar nicht mehr so greenpeacig und weltverändernd, meint aber im Kern genau das gleiche. Energie und Material sparen ist einfach vernünftig, sowohl ökologisch als auch ökonomisch, also laßt es uns tun. Es besteht aber kein Anlaß, aus der Wachstumsfrage einen Glaubenskrieg zu machen. Wir ziehen es als Laien ohnehin vor, uns im Urteil an den konkreten Einzelfall zu halten.

315

Für die Ansprüche kommender Generationen ist die Wachstumsfrage jedenfalls irrelevant.



Wachstum oder nachhaltige Entwicklung?

Im Jahr 1996 sind auf dem Globus mehr Menschen ausreichend mit Nahrung versorgt worden als jemals zuvor in der Weltgeschichte. Dies verdanken wir dem Wirtschaftswachstum in Ländern wie China und Indien. Den armen Ländern bleibt überhaupt nichts anderes übrig, als mit einer wachsenden Wirtschaft die Not zu lindern und Wohlstand aufzubauen.

Langfristig wird wachsender Wohlstand der Umwelt auch direkt zugute kommen. Nicht der Reichtum, sondern die Armut hinterläßt die schlimmsten ökologischen Verheerungen: verpestete Luft, verseuchte Gewässer und für die Feuerstelle kahlgeschlagene Landschaften. " Die ärmsten Menschen leben oft in unmittelbarer Nachbarschaft der reichsten biologischen Schätze" , beschreibt der Biologe E.O. Wilson die Zusammenhänge zwischen Armut und der Abholzung der Tropenwälder.

Nun schafft Wachstum Probleme wie einen höheren Energiebedarf. Er wird in den Ländern der Dritten Welt ähnlich steigen wie zu Zeiten der Industrialisierung bei uns. Selbst für kluge Köpfe stellt sich die Industriegesellschaft als Sündenfall dar. Hans Magnus Enzensberger schreibt beispielsweise: " Frühere Menschen zehrten in ihrem Übermut die Früchte der Arbeit auf, aber nicht ihre Existenzgrundlage; wir dagegen konsumieren die planetarische Substanz." Beide Aussagen sind, wie in den vorangegangenen Kapiteln erläutert, zweifelhaft. Dennoch beziehen die Verfechter der sogenannten " nachhaltigen Entwicklung" (" sustainable development" ) aus solchen Bildern die Kraft ihrer Argumentation. Motto: Wir dürfen nur noch von den Zinsen leben, ohne das Kapital anzurühren. Das Bild ist schön, aber es taugt nicht: Ohne Wirtschaftswachstum wirft das Kapital nämlich keine Zinsen ab. Was nicht ausschließt, daß der Begriff der Nachhaltigkeit beispielsweise bei der Bewirtschaftung des Waldes oder dem Erhalt von Tierbeständen Sinn macht. Auch hier empfiehlt sich die Betrachtung des Einzelfalles.

Was nun? Schauen wir uns einmal die bekannteste Definition der

316

Nachhaltigkeit an. Sie findet sich im sogenannten " Brundtland-Report" . Dahinter verbirgt sich ein Bericht der UN-Kommission für Umwelt und Entwicklung aus dem Jahre 1987, der unter Federführung der gleichnamigen norwegischen Ministerpräsidentin entstand. Danach ist sustainable development " eine Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne die Fähigkeit künftiger Generationen in Frage zu stellen, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen."

Da ist guter Rat teuer: Wie schwierig die Klärung von Ansprüchen innerhalb der verschiedenen lebenden und künftigen Generationen ist, haben wir im vorherigen ja bereits angedeutet. Der Brundlandt-Report geht souverän über die vielen Fallstricke hinweg. Schon alleine deshalb ist seine Definition unbrauchbar. Damit nicht genug: Auch der Begriff " Bedürfnisse" wird nicht näher geklärt .Was sind gerechtfertige Bedürfnisse? Eine vollwertige Mahlzeit pro Tag? Oder drei? Darf`s auch eine Wohnung sein und ein Anzug? Steht uns Urlaub zu, eine Reise gar? Die Kommission hat mit gutem Grund auf nähere Klärungen verzichtet: Der Weg zu einer totalitären Bevormundung der Menschen wäre vorgezeichnet. " Der Anspruch die Welt durch Konsumverzicht und oder globales Stoffstrom-Managment retten zu wollen, kann genauso vermessen sein wie der Wahn sie beherrschen zu können" , schreibt der Umweltjournalist Edgar Gärtner in diesem Zusammenhang und fügt hinzu: " Als wirklich nachhaltig hat sich nur die Gedankenlosigkeit erwiesen, mit der Begriff benutzt wird."

Für den Präsidenten des internationalen Ökologenverbandes Professor Wolfgang Haber ist der Widerspruch zwischen kultureller und ökologischer Dynamik unaufhebbar. Seit der Erfindung von Ackerbau und Viehzucht und besonders seit dem Entstehen der Industriegesellschaft sei Nachhaltigkeit als gesellschaftliches Ziel nur noch als Utopie denkbar. " Wir müssen anerkennen, daß die kulturelle Entwicklung der Menschheit, insbesondere im industriell-technischen Stadium, sich über die nachhaltige Organisation der Natur hinweggesetzt hat, und zwar irreversibel." Die entscheidende Frage lautet nun: Ist das schlimm? Der schon zitierte amerikanische Umweltjournalist Gregg Easterbrook schreibt: " Die Industrieländer mögen viele Fehler haben, aber fast ohne Ausnahme sind ihre Bürger reicher, freier, besser ausgebildet, haben weniger Kinder und sind weniger sexistisch als die Menschen in den Entwicklungsländern."

317

Es wird uns nichts anderes übrig bleiben als uns zwischen den beiden Polen hindurchzulavieren. Und dieser Prozeß ist längst im Gange. Der Begriff der Nachhaltigkeit erweist sich mittlerweile selbst in Industriekreisen als konsensfähig – weil er ganz einfach anders interpretiert wird. " Sustainable Development: Für eine neue Qualität des Wachstums" , verkündete beispielsweise die Chemiefirma Hoechst in ganzseitigen Anzeigen. Nachtigall, wir hör`n Dir trapsen: Hier ist von nachhaltigem Wachstum die Rede. Wären wir bösartig, würden wir diese Wortschöpfung als eierlegende Wollmilchsau bezeichnen. Wir sind aber nicht bösartig, sondern glauben an das Gute. Wir tendieren daher zu folgender Einschätzung: Dahinter verbirgt sich die gute alte soziale Marktwirtschaft, die um das Ziel ökologischer Rücksichtnahme erweitert wurde. So wie der Begriff inzwischen allgemein - auch von vielen Umweltschützern - benutzt wird, stellt er also überhaupt nichts neues dar. Es geht darum sparsam mit unseren Ressourcen umzugehen, damit unser Wohlstand auch auf lange Sicht wachsen kann, und nicht durch eine kaputte Umwelt gefährdet wird. Das finden wir prima (es wäre semantisch allerdings auch einfacher zu haben).

Professor Ortwin Renn von der Stuttgarter Akademie für Technologiefolgenabschätzung plädiert dafür, daß sich eine am Leitbild der Nachhaltigkeit orientierte Umweltpolitik ganz praktisch auf den Weg machen soll, anstatt auf ein unerreichbares Ziel zu starren. Es gehe darum, den Menschen auf regionaler Ebene zu helfen immer " nachhaltiger" zu werden. So liegt es an den Industriestaaten, den aufstrebenden Entwicklungsländern Zugang zu sauberen und effizienten Techniken zu verschaffen. " Es gibt kein zurück in einen weltfremden Naturzustand" , sagt Biologe Professor Reicholf, " wer ihn fordert, denkt menschenverachtend, weil er damit nur ein paar Millionen Menschen weltweit das Überleben zugestehen würde." Wenn China ohne Umweg den FCKW-freien Kühlschrank einführt (so wie es gerade geschieht) dann ist dies genau der richtige Weg. Blockheizkraftwerke, Solarenergie, Windräder – all dies werden sich aufstrebende Schwellenländer bald leisten können. Die Zeitlücke zwischen ihrer und unserer Entwicklung eröffnet die Möglichkeit, unsere Fehler zu überspringen. Warum sollen Entwicklungsländer fossile Techniken kaufen, wenn saubere, moderne, effizientere zu haben sind?

Sie müssen sich solche Techniken nur leisten können. Und dies wird am

318

besten dadurch sichergestellt, daß sie uns ihre Waren verkaufen können. Und während die anderen aufholen, könnte sich in den Industrieländern der Wandel weg von den rohstoffintensiven Altindustrien vollziehen. " Cleantech ist der Nachfolger von Hightech" , beschreibt Gregg Easterbrook die Transformation. Nahezu alle Konsumprodukte werden immer kleiner und verbrauchen immer weniger Material und Energie. Nahezu alle Produktionsprozesse senken drastisch den Verbrauch von Ressourcen wie Wasser oder Luft. Die Schlüsselbranchen des nächsten Jahrtausends heißen Mikroelektronik, Computertechnik, Software, Optoelektronik, Bio- und Gentechnologie. Sie ersetzen allesamt Wissen durch Material und entkoppeln das Wachstum vom Ressourcenverbrauch. Die Bionik spielt dabei eine Schlüsselrolle, weil sie mit weniger auskommt und höhere Wirkungsgrade anstrebt. Technik und Natur rücken zusammen. Auch hierzulande kann der Wohlstand wachsen ohne die Umwelt kaputt zu machen. Intelligente Maschinen, Produkte und Materialien schaden der Umwelt nicht. Die theoretische Frage ob wir Wachstum oder Nachhaltigkeit anstreben sollen, verliert praktisch an Bedeutung.



Wozu ist das Vorsorgeprinzip gut?

" War Umweltpolitik zunächst überwiegend Reparaturpolitik als Antwort auf die Vielzahl nunmehr erkannter Umweltschäden" , schreibt Ex-Umweltminister Klaus Töpfer, " so trat mit ihren Erfolgen der Gedanke der Vorsorge in den Vordergrund." Das klingt gut, weil es ja nicht schlecht sein kann, sich vorher über ein Risiko Gedanken zu machen. Irreparable Schäden für die menschliche Gesundheit oder die Umwelt sollen vorsorglich ausgeschlossen werden. Dagegen kann niemand etwas haben.

Das Kleingedruckte des Vorsorgeprinzips lautet in etwa so: Wann immer zu vermuten steht, daß ein Verfahren oder ein Stoff gefährliche Schäden anrichten könnte, sollten diese nicht angewendet werden, selbst – wenn über die Schädlichkeit noch keine endgültige wissenschaftliche Gewißheit herrscht.

Führen wir dieses nun an einem einfachen Beispiel aus: Sie kaufen sich ein Fahrrad und wollen losradeln. Laut Vorsorgeprinzip ist dies aber völ-

319

lig unvertretbar: Die Gefahr, einen tödlichen Fahrradunfall zu erleiden ist gar nicht so klein, das Fahrradfahren ist daher vorsorglich zu unterlassen. Das gleiche gilt für das Autofahren, Skifahren, Karussellfahren, Treppensteigen. Getreu den Buchstaben des Vorsorgeprinzips muß die gesamte Bevölkerung der Bundesrepublik sofort die Arbeit einstellen und vorsorglich im Bett bleiben.

Aus diesem Dilemma befreien wir uns mit einem genialen Kunstgriff: Das Vorsorgeprinzip gilt nicht für reale Gefahren, sondern nur für hypothetische. Es ist somit auch kein Prinzip, sondern nur ein Musterbeispiel für selektive Gefahrenwahrnehmung. " Das Vorsorgeprinzip ist ein wunderbarer rhetorischer Kunstgriff" , sagte der Berkeley-Professor Aron Wildawsky: " Sein Verfechter ist immer auf Seiten der Gesundheit und der Bevölkerung, dem Gegner ist die Volksgesundheit hingegen schnuppe." Politisch läßt sich mit dem Vorsorgeprinzip prima punkten, praktisch ist es ein einziger großer Widerspruch.

Wir wollen hier nicht für die bedenkenlose Freisetzung irgendwelcher Organismen oder Chemikalien plädieren. Aber es fällt auf, daß in ökologisch tabuisierten Bereichen wie der Chemie, das Vorsorgeprinzip besonders gerne herbeizitiert wird. Dies mag populär sein, rational ist es nicht. Warum gesteht man nicht den Verantwortlichen den gesunden Menschenverstand zu, der auch bei jedem Radfahrer vorausgesetzt wird? Ein vernünftiger Radfahrer macht im Dunkeln das Licht an, fährt nicht bei Rot über die Kreuzung und meidet die Autobahn. Der Gedanke der Vorsorge ist richtig, aber er sollte uns nicht lahmen. Der Bedenkenträger darf nicht zum gesellschaftlichen Leitbild werden. " Risiko und persönliche Verantwortung gehören zusammen" , schreibt der Amerikaner David Moss in der Zeit, " größere persönliche Verantwortung bedeutet auch im Kopf mehr wagen zu können." Und letzteres wird ein Land brauchen, daß als Rohstoff nur die Kreativität seiner Köpfe besitzt. Und denjenigen, die Kritikern des Vorsorgeprinzips die Moral absprechen, möchten wir entgegen halten: Die intellektuelle Variante des Vorsorgeprinzips ist das Denkverbot.



320



Kann der Mensch die Natur zerstören?

Grüne Rhetoriker werden nicht müde zu betonen, wie empfindlich, fragil oder sensibel doch unsere Natur ist. Während Karikaturisten " Mutter Natur" früher als pralles Weib in der Blüte des Lebens darstellten, wird sie heute am liebsten als halb verhungerte Kindfrau mit tiefen Augenhöhlen und zerrissenem Gewand gezeichnet. Gleichsam ein armes Streichholzmädchen aus frühkapitalistischen Zeiten. Menschen können Tier- und Pflanzenarten ausrotten, Wälder in Steppen verwandeln, Gewässer vergiften und ganze Landstriche (zumindest zeitweilig) verwüsten. Das haben sie bewiesen. Doch die Vorstellung, sie könnten einen Schlußpunkt hinter die Evolution setzen, ist reiner Größenwahn.

Die Natur hat im Laufe der Erdgeschichte Katastrophen überstanden, die alles übertreffen, was Menschen ihr jemals angetan haben oder antun könnten. Sie überlebte Eiszeiten und Warmzeiten, Kontinentalverschiebungen, Auffaltungen von Gebirgen, Einschläge riesiger Himmelskörper, lebensfeindliche kosmische Strahlung und massenhafte Vulkanausbrüche, welche die Luftverschmutzung von heute geradezu lächerlich erscheinen lassen.

Vor 10.000 Jahren traf ein Meteor das heutige Argentinien, dessen Aufschlag die Energie von 18.000 Hiroschima-Atombomben freisetzte. 1908, also gar nicht allzu lange her, geschah etwas ähnliches in Sibirien: Der aufschlagende Himmelskörper vernichtete mehrere Hundert Quadratkilometer Wald und entsprach 715 Hiroschima-Bomben. Die beiden Vorfälle haben den Fortgang des Lebens nicht mal gekratzt.

Ein anderes Ereignis, dessen Spuren heute noch in Sibirien zu finden sind, verdunkelte 600 000 Jahre lang den Himmel. Es waren die endlosen Ketten von Vulkanausbrüchen in der Perm-Zeit, die das größte Artensterben der Erdegeschichte auslösten. Damals, vor 250 Millionen Jahren, wurden 96 Prozent des Lebens im Meer ausgelöscht. Zum Vergleich eines der schlimmsten von Menschen gemachte Umweltdesaster der neueren Geschichte: Als der Londoner Smog im Winter 1952 besonders schlimm war, starben 2000 Menschen an der verschmutzten Luft.

Jenes Massensterben im Perm war nur eines von vielen. Katastrophal ging es auch beim Untergang der Dinosaurier vor 65 Millionen Jahren zu. Experten streiten sich, ob ein gewaltiger Meteoriteneinschlag oder

321

Vulkanausbrüche die Ursache waren. Vor 198 Millionen Jahren, 357 Millionen Jahren und 435 Millionen Jahren wütete der Artentod ebenfalls auf dem gesamten Globus. Ganz zu schweigen von den kleineren Artensterben, die " nur" zehn bis fünfzig Prozent der Spezies auslöschten.

Forschungen am Krakatau-Vulkan in Indonesien, der 1983 ausbrach, und dem Mount Saint Helens in Nordamerika, der 1980 Aschemassen und Lavaströme spuckte, ergaben, daß Pflanzen und Tiere sich in überraschender Geschwindigkeit wieder ansiedeln und vermehren. Das Leben entwickelt sich fort, bringt dabei immer bessere Formen hervor und wird immer differenzierter. Moderne Säugetiere und Vögel haben sich von ihrer Umwelt emanzipiert und sind wie die Zugvögel in völlig unterschiedlichen Ökosystemen lebensfähig. Sie sind weitaus anpassungsfähiger als ihre kaltblütigen Vorläufer. Und auch der Homo sapiens ist eindeutig ein effizienteres Modell als sein Vorgänger Homo habilis. Edward O. Wilson vertritt die Meinung, daß die heutige genetische Vielfalt, die größte ist, die je auf der Erde existiert hat.

Ökologen wissen, daß viele Naturereignisse, die uns Menschen als schreckliche Katastrophen erscheinen, zum Zyklus der Natur gehören. Sie sind notwendige Einschnitte, die neues Leben hervorbringen. 1988, als bei einem großer Brand im Yellowstone Nationalpark 4.500 Quadratkilometer Wald verkohlten, erschraken weltweit die Naturfreunde. Doch schon ein Jahr später zeigte sich überall neues Grün und Botaniker fanden heraus, daß viele Pflanzensamen auf Feuer angewiesen sind, um keimen zu können. In Naturfilmen der 60er Jahre wurden Buschbrände in Afrika noch als Desaster hingestellt. Heute legen Wildhüter Feuer, damit das verfilzte Elefantengras verbrennt. Es macht neuem nährstoffreichen Grün Platz, das die Wildtierherden dringend brauchen.

Als im März 1989 der Tanker Exxon Valdez vor Alaska auseinanderbrach galt dies als ökologische Mega-Katastrophe. Alle glaubten, daß sich die Natur des betroffenen Prince William Sunds nie wieder erholen würde. Doch nach nur drei Jahren waren die meisten Tiere wieder zurückgekehrt und fühlten sich wohl. Inzwischen sind kaum noch Unterschiede zum Zustand vor dem Unglück feststellbar. Interessanterweise erholen sich jene Strande, die von Menschen mit Hochdruckstrahlern und Chemikalien gereinigt wurden, am schlechtesten. Manche Biologen

322

tendieren deshalb zu der Meinung, daß die gutgemeinten Putzaktionen mehr Schaden angerichtet haben als der Ölunfall selbst.

Wir sollten auch die starken Seiten der Natur zur Kenntnis nehmen und nicht immer nur ihre fragilen Aspekte. Zweifellos kann eine falsche menschliche Entscheidung bedrohte Arten wie den Spix-Ara oder den Riesenpanda für immer auslöschen. Doch gleichzeitig müssen wir die wunderbaren vitalen Kräfte der Natur im Auge behalten. So lernen wir zu unterscheiden, zwischen ernsthaften Umweltbedrohungen und dem Medienrummel um den jeweiligen Ökoskandal des Tages.



Gibt es ein Gleichgewicht der Natur?

Die Vorstellung vom natürlichen Gleichgewicht, welches einzig und allein vom bösen Menschen gestört wird, ist ebenso verbreitet wie falsch. Dahinter steckt pure Ökoromantik. Hier zeigt sich deutlich, wie sehr die gängige Vulgärökologie zum Religionsersatz geworden ist, und wie weit sie sich von der ökologischen Wissenschaft entfernt hat.

Wandel ist ein Grundprinzip der Natur und die Grundlage der immerwährenden Erneuerung, die wir Evolution nennen. Wäre die Natur nicht zum schnellen Wandel fähig, gäbe es kein Leben auf der Erde. Denn Veränderungen des Klimas und Naturkatastrophen haben Pflanzen und Tiere immer wieder zu neuen Anpassungen gezwungen. Gäbe es wirklich ein Gleichgewicht der Natur, müßten die Organismen bei jedem Wandel ihrer gewohnten Umwelt absterben - der Naturhaushalt wäre längst zusammengebrochen.

Weiterentwicklung erfolgt aus Ungleichgewicht. Eine ausgewogene Balance bedeutet Stagnation. Evolution braucht jedoch Unausgewogenheit, braucht Dynamik um voranzuschreiten und neue Lösungsstrategien hervorzubringen. Dauerhaft ist nur der Wechsel. Uns Menschen mögen Wälder oder Berge wie ewige Monumente erscheinen. Das ist jedoch nur eine Frage der Zeitperspektive. Sitzen wir eine Stunde lang auf einer Parkbank und beobachten einen Ameisenhaufen, er-scheien wir den wuselnden Insekten vielleicht auch wie ein Stück Ewigkeit.

" Ökosysteme können nicht zusammenbrechen," schreibt Josef Reichholf. " Der gegenwärtige Zustand ist nichts weiter als die Ausgangsbasis

323

für den nächsten." Naturschutzromantiker, die auf Biegen und Brechen immer den Status quo fixieren möchten, handeln denkbar unökologisch. Natur ist ein offenes System, das keinesfalls immer so bleiben muß, wie es sich gerade darstellt.

Es gehört leider zum festen Muster umweltpolitischer Kommentare, daß durch Veränderung alles nur schlechter wird. Jede neue Technik richtet vermeintlich nur Schaden an, jeder Fortschritt zerstört angeblich die Natur. Als ob es immer nur bergab ginge und die Sonne immer nur untergeht. Demgegenüber wird die Natur zum Fels in der Brandung menschlicher Veränderungswut stilisiert.

Ein gängiges Klischee solcher ökologischer Sonntagsreden lautet, daß Ökosysteme immer ein harmonisches Miteinander seien, ein auf Recycling angelegtes Teamwork. Das kann durchaus der Fall sein: Es gibt Harmonie in der Natur, Symbiose, gegenseitige Hilfe und sogar Altruismus. Dies ist jedoch kein Gesetz. Ebenso üblich sind Massenvermehrungen von Tierarten, die ihren Lebensraum ratzekahl fressen, bis sie selbst verhungern. Ökosysteme können grundverschiedene Zustände einnehmen, diese kurz oder lang beibehalten, schnell wechseln oder kontinuierlich verändern. Und sie können etwas hervorbringen, was die meisten Ökoromantiker für typisch menschlich halten: Müll.

Eisenbakterien gehören zu den ältesten Bewohnern unseres Planeten. Sie hinterlassen als Stoffwechselprodukt mineralischen Müll, eine Eisenhalde. Gewässer, in denen sich die Eisenbakterien vermehren, sterben ab, sie verrosten. Jeder Spaziergänger, der so einen rotbraunen Bach oder Tümpel sieht, hält dies sofort für einen schlimmen Fall von Umweltverschmutzung. Es ist jedoch ein völlig natürlicher Prozeß, der sich dort abgespielt hat.

Der größten " Müllhalde" der Erdgeschichte verdanken wir sogar unser Leben. Zwei Milliarden Jahre gaben die Pflanzen bei der Photosynthese überflüssigen Sauerstoff ab, ein reaktionsfreudiges Gas, daß die Erde verbrannte und für alle damals lebenden Organismen giftig war. " Sauerstoff-Recycling" ist eine Erfindung der letzten halben Milliarde Jahre Evolution. Das Giftgas wurde nicht nur zur Lebensquell der Tiere, sondern erschuf auch einen Schutz gegen die UV-Strahlen der Sonne, die zuvor ungefiltert auf die Erde brannten: Die Ozonschicht. Zitieren wir noch einmal den Evolutionsforscher Reichholf: " Die Komplexität der

324

Natur bringt es mit sich, daß wohl niemals eine wirklich umfassende Vorhersage ihres Verhaltens möglich sein wird."



Zerstört das Besitzdenken die Natur?

Gemeinsinn, Solidarität und Nächstenliebe sind die höchsten Entwicklungsstufen menschlicher Kultur. Glücklich ist die Zivilisation, die Altruismus im Übermaß besitzt. Doch leider herrscht zumeist ein schmerzhafter Mangel daran. Die Umweltbewegung hat sich angewöhnt, stets an diese zwar lobenswerten aber doch leider seltenen menschlichen Eigenschaften zu appellieren. Warum eigentlich? Was wäre wenn auch niedere Instinkte wie Egoismus, Besitzdenken und - Oh Gott - Gewinnstreben der Umwelt dienlich sein könnten? Immerhin würde man von der kleinen Zielgruppe der Heiligen in die relativ große Zielgruppe der Sünder vorstoßen.

Die Alltagserfahrung zeigt, daß Appelle an den Gemeinsinn oft ungehört verhallen. Es genügt der Vergleich zwischen den heimischen Toiletten von Privatpersonen und den öffentlichen Bedürfnisanstalten. Man kann ihn auch eine Nummer größer anstellen, und bei einer Reise durch die ehemaligen realsozialistischen Länder bewundern, wie der Gemeinsinn so auf Wohnhäuser, Verwaltungsgebäude und Fabriken gewirkt hat. Von Tschernobyl bis Kobcha Mica fanden die schlimmsten Fälle menschen- und naturverachtender Umweltzerstörung im Ostblock statt.

Schon Horst Stern hat darauf hingewiesen, daß einige der schönsten, urtümlichsten und gesündesten Wälder Mitteleuropas Privatleuten gehören. Vielleicht ist dies kein Zufall. Vielleicht muß man Waldbesitzer sein, und ein tiefes wirtschaftliches Interesse am kontinuierlichen Nachwuchs gesunder Bäume haben, um den forstbehördlichen Marschbefehl zu Fichtenmonokulturen nicht mitzumachen. Vielleicht muß man privater Bauer sein, um eine Verantwortung gegenüber den eigenen Tieren zu spüren, die die Angestellten eines Staatsbetriebes viel besser verdrängen können?

Wer den ärmlichen Zustand vieler deutscher Naturschutzgebiete kennt, dem tritt Glanz in die Augen, wenn er in Amerika ein privat gemanagtes Naturschutzgebiet besucht. Ein paar Mark Eintritt für Be-

325

sucher könnten auch hierzulande Landbesitzer motivieren, Otter und Adler in freier Wildbahn zu hegen und zu pflegen. Einige Länder des südlichen Afrika machten mit der Teilprivatisierung des Naturschutzes ebenfalls beste Erfahrungen. Seit Farmer und sogar Kleinbauern dort Gewinn aus den Wildbeständen ziehen können, gibt es mehr Tiere denn je (siehe Erfolgreiche Artenschützer). In Gebiete, wo die Menschen Eigentumsrechte an Büffeln, Leoparden oder Elefanten besitzen, traut sich kein Wilderer. Es laufen sogar ernsthaft Bestrebungen, den Handel mit Rhino-Horn teilweise zu legalisieren. Südafrikanische Farmer wollen Nashörner im großen Maßstab züchten und ihren Nasenschmuck regelmäßig abernten. Dies könnte eine intelligente Chance eröffnen, den Schwarzmarkt mit Rhino-Pulver endlich auszutrocknen.

Ressourcen, die niemandem gehören, verteidigt auch niemand gegen Raubbau. Vielleicht stünde es um die Regenwälder besser, wenn gewinnorientierte Waldbesitzer ihre hölzerne Kapitalanlage verteidigen würden. Eine weitere Ressource, an der sich viele bedienen können, und die keinem gehört: Die Fischbestände der Weltmeere. Herr Neptun sollte Privatbesitz anmelden, dann wäre es vorbei mit der Plünderei.



Brauchen wir einen " natürlichen" Lebensstil?

Naturfreunde tragen gern karierte Hemden, khakifarbene Parka und kernige Wanderstiefel. Sie sind Frühaufsteher, leben auf dem Lande und lieben die Einsamkeit des Waldes. Sie verachten die Städter als verkünstelt und hektisch. Das Metropolenleben erscheint ihnen unecht und oberflächlich. Der Waldohreule fühlen sie sich näher verwandt, als dem Mitmenschen aus dem Asphaltdschungel.

Doch leben Naturburschen wirklich naturverträglicher als der dekadente Städter, der sich in Body-Studios und Techno-Clubs herumtreibt? Durch seine Siedlungsform trägt der Stadtmensch im Gegensatz zum Stadtflüchter nicht zur Naturzerstörung bei. Auch stattet er Füchsen und Hasen keine unaufgeforderten Überraschungsbesuche ab, wenn diese es sich gerade im Moosbett gemütlich machen wollen. Beim Flug zum Konsumtrip nach Ibiza verjubelt er längst nicht soviel Sprit, wie der Naturbursche auf seiner Selbstfindungsreise in die unberührten

326

Weiten Alaskas. Und auf seinem Weg mit der U-Bahn zum Büro schadet er der Umwelt weniger, als der urige Landmann der seinen Arbeitsplatz aus weiter Ferne ansteuert (siehe Öko-Vorteile).

Dennoch haftet den meisten ökologischen Zukunftsszenarien der Charme von Wollsocken, Wohngemeinschaften und Waldorfschule an. Warum wird eigentlich der moderne Großstadtmensch aus der ökologischen Zukunft ausgeschlossen? Schon Max Horkheimer warnte: " Wir sind zum Guten oder zum Schlechten die Erben der Aufklärung und des technischen Fortschritts. Sich ihnen zu widersetzen durch Regression auf primitive Stufen, mildert die permanente Krise nicht, die sie hervorgebracht haben. Im Gegenteil, solche Auswege rühren von historisch vernünftigen zu äußerst barbarischen Formen gesellschaftlicher Herrschaft."

Die naturtümelnde Ashram-Aura ökologischer Zukunftsentwürfe geht zumeist von einem idealisierten Menschenbild aus. Wer einen Garten hat, soll ihn mit seinen Nachbarn teilen, ebenso wie Auto, Waschmaschine und Kühlschrank, empfiehlt die Studie Zukunftsfähiges Deutschland des Wuppertaler Instituts für Klima, Umwelt und Energie im Auftrag von BUND und Misereor. Eine Perspektive, auf die sich die Juristen freuen können. Schon heute leben tausende Anwaltskanzleien vom Nachbarschaftsstreit.

Als Menschen mit leidvoller WG-Erfahrung sagen wir: Job-Sharing: Ja. Car-Sharing: Da, machen wir auch noch mit. Aber Kühlschrank-Sharing? Kurze persönliche Explosion: SEID IHR DENN VON ALLEN GUTEN GEISTERN VERLASSEN? NIEDER MIT DEM KÜHLSCHRANKSHARING, DANN WANDERN WIR AUS! (geht schon wieder). Keine Frage: Wir alle sollten Energie sparen, Ressourcen schonen und respektvoll mit der Natur umgehen, aber müssen wir wirklich zurück zum WG-Mief? Geht`s nicht eine Nummer kleiner? Wie wär`s mit dem Slogan einer großen Supermarktkette: " Prima leben und sparen!" Wenn alle das beherzigen, wäre der Umwelt schon viel geholfen.

Doch so einfach lassen uns die Zukunftsplaner nicht entkommen. Wir müssen zunächst mal das " rechte Maß für Zeit und Raum" wiederfinden lernen, fordert Reinhard Loske, Autor der Studie. Mit einfach lecker essen ist es auch vorbei, denn zukunftsfähig ist nur der Konsument, der sich " bewußt ernährt" , im Essen gar " ein Medium der Selbstverwirklichung sieht." Loske will " die Menschen bewußt als Akteure

327

ansprechen." Doch wen spricht er an? Die Zukunftsvision sieht aus, " wie eine energetisch optimierte Variante des kontemplativen Lebensstils, wie ihn westdeutsche Intellektuelle in den besten Jahren gern pflegen würden," schreibt Detlef Gürtler in der Wochenpost. " Die Leitbilder, die in der Studie formuliert werden, sind allesamt gemütlich, gemächlich und höchst vernünftig." Aber wird es im Zukunftsfähigen Deutschland eine Bundesliga geben, ein Oktoberfest und buntes Silvesterfeuerwerk? Doch das interessiert die ökologisch intellektuelle Elite nicht. Denn abends werden wir nachbarschaftlich unterm wärmenden Solardach sitzen, und bei einem guten Glas Wein über Tiefenökologie diskutieren. Und danach sehen wir uns alle tief in die Augen und sagen " Gute Nacht."



Müssen wir uns von der anthropozentrischen Weltsicht lösen?

Lerne " wie ein Berg zu denken," forderte Aldo Leopold bereits in den 30er Jahren. Eine schöne Metapher, mit der er die Menschen auffordert, vor wichtigen Entscheidungen Abstand zu gewinnen und mit einer anderen Zeitperspektive abzuwägen. Der Philosoph Baird Callicott faßte den Kern der Leopoldschen Ethik mit einem Satz zusammen: " Man sollte sich gegenüber dem Land (damit meinte Leopold auch Flüsse, Pflanzen und Tiere) anständig benehmen." Wir meinen: Diesem wunderbaren Grundsatz ist eigentlich nichts hinzuzufügen.

Einem Teil der heutigen Ökologiebewegung, der sich selbst für besonders konsequent hält, geht dies nicht weit genug. Sie nennen sich Tiefenökologen und berufen sich auf den norwegischen Philosophen Arne Naess. Für sie ist der Anthropozentrismus, also ein Weltbild, das den Menschen in den Mittelpunkt stellt, Ursache aller Probleme. Nur die Abkehr davon verbunden mit einem radikalen Wertewandel könne den Planeten vor der Zerstörung retten. Statt in einer aufklärerischen Weltsicht suchen sie im sogenannten Bio- oder Ökozentrismus ihr Heil. Sie pflegen eine entsprechend religiöse Rhetorik: Einerseits nimmt die Natur die Rolle eines Gottes ein, andererseits wird sie zum ewigen Opfer einer gewinnsüchtigen Menschheit stilisiert. Tiefenökologen halten rationalen Diskurs und kritische Analyse der Probleme nicht für ausrei-

328

chend. Statt dessen empfehlen sie, sich in die Erde oder einen Baum einzufühlen, um Eins mit der Natur zu werden.

Was wäre, wenn wir uns völlig natürlich verhalten würden? Wie nutzen Pflanzen und Tiere ihren Lebensraum? Sie nutzen ihn, bis alle Ressourcen erschöpft sind. Nur durch die konkurrierenden Arten werden sie dabei in Schach gehalten. Alte Bäume verdunkeln den Waldboden so stark, daß dort keine Pflanze mehr wachsen kann. Raubtiere töten und vertreiben alle anderen Beutegreifer, die ihnen in ihrem Revier Konkurrenz machen. Heuschreckenschwärme fressen alles kahl, was ihnen in den Weg kommt. Nicht unsere Instinkte, unsere Vernunft sagt uns, daß Selbstbeschränkung langfristig sinnvoll ist. Solarzellen, Nationalparks und Kondome sind Erfolge unseres Intellekts.

Selbst wenn wir uns freiwillig aus der Natur verabschieden und kollektiven Selbstmord begehen würden, wäre dies eine anthropozentrische Entscheidung. Wir hätten für uns selbst entschieden, kein Bieber, kein Baum, kein Bach hätte Freude daran oder würde unseren Abgang auch nur bewußt wahrnehmen. Nicht anthropozentrisch zu denken, heißt gar nicht denken.

Umweltprobleme werden nicht durch moralphilosophische Saltos gelöst, sondern durch praktische Vernunft. Niemand muß den spirituellen Zustand eines Sandsteins einnehmen, um den Kölner Dom zu retten. Wir müssen auch nicht wie die Wale empfinden (wozu wir auch gar nicht in der Lage sind), um uns an Walen zu erfreuen und sie zu beschützen. Es genügt dafür ein ganz einfacher Gedanke: Alle Lebewesen sind diffiziler, wunderbarer und wichtiger als die komplexesten Formen lebloser Materie. Der schönste Bergkristall oder der leistungsstärkste Computer sind lächerlich primitiv im Vergleich zu einer Spinne.





Welche Rolle spielt Deutschland in der ökologischen Zukunft?

" Was die Weiterentwicklung des Menschen am stärksten antreibt, ist die Freude am Können. Es bereitet ihm Spaß, das, was er macht, gut zu machen, und wenn er es gut gemacht hat, bereitet es ihm Vergnügen es noch besser zu machen" , sagte einmal der Universalgelehrte Jacob Bronowski. Seiner Definition nach müßten die Deutschen besonders

329

gute Menschen sein. Aber im ernst: Erfindungsreichtum sowie technische und soziale Kreativität haben den Deutschen zu Wohlstand und Ansehen verholten. Und genau diese Eigenschaften werden wir in Zukunft brauchen.

Fähige Politiker und Manager, Wissenschaftler und Handwerker, Beamte und Arbeiter, Ärzte und Künstler können dazu beitragen. Die entscheidende Berufsgruppe wird hingegen meistens vergessen oder dumpf beschimpft: unsere Lehrer. Am wichtigsten sind diejenigen von ihnen, die am schlechtesten verdienen und am meisten Frust einstecken müssen: die Grundschullehrer. Insbesondere die Betreuer der ABC-Schützen haben praktisch den anspruchvollsten Beruf im Land (und theoretisch auch den schönsten). Milan Kundera schreibt in seinem Buch Die unerträgliche Leichtigkeit des Sein: " Alle wirklich wichtigen Fragen sind solche, die auch ein Kind versteht." Im Grundschulalter entscheidet sich mit, ob ein Kind blind oder sehend durchs Leben geht, ob es mit den Wölfen heult oder der eigenen Phantasie vertraut, ob es in Zukunft den aufrechten Gang und den freien Lauf der Gedanken bevorzugt. Schlechte Volksschullehrer können viel mehr kaputt machen als schlechte Politiker oder Manager. Und gute Volksschullehrer können viel mehr gut machen. Die Eliten, die Begabtesten aller Lebenslagen und Disziplinen, müßten für diese ehrenvolle Berufung umworben werden.

Deutschland hat 80 Millionen Einwohner und eine relativ kleine Landesfläche. Wir sind nicht der Nabel der Welt. Was in Deutschland und selbst in Europa ökologisch veranstaltet wird, ist im positiven wie im negativen von begrenzter Bedeutung. Die globale Situation wird zunehmend von den aufstrebenden Ländern der Dritten Welt wie China, Brasilien, Indien oder Mexiko geprägt. Diese Länder nehmen von uns sicherlich auch ein paar Ratschläge an (wenn sie nichts kosten), aber bezahlen werden sie nur für gute Ideen, Verfahren und Produkte (dazu gehören auch ein guter Film, ein gutes Buch oder ein guter Fußballspieler).

Nehmen wir als Produkt-Beispiel aber mal ein Sinnbild des Ausgleichs: die Wasserwaage. Oder besser: Hier ist von einem Ding die Rede, daß dem Handwerker die Wasserwaage, das Lot und den rechten Winkel ersetzt. Es besteht aus ein paar kleinen Kunststoffteilen und einem winzigen Laserstrahl und wird bei der Produktion einfach zusammenge-

330

steckt. Dafür benötigt der Hersteller kaum Energie, auch Abfall und Abgase fallen praktisch nicht an. Erfunden hat den sogenannten " Baulaser" ein junger Techniker aus Kaiserslautern. Der Wasserwaage-Ersatz symbolisiert treffend den Ausgleich zwischen Ökonomie und Ökologie. Denn ausgeglichen ist auch die Bilanz: Der Hersteller Quadriga macht pro Jahr 40 Prozent mehr Umsatz. Die Baulaser finden reißenden Absatz. Da wollte die Konkurrenz nicht mehr länger tatenlos zusehen: " Spectra-Physics" , ein Milliarden-Konzern aus den USA, hat für viel Geld Anteile des Kaiserslauterner Jungunternehmens gekauft.

Ausländer beobachten deutsche Talente erstaunlicherweise genauer als wir selbst. Das ist für unsere Ökonomie langfristig bedauerlich, für die Ökologie aber unerheblich. Wenn in Deutschland beispielsweise die Solartechnik stiefmütterlich behandelt wird, werden andere glänzende Geschäfte machen. Diejenigen, die aus Mangel an Phantasie an fossilen Techniken festhalten, sind für die Umwelt langfristig ein größeres Problem als ökologische Betonköpfe (die sterben ja sowieso allmählich aus). Denn Cleantech muß mit Ökologie direkt überhaupt nichts zu tun haben. Cleantech sind ganz normale Produkte, die Material durch Intelligenz ersetzen. Eine Menge Indizien sprechen derzeit dafür, daß unsere technische Umwelt - vom Staubsauger bis zur Chemiefabrik - noch einmal erfunden wird. Dabei geht es nicht darum der Allmacht der Technik das Wort zu reden, sondern die Partnerschaft mit der Natur zu suchen.

Die Dinge, die sich derzeit beobachten lassen, gehen jedenfalls in die richtige Richtung: Weniger Material, weniger Energie. Statt schwerer Fernsehbildröhren werden flache mit Plasma gefüllte Bildschirme einfach an die Wand gehängt. Liliput-Roboter werden die Medizin und die Mechanik auf den Kopf stellen. Anstelle riesiger Kessel könnten in der Chemieindustrie tausende kleine Chemiechips die Herstellung von Substanzen übernehmen. Das beste was die Industrienation Deutschland für sich selbst und für die Umwelt tun kann, ist hier vorne mit dabei zu sein. Auf ökologische Betroffenheit gibt es keine Gutschrift. Ernst Ulrich von Weizsäcker kolportiert gerne den Ausspruch eines Kollegen, der auf Weizsäckers Effizienz-Buch Faktor 4 deutete und sagte: " Lassen Sie das bloß nicht ins japanische übersetzen" .

Unternehmer, Forscher und Wissenschaftler, die mutig in das Cleantech-Neuland springen, sind ökologische Pioniere – auch wenn sie das

331

Wort nicht im Munde führen. Diejenigen, die das Wort Ökologie ständig im Munde führen, sind uns auch recht, aber sie haben deshalb noch keinen Beitrag zu ökologisch effektivem Denken und Handeln geleistet. " Ökomarketing, orientiert sich oft vorschnell daran, was gerade in ist oder was die Ökobewegung aus undurchsichtigen Gründen für koscher oder unrein erkärt" , schreibt Umweltjournalist Edgar Gärtner. Beispiel Tengelmann: Mit großer Geste musterte der Großhandelsriese norwegische Waren aus, weil Greenpeace eine Kampagne gegen den Walfang der Norweger betrieb. Diese Kampagne war sachlich falsch und moralisch ignorant. Unternehmen die sich offenbar ohne Sachverstand zum Komplizen ökologischer Dummheiten machen, tun weder sich noch der Umwelt einen Gefallen. Als unternehmerische Leitlinie in Sachen Ökologie raten wir daher dringend zu folgender Formel: Optimismus statt Opportunismus





332

Nachwort



Vor allem muß Farbe dran. Obendrauf stelle ich Pflanzen. Und Wasser muß sprudeln.
Henry van der Most Käufer des schnellen Brüter von Kalkar



Warum haben wir dieses Buch jetzt erst geschrieben und nicht vor zehn Jahren? Zunächst einmal werden die meisten Menschen mit der Zeit klüger. Und dies liegt daran, daß ihnen die Zeit Gelegenheit gibt, die Richtigkeit ihrer Annahmen zu überprüfen. Und bei dieser Überprüfung kam heraus, daß sich viele ökologische Glaubenssätze und Untergangs-Szenarien der letzten Dekaden schlicht als falsch oder übertrieben erwiesen haben. Wir haben Dinge miteinander verbunden, die wir seit einiger Zeit wußten oder ahnten. Plötzlich ergab sich daraus ein neues Bild. Wir glauben, daß der richtige Zeitpunkt für dieses Buch gekommen ist.

Und wir glauben, daß sich einige Dinge ändern sollten. So müssen Journalisten wieder das Fragen lernen. Statt ökologische Standardfloskeln aufzubrühen, empfiehlt sich die Überprüfung: " Stimmt das überhaupt?" Katastrophenmache, Oberflächlichkeit, Langeweile und Frust in der Umweltberichterstattung resultieren ja auch aus dem Gefühl: Es ist alles gesagt und wir wissen bereits alles. Dem möchten wir entgegenhalten: Es ist keineswegs alles gesagt und wir wissen ungeheuer wenig. " Reculer pour mieux sauter" (zurücktreten um besser springen zu können) heißt eine französische Redewendung. Nehmen wir sie uns zum Vorbild für unsere Arbeit: Treten wir ein wenig aus der Kampflinie zurück und entwickeln eine neue Kultur der Nach-

333

denklichkeit. Werden wir ein bißchen bescheidener, neugieriger, fairer. Die Arbeit macht daraufhin auch wieder mehr Spaß, denn das Thema wird spannender.

Die interessantesten Geschichten und Zukunftsperspektiven verbergen sich nicht hinter dem, was wir wissen, sondern hinter dem, was wir nicht wissen. Wir wissen, daß alles Leben auf der Erde erst durch die Photosynthese ermöglicht wird: Wir wissen aber (noch) nicht, wie wir uns diesen Prozeß als unerschöpfliche Energiequelle nutzbar machen könnten. Wir wissen, daß unsere Zellen sich in unserem Organismus zu einem höheren System zusammenfinden. Wir wissen aber nicht, ob wir nicht selbst auch Teil eines höher organisierten Niveaus sind. Wir wissen, daß es ein menschliches Bewußtsein gibt, wir haben aber keinen blassen Schimmer davon, wie unser Gehirn dies zu Wege bringt. Wohin wird die Evolution unseres Bewußtseins uns rühren? Konrad Lorenz sagte einmal: " Der Übergang vom Affen zum Menschen – das sind wir." Überraschungen lauern allenthalben. Isaac Newton schrieb: " Ich komme mir vor, wie ein kleiner Junge, der am Strand spielt und sich damit vergnügt, dann und wann einen ungewöhnlich glatten Kieselstein oder eine hübsche Muschel zu finden, während der große Ozean der Wahrheit gänzlich unentdeckt vor mir liegt."

Auch der Umweltbewegung könnte ein wenig mehr Neugier nicht schaden. Anstatt alle intellektuelle Energie auf die Absicherung des einmal gefaßten Weltbildes zu konzentrieren, sollten die Schleusen geöffnet werden für den Zustrom neuen Wissens. Dazu gehört Souveränität und Selbstbewußtsein. Umweltschützer müssen lernen, sich auch einmal ohne wenn und aber zu freuen. Aus dem schnellen Brüter in Kalkar macht der Holländer Henry van der Most einen Vergnügungspark. In den Kühlturm kommt ein Schwimmbad (!). Die Idee vom " Kernwasser-Wunderland Kalkar" wäre vor zehn Jahren allenfalls im rheinischen Karneval durchgegangen. Inzwischen freut sich das Volk tatsächlich auf die große Wasserrutsche. Aber diejenigen, die den Erfolg errungen haben, üben sich im Relativieren, indem sie auf die vielen anderen ungelösten Probleme hinweisen.

Die Amerikaner sprechen gerne vom " Moment of Glory" . Wann darf ein Maler feiern? Wenn er sein Gemälde fertiggestellt hat? Wenn er es verkauft hat? Wenn es im Museum of Modern Art ausgestellt wird? Oder wenn er 200 Jahre tot ist und die Nachwelt ihn zum bedeutenden Ver-

334

treter seiner Epoche kürt? Auch die Umweltbewegung scheint die Stunde des Erfolgs auf den Sankt Nimmerleinstag datieren zu wollen. Sie bringt sich masochistisch um das Erfolgserlebnis. Umweltschützer müssen lernen, den Weg als das Ziel zu begreifen. Das Etappenziel, der Zeitpunkt der Belohnung, muß an erreichbaren Zielen orientiert werden. Nur wer den " Moment of Glory" bewußt selbst setzt, entgeht dem großen Frust.

Den Tag an dem alles getan sein wird kann es nicht geben. " Der Traum vom Weltwochenende" , wie es der Philosoph Peter Sloterdijk formuliert, wird unerfüllt bleiben. Die Menschheit wird sich durchwursteln, immer und immer wieder. Romane und Theaterstücke haben Anfang und Ende, die Geschichte kennt keinen Schlußpunkt. " Ich glaube, daß die Vision vom Ende ausgedient hat" , sagt er belgische Chemie-Nobelpreisträger und Wissenschaftsphilosoph Ilya Prigogine, " Wir müssen uns von dieser naiven Sicht befreien. Wenn überhaupt, dann befinden wir uns eher am Anfang als am Ende der Geschichte." Alle Zeiten sind Übergangszeiten, auch die unsere.


############
gruß
proxi  

   Antwort einfügen - nach oben