Die Deutsche Evangelische Kirche (DEK) und die Römisch-katholische Kirche waren im damaligen Deutschen Reich die einzigen nicht völlig gleichgeschalteten Großorganisationen. Doch keiner ihrer Vertreter protestierte öffentlich dagegen, dass hier der Staat Menschen nur aufgrund ihrer angeblichen „Rasse“ tötete, enteignete und rigoros aus der Gesellschaft ausgrenzte.
In vorauseilendem Gehorsam hatte DEK-Bischof Otto Dibelius die „nationale Revolution“ im Januar 1933 begeistert begrüßt und den Verdacht einer möglichen kirchlichen Systemopposition bei der Regierung möglichst zu zerstreuen versucht. Schon den Geschäftsboykott des 1. April 1933 hatte er als „notwendige Selbstverteidigung“ gegen den angeblich übergroßen Einfluss des Judentums verteidigt. Er mahnte damals eine „humane“ Ausgrenzung der Juden an, schwieg dann aber zu sämtlichen Gewalttaten und judenfeindlichen Gesetzen der Folgezeit.
Der Oberkirchenrat der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs erklärte am 16. November 1938 mit Bezug auf ein Lutherzitat:[62]
„Kein im christlichen Glauben stehender Deutscher kann, ohne der guten und sauberen Sache des Freiheitskampfes der deutschen Nation gegen den jüdischen antichristlichen Weltbolschewismus untreu zu werden, die staatlichen Maßnahmen gegen die Juden im Reich, insbesonder die Einziehung jüdischer Vermögenswerte bejammern. Und den maßgebenden Vertretern von Kirche und Christentum im Auslande müssen wir ernstlich zu bedenken geben, daß der Weg zur jüdischen Weltherrschaft stets über grauenvolle Leichenfelder führt.“
Er rief die Geistlichen dazu auf, „ihre Verkündigung in Predigt und Seelsorge so auszurichten, daß die deutsche Seele keinen Schaden leidet und den deutschen Menschen dazu verholfen wird, daß sie ohne falsche Gewissensbeschwerung getrost alles daran setzen, eine Wiederholung der Zersetzung des Reiches durch den jüdischen Ungeist von innen her für alle Zeiten unmöglich zu machen.“ Der evangelische Landesbischof von Thüringen, Martin Sasse sah in den Pogromen eine Erfüllung von Martin Luthers Forderungen von 1543:
„Am 10. November 1938, an Luthers Geburtstag, brennen in Deutschland die Synagogen. Vom deutschen Volk wird […] die Macht der Juden auf wirtschaftlichem Gebiet im neuen Deutschland endgültig gebrochen und damit der gottgesegnete Kampf des Führers zu völligen Befreiung unseres Volkes gekrönt. In dieser Stunde muss die Stimme des Mannes gehört werden, der als der Deutschen Prophet im 16. Jahrhundert einst als Freund der Juden begann, der getrieben von seinem Gewissen, getrieben von den Erfahrungen und der Wirklichkeit, der größte Antisemit seiner Zeit geworden ist, der Warner seines Volkes wider die Juden.[63]“
Nur einzelne Christen protestierten öffentlich gegen die systematische Verletzung der Menschenrechte. Der württembergische Dorfpfarrer Julius von Jan aus Oberlenningen predigte am Buß- und Bettag (16. November 1938) über den vorgegebenen Bibeltext Jer 22,29 LUT:[64]
„Die Leidenschaften sind entfesselt, die Gebote missachtet, Gotteshäuser, die andern heilig waren, sind ungestraft niedergebrannt worden, das Eigentum der Fremden geraubt oder zerstört. Männer, die unserem deutschen Volk treu gedient haben […], wurden ins KZ geworfen, bloß weil sie einer anderen Rasse angehörten! Mag das Unrecht auch von oben nicht zugegeben werden – das gesunde Volksempfinden fühlt es deutlich, auch wo man darüber nicht zu sprechen wagt. Und wir als Christen sehen, wie dieses Unrecht unser Volk vor Gott belastet und seine Strafen über Deutschland herbeiziehen muss. […] Gott lässt seiner nicht spotten. Was der Mensch säet, wird er auch ernten!“
Einige Tage danach ließ die NSDAP-Kreisleitung Nürtingen SA und SS aus dem dortigen Parteikreis mit Lastwagen und Omnibus zu dem „Judenknecht“ nach Oberlenningen transportieren, die van Jan vor seinem Pfarrhaus fast totprügelten und dann in „Schutzhaft“ nahmen.[65] Bischof Theophil Wurm leistete ihm in den folgenden Prozessen wegen „staatsfeindlicher Hetze“ Rechtsbeistand, schrieb aber zugleich an den Reichsjustizminister:[66]
„Ich bestreite mit keinem Wort das Recht, das Judentum als ein gefährliches Element zu bekämpfen. […] Weil wir unserem Volk ersparen möchten, dass es später dieselben Leiden und Demütigungen über sich ergehen lassen muss, denen jetzt andere preisgegeben sind, erheben wir […] warnend unsere Hände, auch wenn wir wissen, dass man uns deshalb Judenknechte schilt und mit ähnlichem Vorgehen bedroht, wie es gegen die Juden angewandt worden ist.“
Wurm vermied also, das staatliche Vorgehen „Unrecht“ zu nennen und trat nur für die Christen, nicht die Juden unter den Deutschen ein. Nach Kriegsende erklärte er: Er werde wohl bis an sein Lebensende nicht damit fertig werden, dass er damals geschwiegen habe.[67] Dagegen ergriff Pfarrer Helmut Gollwitzer als Vertreter des im KZ sitzenden Martin Niemöller in Berlin-Dahlem in seiner Predigt am 16. November über Lk 3,3–14 LUT Partei für die Wehrlosen und erreichte, dass seine Gemeinde die Familienangehörigen von inhaftierten Juden materiell unterstützte. Christen wie Pfarrer Albert Schmidt, der für seinen nach Sachsenhausen deportierten Kollegen jüdischer Herkunft Hans Ehrenberg gebetet hatte, kamen für ihre Solidarität selbst in das KZ. In Freiburg im Breisgau bildete sich aufgrund der Pogrome der Freiburger Kreis mit mehreren Arbeitsgruppen und Kontakten zu Widerstandskämpfern gegen den Nationalsozialismus. Einige seiner Mitglieder verfassten eine Denkschrift, die die im christlichen Glaubensbekenntnis gesetzten Grenzen staatlicher Gewaltausübung benannte, aus dem Ersten Gebot ein Widerstandsrecht ableitete und Wirtschaftsstrukturen eines demokratischen Nachkriegsdeutschlands konzipierte.[68]
Das Schweigen der allermeisten evangelischen Pfarrer erklärt Kirchenhistoriker Günter Brakelmann mit ihrer deutschnationalen und antijudaistischen Einstellung, aus der heraus sie den autoritären Führerstaat, seine Innenpolitik und den Antisemitismus der NSDAP seit 1933 grundsätzlich bejaht hatten. 1938 hätten sie nicht mehr gewagt, zu protestieren, um ihre verbliebenen Handlungsspielräume nicht zu gefährden.[69]
Auch die deutschen katholischen Bischöfe schwiegen zur staatlichen Judenverfolgung. Kardinal Adolf Bertram hatte Protest gegen den Judenboykott im März 1933 als einen „in kirchlicher Hinsicht nicht nahestehenden Interessenkreis“ abgelehnt. Kardinal Michael Faulhaber vertrat die traditionelle antijudaistische Theologie und erklärte 1933: Die Juden könnten sich selbst helfen und Eintreten für sie würde die Kirche gefährden.[70] Er stellte aber 1938 auf Bitte des Rabbiners in München einen Lastwagen zur Rettung von Torahrollen und anderen sakralen Gegenständen zur Verfügung und wurde deswegen von NSDAP-Vertretern angegriffen.[71] Clemens August Graf von Galen bot dem Rabbiner in Münster am 9. November über Mittelsmänner Hilfe an, unterließ aber einen Protest, weil er umso stärkere Verfolgung der jüdischen Gemeinde vor Ort befürchtete.[72] Auch er war vom Antijudaismus geprägt, widersprach jedoch dem staatlichen Antisemitismus.[73]
Dompropst Bernhard Lichtenberg in Berlin war der einzige deutsche katholische Priester, der öffentlich gegen die Reichspogromnacht protestierte. Er predigte am 9. November:
„… was heute geschehen ist, haben wir erlebt: Draußen brennt die Synagoge. Das ist auch ein Gotteshaus!“
Er setzte seine Fürbitten für die Juden und („nichtarische“) Judenchristen von da an täglich bis zu seiner Verhaftung am 23. Oktober 1941 fort.[74]
gruss weltumradler
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