Mutterschutz für Inge Meysel


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Neuester Beitrag: 23.02.03 22:58
Eröffnet am:23.02.03 22:22von: NassieAnzahl Beiträge:2
Neuester Beitrag:23.02.03 22:58von: brudiniLeser gesamt:469
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16074 Postings, 8201 Tage NassieMutterschutz für Inge Meysel

 
  
    #1
23.02.03 22:22

Ortstermin: Eine harte Woche in Bullenhausen, der Heimat von Schauspielerin Inge Meysel - erst der Irre, dann die Presse

Es ist eine schwache Stimme, die aus der Gegensprechanlage tröpfelt: "Hallo? ..." Niemand hat auf die Klingeltaste gedrückt. Dennoch fragt es wieder: "Hallo? ... Hallo?"
Das Haus steht weit entfernt von der Mauer mit der Sprechanlage, unter zwei Kiefern, und es ist so schmal, dass man hindurchsehen kann: die Masten der Elbkähne, ein Zug Blesshühner.

Neben der Anlage ist eine Kachel in die erstaunlich dicke Mauer eingelassen, ein blaues Kätzchen. Die Mauer ist als Flutschutz gebaut. Sie soll das Hochwasser der Elbe abhalten. Jetzt liegen hier platt getretene Kippen herum. Die Flut kam von der anderen Seite.

"Alle kamen. Mit Kameras und Teleobjektiven, und alle wollten zeigen, wie heruntergekommen und vereinsamt Frau Meysel angeblich ist, die Mutter der Nation", sagt Werner Biesterfeld, der Nachbar. Neben ihm steht Peter Knuth im Donegal-Tweed-Anzug, "Helfer, Bodyguard, Unterhalter von Frau Meysel" - so wird er vorgestellt. Zusammenfassend sagt Biesterfeld: "Auf unsrer beider Schultern ruht der Schutzschild, um zu verhindern, dass dieser Irre wiederkommt."

Es war eine harte Woche in Bullenhausen. Erst der Irre, dann die Presse. Inzwischen hat Biesterfeld sich Merkzettel zurechtgelegt. Er verlangsamt automatisch das Sprechtempo bei wichtigen Sätzen: "Wir leben hier mit offenen Türen", sagt Biesterfeld und zeigt auf ein geöffnetes Gartentor, das zu dem Nachbarhaus, der Nummer 13, führt. Jeden Tag besuche er Frau Meysel. Und plötzlich saß da dieser Typ am Küchentisch und sagte: "Mein Name ist Johnny D." - "Wie? Dee? Mit zwei E?" - "Nein, nur Johnny D Punkt. Mein Künstlername." Außerdem, so sagte D., habe er eine ganz starke Aura um sich rum und werde Frau Meysel zu einem glücklichen Leben verhelfen. "Nicht wahr, Inge?", habe der Typ noch gesagt. Und Inge Meysel habe genickt.

Sie sei zwar die "Fernsehmutter der Nation", sagt Biesterfeld: "Aber sie ist eben jetzt auch Großmutter und, ich sag mal, 'n büschen tüdelig." Wenn auch sonst topfit. Mit seinen Silberhaaren erinnert Biesterfeld ein wenig an Loriot in einer seiner Verkleidungen. Er habe als Lkw-Fahrer angefangen, dann in Büromöbeln gemacht und, "nach 40 Jahren Sparen", das Haus neben Inge Meysel gekauft. Biesterfeld rief Peter Knuth an: "Wie kriegen wir den Scharlatan wieder raus?"

Johnny D. hatte inzwischen im Gästezimmer seinen DVD-Spieler, "Schöner Wohnen"-Hefte und eine Kiste mit Kinderspielzeug ausgebreitet. Auf Inge Meysels Sofa saß eine Frau aus Barmbek, die Johnny als "seine heilige Vera" vorstellte.

"Aber er ist doch so nett in der Unterhaltung", habe Frau Meysel gesagt und ihm den Schlüssel gegeben. "So'n armer Kerl, der hat doch kein Zuhause."

Das Telefon klingelt. Biesterfeld springt auf und erklärt einem Journalisten, dass alle Meldungen, wonach Frau Meysel hinfällig sei, von einer übel wollenden Altenpflegerin in die Welt gesetzt seien.

Biesterfeld lässt sich wieder in den Sessel fallen: "In Hamburg gibt's jede Menge Irrer."

Dann hätten da diese Flaschen herumgestanden - "Aqua Luna Quelle. Vollmondabfüllung". Es ist das Wunderwasser, das Deutschlands populärster Schauspielerin im Alter von 92 Jahren zu Glück und Gesundheit verhelfen sollte. Knuth hat eine Flasche gesichert, auf einem Aufkleber steht: "Überreicht von Johnny D.". Heute Mittag wird er sie ins Polizeilabor bringen.

"Inge, wir wollen in ein großes Heim gehen, weißt du doch", habe Johnny D. noch gesagt. Biesterfeld rief erst den Schlüsseldienst, dann die Polizei.

Im Panoramafenster von Biesterfelds Haus sieht man die Elbe und Inge Meysels weißen Bungalow. Da sitze sie jetzt, lese im "Hamburger Abendblatt" und trinke Kaffee - selbst gekocht. Manchmal, sagt Knuth, mache sie sich über sich selbst lustig, sage, sie habe bisweilen nicht alle Tassen im Schrank. So seien alte Menschen. Die Wirklichkeit wird vorgefiltert, manchmal verklumpt sie sich, manchmal löst sie sich wieder auf.

Immerhin, unterbricht ihn Biesterfeld, gehe Frau Meysel allein einkaufen, wasche sich allein und lege jeden Morgen neben den Herd, was sie sich kochen wolle. Biesterfeld schaut ein letztes Mal auf seine Merkzettel und sagt langsam: "Die Bereitschaft von Frau Meysel, jemanden an sich ranzulassen, ist durch diesen Vorfall gewachsen." Damit will er sagen: Sobald Inge Meysels Adoptivtochter angereist ist, wird eine Stundenhilfe eingestellt.

So ist alles noch einmal gut gegangen. "Frau Meysel konnten wir noch schützen. Aber glauben Sie mir", sagt Biesterfeld, "so etwas wie mit Johnny D. findet täglich tausendfach statt: Alte und Einsame werden von Drückern und Wunderheilern überrumpelt - ohne jede Presse."

Peter Knuth überklebt die Klingeltaste an der Flutschutzmauer mit blauem Band. Im Haus unter den zwei Kiefern ist niemand zu sehen und zu sprechen. Aber irgendwo da drinnen sitzt sie, liest ihre Zeitung, schaut auf die Blesshühner und Elbkähne, und manchmal, wenn sie glaubt, es habe geklingelt, ruft sie ein schwaches "Hallo? ... Hallo? ... Hallo?" in die Welt hinaus.

 

2709 Postings, 8473 Tage brudiniWas soll denn Mutterschutz?

 
  
    #2
23.02.03 22:58

Wer schützt uns denn vor unseren Müttern?
 

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