Siebert: "Ich sehe keine Rezessionsgefahren"


Seite 1 von 1
Neuester Beitrag: 19.07.01 18:33
Eröffnet am:19.07.01 18:33von: indexAnzahl Beiträge:1
Neuester Beitrag:19.07.01 18:33von: indexLeser gesamt:452
Forum:Börse Leser heute:2
Bewertet mit:
1


 

1125 Postings, 8769 Tage indexSiebert: "Ich sehe keine Rezessionsgefahren"

 
  
    #1
1
19.07.01 18:33
"Ich sehe keine Rezessionsgefahren"

Das Wachstum in Europa und Amerika wird schwächer, bricht aber nicht ab; die Krisen in Argentinien und der Türkei sind kontrollierbar - die Regierungschefs sollten Versuchungen widerstehen, gemeinsam die Konjunktur zu steuern: Ein ZEIT-Gespräch mit dem Ökonomen Horst Siebert

Von Thomas Fischermann und Wilfried Herz (Gesprächsführung)



DIE ZEIT: Der Weltwirtschaftsgipfel in Genua steht im Zeichen der Wirtschaftsflaute. Was können die wichtigsten Wirtschaftsnationen der Welt tun, um eine globale Rezession abzuwenden?

Horst Siebert: Nicht viel. Die Staats- und Regierungschefs der G-8 können auf dem Gipfel nur langfristige Aufgaben angehen, etwa das Regelwerk für die Weltwirtschaft weiterentwickeln. Aktive Konjunkturpolitik kann nicht das Thema sein.

ZEIT: Wenn es auf der ganzen Welt bergab geht, gibt es keinen akuten Handlungsbedarf?

Siebert: Ich sehe in Genua höchstens die Möglichkeit zu einer atmosphärischen Koordination. Es ist die Aufgabe der einzelnen Länder, bei sich zu Hause für monetäre Stabilität und solide öffentliche Finanzen zu sorgen. Dann hat man auch Stabilität im System insgesamt. Schwierig wird es, wenn ein Land von diesem Bemühen abweicht und mit seiner Instabilität das ganze System gefährdet.

ZEIT: Zumindest darüber kann man sprechen ...

Siebert: Solche Gespräche können auch Schlechtes bewirken. In Japan gab es in den achtziger Jahren eine starke Geldmengen-Expansion. Sie trieb die Bodenpreise und Aktien in die Höhe, bis die Blase platzte. Das ist die Ursache, dass es den Japanern heute noch so schlecht geht. Dabei hatte Japan die monetäre Expansion nach internationalen Koordinationsgesprächen vorgenommen, auf Druck der Vereinigten Staaten und angeregt durch so renommierte Ökonomen wie Fred Bergsten und Paul Krugman. Japan sollte die Weltkonjunktur-Lokomotive spielen. Die Deutschen sollten damals Ähnliches tun, haben aber nicht nachgegeben. Sonst würden wir jetzt vielleicht in einer ähnlich schwierigen Lage stecken.

ZEIT: Die Wirtschaftsflaute ist also nicht mehr aufzuhalten, weil es kein Gegenmittel gibt.

Siebert: Wir haben eine deutliche Abkühlung in den USA und eine nahezu dauerhafte Stagnation in Japan. Wenn zwei Volkswirtschaften lahmen, die zusammen 44 Prozent der Weltproduktion erzeugen, leiden darunter auch alle anderen.

ZEIT: Müssen wir in Europa mit einer ausgewachsenen Rezession rechnen?

Siebert: Nein, ich sehe langsameres Wachstum voraus, aber keine Rezessionsgefahren. Nach meiner Einschätzung wird die deutsche Wirtschaft im nächsten Jahr wieder um 2,2 Prozent wachsen. Das ist nicht fulminant, aber keine Rezession.

ZEIT: Kann die Konjunktur angesichts der erheblichen Risiken nicht doch noch abschmieren?

Siebert: Es bleiben Risiken. Die nächsten vier bis fünf Monate geben den Ausschlag. Bildet sich der augenblickliche Preisbuckel in Euroland und auch in Deutschland wieder zurück? Wie verhalten sich die Ölpreise, wie fällt die nächste Lohnrunde aus? Fängt sich die Lage in den USA?

ZEIT: Gerade in den USA aber hat die Rezession bereits begonnen oder steht unmittelbar bevor, wenn man dem amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler Milton Friedman glaubt.

Siebert: Ich sehe das anders. Die US-amerikanische Wirtschaft ist im ersten Quartal noch gewachsen. Wenn es eine Rezession geben soll, müsste in den nächsten zwei Quartalen ein gewaltiger Einbruch kommen.

ZEIT: Müssten wir eigentlich nicht längst über eine Weltkonjunktur reden, statt immer noch nationale Ökonomien, nationale Konjunkturen und nationale Stabilitätspolitik zu betrachten?

Siebert: Sicher, die globale Vernetzung nimmt zu, sodass man in der Tat auch von Konjunkturproblemen in der Welt sprechen muss. Die Konjunkturen der Länder laufen aber nicht immer synchron. In manchen Phasen - wie zurzeit - tun sie das, in anderen nicht. Es gibt noch keine homogene Weltkonjunktur.

ZEIT: Aber es gibt immer mehr Ansteckungsgefahren. Ein Krisenherd kann über die globalisierten Finanzmärkte die anderen Volkswirtschaften anstecken, wie es die Asienkrise ab 1997 gezeigt hat. Sie hat damals Europa, die USA und Japan in Mitleidenschaft gezogen. Jetzt stecken Argentinien und die Türkei in großen Schwierigkeiten.

Siebert: Finanz- und Währungskrisen wird es immer geben - wobei ich glaube, dass die Gefahren in Argentinien und der Türkei in den Griff zu bekommen sind. Man hat ja nun einige Erfahrungen im Krisenmanagement gesammelt. Trotzdem muss noch viel getan werden, um Krisen so weit wie möglich zu vermeiden. Doch auch hier liegen die meisten Aufgaben in den Ländern selbst.

ZEIT: Welche Aufgaben?

Siebert: Zunächst muss das Drucken von Geld durch die Notenbanken zur Finanzierung von Staaten aufhören. Die Notenbanken müssen unabhängig sein, und sie müssen sich einen stabilen Geldwert zum Ziel setzen. Die Haushaltspolitik muss solide sein. Man muss auch immer mit Bankenkrisen rechnen, die als Folge von Missmanagement auftreten können. Dagegen braucht man Sicherheitsnetze in den einzelnen Ländern.

ZEIT: Wie notwendig ist dabei dennoch eine internationale Abstimmung?

Siebert: Internationale Regeln - Stichworte Basel I und Basel II, mit denen die Eigenkapitalvorschriften für die Kreditvergabe der Banken verschärft werden - können den Staaten bei ihrer Politik sehr weitgehend helfen. Wenn sie überall angewendet werden, ist bereits viel für die Stabilität getan. Man braucht auch Organisationen wie den Internationalen Währungsfonds (IWF) als Feuerwehr. Der IWF muss jedoch lernen, sein Frühwarnsystem zu verbessern und Krisen im Keim zu ersticken.

ZEIT: Es gibt ja ein Land in Südostasien - Malaysia -, das den IWF links liegen ließ und sich entgegen den Lehren der meisten liberalen Ökonomen vom gloablen Kapitalmarkt abgeschottet hat. Die Wirtschaft hat sich dort auch erholt.

Siebert: Man muss erst mal abwarten, wie es Malaysia mit dieser Politik langfristig ergeht. Wenn sich einzelne Länder von der Kapitalzufuhr abschotten, verzichten sie ja auch auf Wachstumschancen. Richtig ist, dass für Schwellenländer Direktinvestitionen und langfristige Anlagen interessanter sind als kurzfristige Kredite, die auch schnell wieder abgezogen werden können. Aus der Asienkrise haben wir gelernt, dass ein Land erst dann seinen Kapitalmarkt öffnen sollte, wenn der Bankensektor ausreichend darauf vorbereitet ist.

ZEIT: Für eine Übergangszeit könnten Schwellenländer - etwa wie Chile in den neunziger Jahren - die kurzfristigen Finanzströme beschränken?

Siebert: Dieses Modell musste ja abgebrochen werden, weil Chile insgesamt nicht mehr genug Kapital anziehen konnte.

ZEIT: Aber wie soll ein Land denn sonst Ihrer Empfehlung folgen und sich auf die erwünschten Direktinvestitionen konzentrieren, wenn nicht durch Kapitalverkehrskontrollen?

Siebert: Es muss sich für ausländisches Kapital attraktiver machen. Die erste Aufgabe muss sein, Strukturen zu schaffen, damit solche Kontrollen gar nicht erst nötig sind.

ZEIT: Trotz aller Vorteile - die freien Kapitalmärkte haben in den letzten Jahren viel Instabilität verursacht, vor allem in den Schwellenländern. Die Krisen haben von Land zu Land übergegriffen, auch wenn diese Länder wirtschaftlich kaum miteinander zu tun hatten.

Siebert: Der klassische Mechanismus verläuft immer noch über den Handel. Von den Schwierigkeiten in Brasilien sind zum Beispiel die Argentinier betroffen, weil sie weniger in das Nachbarland liefern können. In vielen Fällen läuft eine Ansteckung über psychologische Effekte und Bilanzzusammenhänge. Wenn irgendwo auf der Welt ein Problem ausbricht, schauen sich die Anleger noch einmal um: Liegen in anderen Ländern vielleicht ähnliche Risiken vor? Und wenn ein Fondsmanager merkt, dass seine Anlagen in einem Land riskanter werden, steigt er oft in anderen, ähnlichen Ländern aus.

ZEIT: Handel, Psychologie, Bilanzen, Portfolios - die nationalen Konjunkturen wachsen an vielen Stellen zusammen.

Siebert: Deswegen strahlt ja auch die Abkühlung in den USA auf Deutschland aus. Verblüffenderweise läuft das im Augenblick gar nicht über die Gütermärkte: Die deutschen Exporte in die USA haben in den ersten vier Monaten dieses Jahres sogar zugelegt, was vermutlich durch Auftragspolster und den schwachen Euro zu erklären ist. Doch es gibt einen psychologischen Zusammenhang: Man sieht, dass das Konjunkturvertrauen in den USA kräftig eingebrochen ist, und das führte sogleich zu einer Verunsicherung bei uns. Hinzu kommen viele Verbindungen über multinational operierende Unternehmen. Wegen der Flaute und der Gewinneinbrüche in den USA schalten sie bei Investionen einen Gang herunter, auch bei uns.

ZEIT: Wenn psychologische Effekte wichtiger werden, gewinnen Prognostiker wie Sie an Einfluss. Und in jüngster Zeit überholt eine ungünstige Prognose die nächste. Die Börsen-Zeitung lästerte: "Zu jedem Frühstück ein neues Prognose-Ei".

Siebert: Wir bemühen uns um eine realistische Einschätzung, neue Monatsdaten können wir nicht ignorieren. Die Vorwürfe der Politiker sind ungerechtfertigt. Im Prinzip liegen die Prognosen doch alle in einem ähnlichen Bereich.

Horst Siebert leitet das Kieler Institut für Weltwirtschaft und sitzt als Wirtschaftsweiser im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Der "leidenschaftliche Verfechter der Marktwirtschaft" greift regelmäßig in wirtschaftspolitische Debatten ein, mahnt Strukturreformen und Lohnzurückhaltung an. Nur über das Modethema "Konjunkturflaute" kann er sich nicht aufregen: Siebert gibt Entwarnung



(c) DIE ZEIT   30/2001      

Optionen

   Antwort einfügen - nach oben