Sie hat ja wie eine Deutsche gelebt


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19.02.05 16:22
SPIEGEL ONLINE - 19. Februar 2005, 08:56
URL: 
http://www.spiegel.de/panorama/0,1518,342484,00.html

Mord an junger Türkin
 
"Sie hat ja wie eine Deutsche gelebt"

Von Florian Peil und Sonja Ernst

Eine Türkin, die sich von ihrer Familie losgesagt hatte, wurde in Berlin auf offener Straße erschossen. Die Ermittler befürchten einen so genannten Ehrenmord. An einer Schule fand das Verbrechen bei einigen muslimischen Schülern Beifall. Die Diskussion um gefährliche Parallelgesellschaften bekommt neue Nahrung.

Opfer Sürücü: Wegen ihres Lebenstils von den Brüdern getötet?
GroßbildansichtPolizei BerlinOpfer Sürücü: Wegen ihres Lebenstils von den Brüdern getötet?
Berlin - Die Schüsse fallen am Abend des 7. Februar an einer einsamen Bushaltestelle in Berlin-Tempelhof. Ein Telefonanruf hat Hatin Sürücü aus dem Haus gelockt. Auf der Straße wird die 23-Jährige von mehreren Kugeln aus nächster Nähe so schwer getroffen, dass sie noch am Tatort stirbt. Bald darauf werden drei ihrer Brüder verhaftet - sie sollen das Mädchen schon seit längerem bedroht haben.

Die junge Deutsche türkisch-kurdischer Herkunft galt für ihre streng konservative Familie als Verstoßene. Denn Hatin Sürücü hatte sich von ihrer Familie abgewendet und ein neues Leben begonnen - um endlich nach ihren eigenen Regeln leben zu können. In Berlin aufgewachsen, heiratete sie mit 16 Jahren ihren Cousin in Istanbul. Die Hochzeit war von den Eltern arrangiert worden. Durch die konservativen Familientraditionen fühlte sich Hatin Sürücü jedoch bald eingeengt: Sie ließ sich scheiden und kehrte mit ihrem kleinen Sohn nach Berlin zurück.

Hier wohnte sie in einem Mutter-Kind-Heim, machte ihren Schulabschluss und begann eine Ausbildung als Elektroinstallateurin. Sie galt als lebenslustig und ging gern aus. Das Kopftuch hatte sie abgelegt. War das ihr Todesurteil?

Sollte sich der Verdacht der Ermittler auf einen so genannten Ehrenmord bestätigen - der Fall von Hatin Sürücü wäre nicht der erste in Deutschland, wohl aber einer der brutalsten in jüngster Zeit. Nach einer kürzlich veröffentlichten Studie von Papatya, einer Berliner Kriseneinrichtung für junge Migrantinnen, sind zwischen 1996 und 2004 insgesamt 45 Männer und Frauen "im Namen der Ehre" ermordet worden.

Patriarchalische Muster

"Traditionelle Familien wollen nicht, dass ihre Kinder deutsch werden", sagt die türkische Autorin Necla Kelek. In ihrem Buch "Die fremde Braut" beschreibt sie das Leben türkischer Frauen, die keine Rechte kennen. "Die Eltern fürchten, dass ihre Kinder zu Individualisten werden - denn dann würden sie ihre Macht über sie verlieren." Ähnlich argumentiert Myria Böhmecke von der Frauenorganisation Terre Des Femmes. "Ehrverbrechen sind kein rein islamisches Phänomen, sondern spiegeln traditionell patriarchalische Muster", sagt die Leiterin der seit November laufenden Kampagne "Nein zu Verbrechen im Namen der Ehre", die das Thema enttabuisieren soll.

Für Ali Kizilkaya, den Vorsitzenden des Islamrates, eines der großen muslimischen Dachverbände in Deutschland, stellt die Ermordung Hatins "einen Missbrauch und eine Beleidigung der Religion" dar. Für solche "Ehrenmorde" gebe es keine religiöse Rechtfertigung.

'Schulleiter
GroßbildansichtSPIEGEL ONLINESchulleiter Volker Steffens: "Wir kehren nichts unter den Teppich"
Beifall fand die Ermordung von Hatin Sürücü an einer Schule in Berlin-Neukölln. Drei türkischstämmige Schüler der Thomas-Morus-Hauptschule, die ganz in der Nähe des Tatorts liegt, hatten den Mord im Unterricht gut geheißen: "Sie hat ja wie eine Deutsche gelebt", hatte einer von ihnen erklärt.

Schulleiter Volker Steffens war schockiert - und reagierte sofort: In einem offenen Brief an die Schüler, Eltern und Lehrer drohte er den Schülern für solche "Hetze und Respektlosigkeit" mit scharfen Konsequenzen. Als der Brief in die Medien gelangte, war die Schule plötzlich von Fernsehteams und Fotografen belagert.

"Wir wollen an unserer Schule nichts unter den Teppich kehren", sagte Steffens auf einer spontan organisierten Pressekonferenz. Die betreffenden Schüler seien aber keine "Meinungsführer" an der Schule. Klarheit über den Gehalt der Schüler-Aussagen soll ein Gespräch in der kommenden Woche bringen, an dem auch die Eltern teilnehmen.

Alles nur Spaß?

Unklar bleibt, ob die Bemerkungen der drei Achtklässler nur pubertäre Provokationen waren - oder weit verbreitetes Denken unter türkischen und arabischen Erwachsenen. Die Schüler jedenfalls können die ganze Aufregung und den Medienrummel nicht verstehen. "Der Rektor hat das alles viel zu Ernst genommen", sagt Schulsprecherin Damla Y. Vielleicht sei es ja nur ein Spaß gewesen: "Das sind doch kleine Kinder, die wollten nur den Lehrer nerven." Den Mord an Hatin Sürücü verurteilt die 18-jährige Türkin. Sie selbst lehnt ein Kopftuch ab und trägt ihr Haar offen: "Ich bin frei. Ich kann machen, was ich will."

Viele Schüler sind der Ansicht, dass ihr Rektor überreagiert habe. Vor den Kameras und Mikrofonen befürwortet keiner den Mord an Hatin Sürücü. "Das sind doch Sitten wie im Mittelalter", sagt Ebo A. aus dem Libanon. "Wer so etwas will, soll doch zurück in die Türkei gehen." Ohnehin trügen viele Mädchen nur deshalb Kopftücher, weil ihre Eltern das so wollten, so der 17-Jährige. "Die glauben aber nicht dran."

Auf dem Schulhof sind nur wenige Mädchen mit Kopftuch zu sehen. Doch wer im Sommer mit einem kurzen Rock zur Schule komme, erzählt Eve K., werde schon mal als "Schlampe" beschimpft - von Kopftuch tragenden Mädchen.
 

 

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