Paragrafen lauern überall


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Neuester Beitrag: 02.03.03 14:23
Eröffnet am:02.03.03 14:15von: NassieAnzahl Beiträge:2
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16074 Postings, 8204 Tage NassieParagrafen lauern überall

 
  
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02.03.03 14:15
Kündigungsschutz, Dienstbeginn und die Temperatur auf der Toilette – das Arbeitsrecht regelt alles. Rot-Grün verspricht nun den großen Befreiungsschlag bis zum Sommer. Kann er gelingen?

Von Elisabeth Niejahr und Kolja Rudzio

Wozu gibt es eine Probezeit?, dachte sich der Leiter der Citibank-Filiale und gab der Bewerberin trotz Zweifeln eine Chance. Heute, sieben Monate später, bereut der Mann seinen Entschluss. Die neue Kollegin bewährte sich nicht, muss aber weiterbeschäftigt werden. Trotz Kündigung in der Probezeit. Trotz eines Betriebsrates, der die Entlassung abnickte. © Zeichnung: Beck für DIE ZEIT

Der Citibank war ein Formfehler unterlaufen: In den Unterlagen für den Betriebsrat war nur von einer „fünfzehnjährigen Tochter“ die Rede, es fehlte aber die Angabe, dass das Mädchen unterhaltsberechtigt war. Die Unterhaltspflicht der Mutter hätte an der Kündigung zwar nichts ändern können. Aber die Formalie reichte dem Gericht für das Urteil: Kündigung unwirksam.

Das deutsche Arbeitsrecht sei „schwer kalkulierbar“, sagt Ulrich Jordan, Personalchef der Citibank Deutschland. Die Rechtsprechung sei „einseitig auf die Interessen der Arbeitnehmer ausgerichtet“. Jordan, der eine Zeit lang Europa-Personalchef war und deshalb das Arbeitsrecht der Nachbarländer gut kennt, findete vieles „nur noch absurd“. Dabei geht es gar nicht in erster Linie um den Kündigungsschutz, über den derzeit so laut gestritten wird. Willkür und Wirrwar und ein schwer überschaubares Regeldickicht überfordern selbst Spezialisten.

Genau hier will Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement jetzt ansetzen. Bis zur Sommerpause will er eine „große Arbeitsrechtsreform“ vorlegen, bis Mitte März die entsprechenden Eckpunkte erarbeiten lassen. Ein gigantisches Vorhaben, vergleichbar am ehesten mit der regelmäßig beschworenen und nie verwirklichten Vereinfachung des Steuersystems. Einige hoch umstrittene Gesetze fallen darunter – der gesetzliche Kündigungsschutz zum Beispiel und die betriebliche Mitbestimmung. Hinzu kommen Tausende Einzelbestimmungen, die von A wie Ausbildungsverordnung bis Z wie Zeitarbeitsgesetz reichen und die in deutschen Büros und Fabriken nur wenig dem Zufall überlassen.

Heute schreibt der Gesetzgeber vor, wann 17-jährige Hotel-Lehrlinge morgens ihren Dienst antreten dürfen (sechs Uhr), wie viele Papierkörbe in einem Betrieb stehen müssen (pro Raum einer) und welche Temperatur auf den Toiletten zu herrschen hat (21 Grad). Knapp 2200 Gesetze und 46800 Einzelvorschriften muss ein mittelständischer Unternehmer beachten, klagt die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) – ein großer Teil davon gehört zum weit verzweigten Arbeitsrecht.

Über sinnwidrige Gesetze klagen längst nicht nur die Arbeitgeber. So fordert die stellvertretende DGB-Vorsitzende Ursula Engelen-Kefer, endlich das Arbeitszeitgesetz auf den neuesten Stand zu bringen: „Da steht immer noch die 48-Stunden-Woche drin.“ Auch die Vorschriften zur Teilzeitarbeit gelten Gewerkschaftern als zu kompliziert. Und die grüne Arbeitsmarktexpertin Thea Dückert wundert sich über Vorschriften zur Berufsausbildung, „die so streng sind, dass fast die Hälfte der Betriebe in Deutschland nicht ausbilden darf“.

Zu den umfangreichen Gesetzen, Verordnungen und Richtlinien kommen noch Vorgaben aus Tarifverträgen und Einzelverträgen. „Manchmal widersprechen sich die Regelungen“, sagt Wolfgang Herges, Inhaber einer Stahlbaufirma im saarländischen Sankt Ingbert. „Als Unternehmer weiß ich gar nicht, wogegen ich tagtäglich verstoße.“

Die rot-grüne Regierung macht sich nicht ohne Grund daran, gerade jetzt das Regulierungsdickicht zu beschneiden. Am Mittwoch kommender Woche wird die Nürnberger Bundesanstalt einen erneuten Anstieg der Arbeitslosenzahlen auf rund 4,7 Millionen Menschen vermelden, eine schnelle Besserung ist – über die rein saisonalen Effekte hinaus – nicht in Sicht. Job-AQTIV-Gesetz, Hartz-Kommission, Mini-Jobs, Job-Rotation und Rechtsanspruch auf Teilzeit – viel haben die Arbeitsmarktinstrumente der rot-grünen Regierung bisher nicht bewirkt. Maximal 50000 Jobs erwarten Insider durch die ersten Maßnahmen der Hartz-Reform in diesem Jahr – und das sind optimistische Prognosen. Deshalb will der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung Mitte März weitreichende Sozialreformen ankündigen, deshalb will Clement das Arbeitsrecht entrümpeln.

Der schwierigste Teil von Clements Reformprojekt ist der Kündigungsschutz. Ironischerweise leidet dieser Teil des Arbeitsrechts nicht an zu viel, sondern an zu wenig gesetzlicher Regelung: Die Paragrafen, nach denen eine Kündigung rechtens ist, stecken voller „Generalklauseln“ und „unbestimmter Rechtsbegriffe“, wie Fachleute beklagen. Da der Gesetzgeber sich um klare Regeln drückt, haben längst die Arbeitsrichter das Sagen. Und die urteilen von Fall zu Fall, von Stadt zu Stadt unterschiedlich. Vorhersagen gelten als fast unmöglich, junge Juristen müssen Fachbücher mit Tausenden Einzelurteilen studieren. Da lässt sich dann nachlesen, was hierzulande schon einmal als Grund für eine fristlose Kündigung durchging: ein tätlicher Angriff auf den Vorgesetzten (1995), der Verkauf von Eigentum des Arbeitgebers in der Arbeitszeit (1999) oder die Beleidigung des Arbeitgeber-Ehegatten (1963).

Vor Überraschungen schützen solche Fallsammlungen aber nicht. „Ich dachte damals, wir hätten alles genau nach Lehrbuch gemacht“, erinnert sich Bernd Supe-Dienes, Inhaber einer Spezialfirma für industrielle Schneidtechnik in Overath bei Köln. Der Unternehmer, der im Studium selbst einmal Arbeitsrechtsvorlesungen besucht hat, ermahnte einen ständig betrunkenen Mitarbeiter immer wieder, machte ihm klar, dass er krank sei, und drängte ihn zur Entziehungskur. Erst als es danach immer noch nicht besser wurde, sprach er die Kündigung aus. Im Prinzip zu Recht, wie das Landesarbeitsgericht nach einem zwei Jahre dauernden Prozess feststellte. Aber: Da der Mann schon mehr als 20 Jahre bei den Dienes-Werken gearbeitet hatte, kamen die Richter bei der Abwägung der Interessen des Betriebes und des Arbeitnehmers zu dem Schluss, die Kündigung sei unangemessen. Supe-Dienes musste für zwei Jahre den Lohn nachzahlen und den Mann wieder einstellen. „So etwas macht man nur einmal“, sagt der Unternehmer. Seither zahlt er lieber Abfindungen, als einen Prozess zu riskieren.

Längst spotten Fachleute, Ehen seien leichter zu beenden als Arbeitsverhältnisse. Peter Schwerdtner, Professor für Arbeitsrecht in Bielefeld, spricht vom „Lotteriecharakter“ der Rechtsprechung, die kaum noch zu durchschauen sei. Mehr als 3000 Seiten umfasst inzwischen der größte Gesetzeskommentar zum Kündigungsschutz, er wiegt 2,2 Kilo – gedruckt auf Bibeldünndruckpapier, wie Schwerdtner betont. „Kein Arbeitgeber, kein Arbeitnehmer ist in der Lage, die oft fast chaotische Gemengelage von Gesetzesrecht, Richterrecht und vereinbartem Kollektivrecht noch zu überschauen“, schreibt der Jurist in seinem eigenen Kommentar.

Beim Kündigungsschutz kommt ein besonderes Problem hinzu: Weil der Arbeitgeber unter Umständen zur Nachzahlung des Lohns verurteilt werden kann, steigt das Prozessrisiko mit jedem Monat. Dabei geht es vor Gericht gar nicht um eine Wiedereinstellung. Eine „tiefe Verlogenheit“ sei typisch für die meisten Kündigungsprozesse, sagt Heide Pfarr, die Chefin der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. „Es ist die absolute Ausnahme, dass ein Arbeitnehmer nach einem Prozess wieder auf seinen Arbeitsplatz zurückkehrt, aber alle müssen so tun, als ob – um dann eine Abfindung auszuhandeln.“

Deshalb zielen die meisten Reformvorschläge darauf, langwierige Gerichtsprozesse unnötig zu machen: indem Kleinbetriebe mit bis zu 20 Beschäftigten (bisher bis zu fünf) ganz aus dem regulären Kündigungsschutz herausgenommen werden oder auch durch neue Abfindungsregeln. Im letztgenannten Punkt zeigen sich selbst Gewerkschafter wie ver.di-Chef Frank Bsirske gesprächsbereit. Doch die eigentlichen Streitfragen verbergen sich dahinter: Wie hoch soll eine Abfindung sein? Soll sie schon bei der Einstellung vereinbart werden – wenn der Arbeitnehmer in einer vergleichsweise schwachen Position ist? Oder sollen Gerichte in bestimmten Fällen das Arbeitsverhältnis lösen und fest geregelte Abfindungen beschließen? Je nachdem, wie das System ausgestaltet wird, könnte es sogar zu einer Mehrbelastung für die Unternehmen kommen: Schon warnt die Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände vor einer flächendeckenden Abfindungsregelung – denn bisher lassen sich viele Entlassungen noch ohne Entschädigung durchziehen. Die Abfindungsfrage ist zur Machtprobe zwischen dem Arbeitgeberlager und den Gewerkschaften geworden.

Die übrigen Punkte auf Clements Reformagenda sind politisch weniger sensibel, stecken aber ebenfalls voller Tücken. Denn nur ein kleiner Teil des allgemeinen Regulierungswirrwarrs ist so banal, dass man sich leicht über dessen Wegfall verständigen könnte – etwa Vorschriften über die Zahl der Stühle in Umkleideräumen oder die Verordnung, nach der Betriebe ab fünf Beschäftigten getrennte Toiletten für Kunden und Personal einzurichten haben. Bei vielen anderen Regeln dürfte sich mancher Politiker gegen eine Abschaffung sträuben: Soll man die Paragrafen streichen, nach denen Büros und Fabrikräume Fenster haben müssen? Kann man die Vorschriften über eine vernünftige Beleuchtung am Arbeitsplatz einfach wegfallen lassen? Oder sollen Jugendliche unter 18 Jahren künftig bis 24 statt 22 Uhr arbeiten dürfen, wie es beispielsweise der FDP-Arbeitsmarktexperte Dirk Niebel fordert? Restaurants und Hotels würden wegen der bisher gültigen Regelung oft nur volljährige Lehrlinge beschäftigen, meint der Abgeordnete.

Viele Vorschriften haben, für sich genommen, gute Gründe, und doch können sie in ihrer Summe zu einer erdrückenden Last werden. Wer das ändern will, muss aber für jede Einzelregelung erklären, warum sie überflüssig ist. Hinzu kommt: Ein großer Teil des Paragrafenwerks geht auf EU-Recht zurück – etwa exakte Regeln für die Bildschirmarbeit oder die Vibrationsrichtlinie, nach der Firmen mit aufwändigen Verfahren messen müssen, in welchem Maß ihre Mitarbeiter durch vibrierende Maschinen belastet werden. Auflagen dieser Art lassen sich nur verändern, wenn die europäischen Nachbarn mitziehen.

Eine durchgreifende Sanierung des Arbeitsrechts dürfte daher Jahre brauchen. Der Vorsatz für ein einheitliches, schlankeres Arbeitsrecht jedenfalls ist schon alt: Er stand 1990 im deutschen Einigungsvertrag. Einer der Unterzeichner von damals ist der Mann, der sich nun mit mehr als zehn Jahren Verspätung an die Umsetzung machen kann: Bundesarbeitsminister Wolfgang Clement.





 

1059 Postings, 8701 Tage mikelandau@nassie

 
  
    #2
02.03.03 14:23
hatte ich schon vorgestern hier reingestellt, unter "pervers"!  

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