Kolumne: Vom "Silicon Valley" zum "Ghost Valley"?


Seite 1 von 1
Neuester Beitrag: 23.12.00 03:15
Eröffnet am:23.12.00 00:01von: proxicomiAnzahl Beiträge:2
Neuester Beitrag:23.12.00 03:15von: ReilaLeser gesamt:1.318
Forum:Börse Leser heute:1
Bewertet mit:


 

4690 Postings, 8616 Tage proxicomiKolumne: Vom "Silicon Valley" zum "Ghost Valley"?

 
  
    #1
23.12.00 00:01
Ein Jahresausblick


Kolumne: Vom „Silicon Valley“ zum „Ghost Valley“?


Philipp A. Gerbert


Im Innenland von Kalifornien kann man plastisch die Konsequenzen eines zusammengebrochenen Booms studieren. Die berühmten Geisterstädte, trauriges Überbleibsel des Goldrausches des vorigen Jahrhunderts, sind heute als Mahnmal eines nur scheinbar grenzenlosen Aufschwungs. Die Parallele zwischen dem plötzlichen Ende des historischen Goldrausches und dem diesjährigen Zusammenbruchs des Internetbooms am Aktienmarkt drängt sich den Einwohnern des kalifornischen Silicon Valley geradezu auf – zu oft waren die beiden Höhenflüge verglichen worden. Könnte es dem „Valley“, dem weltweiten Synonym für den High-Tech Boom, tatsächlich ähnlich ergehen? Könnte dies das „Große Beben“ sein, dessen zerstörerische Kraft die Krisen von 1984 und 1991 weit übertrifft?


Nun, der Zusammenbruch des Aktienmarkts könnte kaum dramatischer sein:
Der fast schon vergessene Auslöser im März für den Einbruch – zunächst nur der E-Commerce Aktien - war das erste Urteil im Kartellrechtprozess gegen Microsoft. Und der letzte Dolchstoß vorige Woche kam wiederum im Zuge einer Gewinnwarnung von Microsoft, der ersten in zehn Jahren. Ausgerechnet Microsoft! Das Schicksal des Erbfeinds des Valleys aus Seattle ist offenbar auf fatale Weise mit dem Gesundheitszustand des hiesigen High-Tech-Sektors verknüpft. Und der Zusammenbruch hat alle Sektoren erfasst.
Die nächste Pleitewelle steht nach Weihnachten an

Zuerst traf es die E-Commerce-Unternehmen, die sich an die Verbraucher wandten (B2C). Da die meisten (noch?) unprofitabel waren, führte der Zusammenbruch des Aktienmarkts unmittelbar zu einer Finanzkrise der Firmen. Die notwendigen Restrukturierungen überfordern sie nun. Selbst eToys, ein Spielzeugshop mit Top-Marke, erfahrenem Management von Handelsveteranen und einem, zumindest in der Anfangszeit üppigem Finanzpolster, wird nach Weihnachten voraussichtlich seine Unabhängigkeit verlieren, genauso wie zuvor bereits CDNow.

Pets.com, im Februar erst an die Börse gegangen und von Amazon gestützt, hat das Geld des Aktienmarkets innerhalb weniger Monate „verbrannt“ und ist schon vor die Hunde gegangen. Petsmart.com hat die Reste übernommen.
Die Vielzahl der zweitrangigen Spieler, die vor dem Aus stehen, ist kaum zu überblicken. Über Benchmark Partners, einer hervorragenden Adresse in der Branche der Risikokapitalgeber, Lead-Investor bei Ebay und starkt investiert in den Internetsektor, schwebt seit Monaten das Damoklesschwert.
Viele B2C-Unternehmen versuchen, mit letzter Kraft und in der Hoffnung auf Besserung bis Weihnachten durchzustehen, werden angesichts der noch verschlechterten Lage aber wahrscheinlich kurz danach aufgeben.

B2B erging es auch nicht viel besser

Es hätte natürlich schlimmer kommen können, und es kam schlimmer. Als nächstes traf es den Internethandel zwischen Unternehmen, Business to Business, B2B genannt: Chemdex, ein früher Superstar der Branche, hat vorigen Monat seine virtuellen Tore geschlossen. Ventro, das Mutterunternehmen, will sich als Technologieplattformanbieter etablieren – mit wenig Aussicht auf Erfolg.
Die Internet Capital Group, führender B2B Inkubator, ist inzwischen auf einen Bruchteil des einstigen Marktwerts gesunken und hat noch vergleichsweise Glück, da die finanziellen Reserven beachtlich sind. Das reicht vielleicht zum Überleben. Die eigenen Investments kann ICG aber nicht mehr durchfüttern. Im Herbst dominierten Restrukturierungen und Zusammenschlüsse, im Frühjahr werden unverblümte Pleiten nicht ausbleiben.

Der Porsche-Indikator blieb zunächst günstig

Diese Krise der E-Commerce Player hat das Valley jedoch weggesteckt. Alles war so überhitzt, dass selbst die lokalen Porschehändler – typischerweise die sensibelsten Krisenbarometer – erst nach Monaten die ersten Anzeichen einer Nachfrageschwäche feststellen konnten. Das Valley ist im sofortigen und effizienten „Recycling“ der Ressourcen seit jeher Weltklasse.

Aber inzwischen brennt es überall. Der nächste Sektor waren die Dienstleistungsunternehmen: Webintegratoren wie Scient und Viant werden inzwischen zu unter 2 % ihres Spitzenwertes notiert. Dies ist weniger als ein halber Jahresumsatz. So atemberaubend der Höhenflug war, so strafend ist der Absturz. Die Stars der Telekommunikationsbranche im vergangenen Jahr, Breitbandzugangs-Provider wie Covad und Northpoint, sind nur noch ein Schatten ihrer selbst und ziehen ihre Zulieferer mit in den Abgrund. Web-Hosting Unternehmen wie Digex und Globalcenter flüchteten sich gerade noch rechtzeitig in den sicheren Akquisitionshafen.

Dann trat auch die Achillesferse der für unverwundbar gehaltenen „Infrastruktur“-Unternehmen zu Tage. Selbst der Optik-Sektor, kleinster gemeinsamer Nenner aller Zukunftstechnologie-Auguren, brach nach einer verhaltenenn Wachstumsmeldung des Giganten Nortel ein – noch verstärkt durch die zunehmend unklare Finanzlage vieler Telekommunikationsanbieter. Es folgten PCs und Bauteile, die von den Umsatzeinbrüchen im Handel erfasst wurden – erste Opfer der sich anbahnenden US-amerikanischen Rezession. Diese Entwicklung erwischte schließlich auch Microsoft und Intel.

Der Biotechnologie erging es, zumindest in den USA, nicht besser – allerdings war dieser Sektor stets problembehaftet und bestenfalls für Investoren mit extrem langem Atem attraktiv.

Nur zwei Bollwerke halten derzeit noch: Cisco als Marktführer im Netzwerksektor und der Speicherspezialist EMC. Sollten auch diese Unternehmen Schwächen zeigen, gibt es kein Halten mehr.

Was bedeutet dies für das „Silicon Valley“, die circa zwei Millionen Menschen in den Bezirken „San Mateo County“ und „Santa Clara County“ südlich von San Francisco? Immerhin wurden lokal private Vermögenswerte in dreistelliger Milliardenhöhe zerstört und gleichzeitig sind die Geschäftssysteme und Finanzierungen vieler jungen Unternehmen gefährdet.

Mitte der Achtzigerjahre war die Krise auch schon heftig

Die letzte größere Krise gab es Mitte der Achtzigerjahre, als nach Aktieneinbruch der PC-Branche vor allem die Chip-Invasion aus Asien das Valley – damals in der Tat noch ein „Silizium-Tal“ – sehr hart traf. Wenige Leute wissen, dass beispielsweise Intel damals de facto bankrott war und nur durch Hilfestellung von IBM – kaschiert durch einen Großauftrag – am Leben erhalten wurde. Die gute Nachricht ist, dass das heutige Silicon Valley eine viel stärkere und zudem hochdiversifizierte Technologiebasis hat. Die schlechte Nachricht ist, dass die Krise inzwischen alle Sektoren erfasst hat Und dass das Valley inzwischen selbst ein wesentlicher Teil der US Volkswirtschaft ist und somit selbst zur Ausweitung der Krise beiträgt.

Nüchtern denkende Menschen glauben, dass es erst noch schlechter werden wird, bevor es wieder bergauf geht. Auch wenn der Aktienmarkt wieder steigen sollte, ist eine schnelle vollständige Erholung unwahrscheinlich. Und viele der Auswirkungen werden erst zeitverzögert einsetzen – was nicht unbedingt schlecht sein muss. Man bedenke, dass selbst ein schlichtes Einfamilienhaus aus Holz in einem erdbebebengefährdeten Gebiet wie dem Valley in einer sicheren Wohngegend noch immer mehr als eine Million Dollar kostet.

Die Investmentfonds sind wohl gefüllt: Selbst wenn das dritte Quartal dieses Jahres seit vielen Jahren zum ersten Mal kein Rekordquartal war, floss im vergangenen Jahr immer noch so viel Geld in Wagniskapitalfonds wie in den fünf Jahren davor kumuliert. Aber die Venture Capitalists sind derzeit ausgesprochen vorsichtig mit der Verwendung der Gelder und werden kaum Wachstumsimpulse geben.

Die Kombination aus Verlust privater Vermögenswerte und massiver Jobgefährdung kann selbst eine so starke Wirtschaftsregion wie das Valley in den Grundfesten erschüttern. Könnte es daran zerbrechen ?

Trotz des Mahnmals der kalifornischen Geisterstädte glaubt das hier (noch?) niemand. Krise ja, daran zerbrechen, nein. Schließlich hat auch der Zusammenbruch des Goldrausches zwar Narben hinterlassen, aber letztlich den Boom des amerikanischen Westens nicht aufgehalten. Das eigentliche Kapital des Silicon Valley ist das Talent der Menschen hier: Die Sogwirkung der letzten Jahre auf die Creme de la Creme in High-Tech von überall auf der Welt hierher hat seine Wirkung nicht verfehlt. Diese reale Stärke des Valley wurde oft durch die aufgeblähten Erfolgsstories von unerfahrenen zwanzigjährigen Millionären überdeckt.

Die Krise wird wahrscheinlich erst im nächsten Jahr mit voller Wucht gespürt werden. Doch es muss noch viel schlimmer werden, bis hier ein „Ghost Valley“ entstehen könnte.


HANDELSBLATT, Freitag, 22. Dezember 2000

 

9123 Postings, 8601 Tage ReilaGeisterstädte, Ritterburgen und Computer.

 
  
    #2
23.12.00 03:15
Die Geisterstädte der Goldgräber sollte man wohl mehr mit den Resten der Raubritterburgen in Europa vergleichen. Sie sind Symbole einer vergangenen Epoche wie inzwischen auch die Fördertürme im Ruhrgebiet.

Nun gut, die Aktienkurse der High-Techs hatten vorweggenommen, was erst in einiger Zukunft geschehen wird. Noch kaufen wir kaum am Computer ein, erst recht nicht vom Handy. Aber der einfache Gedanke was geschehen wäre, wenn man vor 20 Jahren alle Computer abgeschaltet hätte, und was heute in einem solchen Fall geschehen würde, zeigt die Tendenz und läßt die Perspektiven ahnen. (Heute wüßten wir nicht einmal mehr, wie spät es gerade ist.) Aber dieser Gedanke illustriert auch die Zeiträume, über die wir reden. Ich habe nicht die geringste Sorge, was die weitere Entwicklung des Silikon Valley angeht. Ob es jedoch einen auch nur annähernd vergleichbaren High-Tech-Standort in Europa geben wird, ist wohl eher unwahrscheinlich - selbst wenn der Bundeskanzler persönlich an der Grenze die Green-Card verschenken würde.
Gute Nacht Deutschland.

R.  

   Antwort einfügen - nach oben