Ein Standort, an dem nichts mehr steht


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Neuester Beitrag: 07.09.03 20:46
Eröffnet am:07.09.03 20:12von: JoBarAnzahl Beiträge:2
Neuester Beitrag:07.09.03 20:46von: BRAD PITLeser gesamt:378
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3010 Postings, 7913 Tage JoBarEin Standort, an dem nichts mehr steht

 
  
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07.09.03 20:12
05.09.2003   12:23 Uhr  

Völkerwanderung in Deutschland - Ein Standort, an dem nichts mehr steht

Das Kapital flieht, Betriebe und Arbeitskräfte verlassen das Land. Warum?
Weil man Deutschland als ein homogenes Gebilde begreift, in dem Löhne, Abgaben und Lebensqualität möglichst gleich sein müssen. Schwerer Fehler. NIKOLAUS PIPER

 
 
 


Blick auf ein fast umgefallenes Straßenschild, das in dem brandenburgischen Ort Bleyen-Genschmar vor einem verlassenen Firmengebäude steht.
Foto: dpa

 


Ungefähr dreißig Jahre lang haben die Deutschen gebraucht, um zu merken, dass sie in einem Einwanderungsland leben. Jahrelang bestritten die einen das Offensichtliche, die anderen taten so, als handele es sich bei der multikulturellen Gesellschaft um ein ewiges Straßenfest. Längst hat es auch die CSU gemerkt: Die Gastarbeiter gehen nicht mehr zurück, Migration ist ein zentrales Element unseres Alltags geworden. Noch ist diese Erkenntnis kaum gereift, da ahnen es Weitsichtige: Wir sind nicht nur ein Ein-, wir sind auch ein Auswanderungsland. Es wandern Arbeitsplätze aus, und es wandern mehr und mehr Arbeitskräfte aus.

Migration wird unübersichtlich. Ein Spielzeughersteller aus dem Fränkischen verlagert seine Puppenproduktion nach Tschechien, der Lohnkosten wegen. Auf Großbaustellen in Berlin, München und anderswo wird polnisch, tschechisch und englisch gesprochen, aber kaum noch deutsch. Infineon, die Münchner Siemens-Tochter, erwägt, die Firmenzentrale in die Schweiz zu verlagern. Die Hypo Real Estate, eine Absplitterung der krisengeschüttelten HypoVereinsbank aus München, führt vom 6. Oktober an ihre wichtigsten Geschäftsfelder von Dublin aus. Dort hat auch der neue Chef der Bank, ein Deutscher übrigens, seinen Hauptwohnsitz. Eine angehende Volkswirtin aus Frankfurt studiert an der London School of Economics, macht dort einen Abschluss, bekommt einen Job in der Londoner City und merkt irgendwann, dass sie gar nicht mehr nach Deutschland zurück möchte.


Die Bourgeoiie reißt alle Nationen in die Zivilisation, schrieben Karl Marx und Friedrich Engels 1848 im Kommunistischen Manifest. Heute würde man sagen: Die Welt ist ein Dorf und niemand kann sich dem globalen Wettbewerb entziehen. Die Migration von Kapital und Arbeit macht vielen Menschen Angst, vor allem wenn sie die Dimension begreifen, die diese Migration inzwischen erreicht hat. Aber es liegt auch eine Chance darin, wenn Migration auch als Auswanderung wahrgenommen wird. Dann erkennt man: Migration ist nicht auf das Wirken anonymer Mächte zurückzuführen sondern das Ergebnis meist sehr rationaler, individueller Entscheidungen.


Wer die ökonomische Dimension des Problems erfassen will, kommt um eine Kategorie nicht herum: den Standort. Seit den achtziger Jahren diskutieren die Deutschen, ob der „Standort Deutschland“ noch wettbewerbsfähig ist. Eigentlich ein Missverständnis, denn für einen Standort ist Deutschland viel zu groß. München ist ein Standort, Duisburg oder vielleicht auch der Landkreis Pinneberg, aber niemals eine mittelgroße Nation. Standorte sind Orte, an denen produziert wird, an denen Wohlstand entsteht. Deshalb konkurrieren Städte und Landkreise um Kapital, aber auch um Menschen, die Wohlstand schaffen können.


Das war schon immer so. Nach dem Dreißigjährigen Krieg lockten deutsche Regionalfürsten Juden mit Vergünstigungen ins Land, um das verwüstete Land wieder aufzubauen. Diese brachten Kapital mit, Wissen und Gewerbefleiß. Aber als hohe Grenzzäune Europa durchschnitten, war der Wettbewerb zwischen den Standorten noch wenig ausgeprägt. Heute, da die Grenzen offen sind, werden einige grundlegende Tatsachen dieses Wettbewerbs deutlich: Eine starke Position in diesem Wettbewerb haben all jene, die wählen können, die gut ausgebildeten Fachkräfte, die wettbewerbsfähigen Betriebe; sie werden umworben und können Forderungen stellen. In einer schwachen Position sind die weniger Mobilen, die an einen Standort gebunden sind, weil sie woanders nicht mit Arbeit rechnen können oder weil sie aus persönlichen Gründen in der Heimat bleiben. Sie sind die Werbenden im Wettbewerb.


Nun verursacht Migration Kosten, auch für den Migrierenden. Kein Betrieb verlagert seinen Sitz ohne Not: Er muss neue Gebäude errichten, neue Arbeitskräfte anwerben, sich in einem neuen Umfeld zurechtfinden. Daher gibt es eine Sperre gegen die Abwanderung von Arbeitsplätzen. Aber diese Sperre ist nicht unendlich hoch. Eine höhere Steuerlast mag noch hinnehmbar sein, auch höhere Kosten für den Umweltschutz, höhere Löhne, mehr Bürokratie. Aber alles zusammen lässt dann eines Tages die Bilanz zu Lasten eines Standorts ausfallen.


Ähnlich sieht es für Arbeitskräfte aus. Ein junger hoch qualifizierter Techniker nimmt es vielleicht noch hin, dass er in Kassel weniger verdient als in London. Wenn er dann aber damit rechnen muss, dass die Sozialbeiträge immer weiter steigen, wenn er zu gewärtigen hat, dass seine Kinder in schlechte Schulen gehen, dann zieht er eben eines Tages weg, wenn er die Möglichkeit dazu hat. Wahrscheinlich war es die Aussicht, dass in Deutschland alles schlechter wird, die in den vergangenen Monaten für so viel Überdruss unter jungen, gut ausgebildeten Deutschen gesorgt hat. Man hat die Kosten der deutschen Wirtschafts- und Sozialpolitik auf den Gegenwartswert heruntergerechnet und seine Schlüsse gezogen.


Im deutschen Sozialstaat, so wie er heute verfasst ist, liegt daher eine ungeheure Sprengkraft. Das wird besonders deutlich in der gespenstischen, aber oft gebrauchten Formulierung, die Wohlhabenden müssten zur Finanzierung von Renten, Gesundheitsvorsorge und anderem „herangezogen“ werden. Bei offenen Grenzen lässt sich niemand mehr so einfach „heranziehen“. Wer es trotzdem versucht, wer ein hohes Versorgungsniveau durch immer höhere Abgaben zu sichern sucht, der erzielt einen doppelten Effekt: Er schreckt Einzahler in das Sozialsystem ab, und er lockt Empfänger von Sozialleistungen an, auch aus Ländern, in denen harte Arbeit nur einen Bruchteil der deutschen Sozialhilfesätze bringt. Die Erkenntnis ist unbequem, aber kann den Sozialpolitikern, besonders in den Regierungsparteien, viele Enttäuschungen ersparen.


Der größte Fehler liegt vielleicht darin, Deutschland als ein homogenes Gebilde zu sehen, als einen einheitlichen Standort, in dem Löhne, Abgaben und Lebensqualität möglichst gleich sein müssen. Das ist das Drama der deutschen Tarifpolitik, es ist insbesondere das Drama der Lohnpolitik in Ostdeutschland. Es gibt vermutlich wenig Faktoren, die die Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern so in die Höhe getrieben haben, wie die Politik der Lohnangleichung durch Arbeitgeber und Gewerkschaft, jenen „Populisten der Einheit im Raum“, wie sie der Ökonom Herbert Giersch einmal genannt hat.


Der Mechanismus lässt sich leicht beschreiben: München ist ein attraktiver Standort. Das ist zum Teil einfach Glück: Siemens ist nach dem Zweiten Weltkrieg an der Isar geblieben, BMW hat 1959 eine schwere Unternehmenskrise überwunden; es ist zum Teil das Ergebnis kluger Politik und es ist, was man nicht unterschätzen sollte, ein Geschenk der Natur. Qualifizierte Menschen wohnen einfach gerne in München, und sei es nur, weil sie im Winter Ski fahren wollen. All dies rechtfertigt hohe Immobilienpreise und hohe Löhne. Wenn nun aber jemand versucht, die Münchner Löhne dem ganzen Land zu verordnen, muss er an weniger attraktiven Standorten notwendigerweise Arbeitslosigkeit produzieren, Arbeitsplätze wandern ab, Betriebe schließen.


Dies sind keinesfalls theoretische Überlegungen. Seit Jahrzehnten bestimmt der Großraum Stuttgart, dank DaimlerChrysler ein ebenfalls sehr attraktiver Standort, über die Lohnforderungen der IG Metall mehr oder weniger direkt das Lohnniveau in der Metall verarbeitenden Industrie der ganzen Republik. Wo die Bedingungen weniger gut sind als am Neckar, treibt dies erst die Arbeitsplätze und dann die qualifizierten Arbeitskräfte aus dem Land. Herbert Giersch, der frühere Präsident des Instituts für Weltwirtschaft, fordert als Rezept gegen das Ausbluten des Landes, mehr Lohndifferenzierung: Wenn man Migration von Arbeit und Kapital im Inland zulässt, dann ist weniger Migration aus Deutschland heraus zu befürchten.


Im Grunde ist die Sache für die Politik ganz einfach: Man sollte Migranten, egal welcher Nationalität, als denkende Wesen ernst nehmen. Sie sind weder Opfer noch vaterlandslose Gesellen, sondern Menschen, die ihr Lebensglück suchen.


SZ v. 05.09.2003


 

5937 Postings, 8020 Tage BRAD PITDas hast du ganz ganz toll geschrieben o. T.

 
  
    #2
07.09.03 20:46

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