Die S-Klasse gibt es nicht für jeden


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24.08.03 22:48
Die S-Klasse gibt es nicht für jeden

Ärzte müssen bei der Behandlung alter Menschen vieles abwägen - manchmal mit "großen Bauchschmerzen"

Von Jörg Schindler (Berlin)


Das Ding sieht aus wie ein Designer-Türgriff mit Rutschbremse. Ein matt-grauer Stiel von vielleicht 15 Zentimetern, der sich nach unten verjüngt und der oben in eine Ufo-artige Halbkugel mündet. Das Ding ist aus Titan und hält unter Normalbedingungen rund 20 Jahre. "Das ist die S-Klasse", sagt Professor Norbert Haas. Sie ist für mehrere tausend Euro zu haben - und hat erst jüngst die halbe Nation erregt.

Es blieb, mitten im nachrichtenarmen Sommerloch, einem gewissen Philipp Mißfelder vorbehalten, das künstliche Hüftgelenk aus Titan abrupt ins Rampenlicht zu zerren. Man müsse sich fragen, so der vorsitzende Junge-Union-Spund, ob künftig noch jeder 85-Jährige einer derartigen High-Tech-Prothese teilhaftig werden dürfe. Und, quasi aus der Hüfte, schoss der 23-Jährige hinterher: "Früher sind die Leute auch auf Krücken gelaufen." Skandal, schrie die Republik. Von Norbert Blüm ("pubertärer Zynismus") bis Niels Annen ("asozial") wurde dem kecken Rechten Irrsinn attestiert. Und so verschwand Philipp Mißfelder wieder dort, von wo er aufgetaucht war: in der Versenkung. Zurück aber ließ er eine durchaus berechtigte Frage: Wie hält es die Medizin in mauen Zeiten mit den Alten und Maroden?

Ein heikles Thema. Vor allem in Deutschland. Ein falscher Zungenschlag, schon stehen Ärzte hier zu Lande unter Euthanasie-Verdacht. "Unsere Geschichte, Sie wissen schon", sagt die Berliner Oberärztin Almut Tempka. "Das wagt momentan fast niemand, darüber zu diskutieren." Bei den europäischen Nachbarn ist das anders: Dort werden seit Jahren bereits makaber anmutende Kosten-Nutzen-Rechnungen angestellt. In Großbritannien etwa werden Nieren-Kranke von einem gewissen Alter an kurzerhand von der Dialyse abgehängt; Holland lässt seinen Senioren längst nicht mehr jede Behandlung angedeihen; in Skandinavien gibt es Wartelisten, die derart lang sind, dass mancher, bis er dran kommt, keine Hilfe mehr benötigt.

"So weit sind wir glücklicherweise noch nicht", sagt Professor Haas, Direktor der Klinik für Unfall- und Wiederherstellungs-Chirurgie an der Berliner Charité. In Deutschland dominiere nach wie vor die Frage: "Was ist das Beste für den Patienten?" Wie lange noch, ist allerdings fraglich. "Die Last des Finanziellen nimmt zu", ächzt der 57-Jährige. Früher sei das kein Thema gewesen. Noch in den 80er Jahren, so der hochgewachsene Professor, habe man für jeden Patienten das Beste und das Teuerste gemacht. "Damals wussten wir gar nicht, was ,Budget' heißt." Seit jedoch der Rotstift auch in Deutschlands Krankenhäusern kursiert, stelle sich zusehends die Frage nach der "Sinnhaftigkeit" bestimmter Leistungen. "Es ist heutzutage fast alles machbar", sagt Haas - "aber nicht alles, was machbar ist, ist auch sinnvoll."
Der Mediziner bestreitet jedoch vehement, dass nur die Alten Opfer der neuen Knauserigkeit seien. "Wir entscheiden von Fall zu Fall, ungeachtet des Alters." Da weiß er sich einig mit Frank Ulrich Montgomery, dem Chef des Ärzteverbandes Marburger Bund. "Es gibt 40-Jährige, die verhalten sich biologisch wie 80-Jährige und umgekehrt", sagt Montgomery. Insofern sei Mißfelders Vorstoß, eine willkürliche Altersgrenze festzulegen, blanker Unsinn. Dessen Beispiel mit den Hüftgelenken sei zudem "besonders falsch": Die Alternative zu einem künstlichen Gelenk seien unter Umständen drei Monate Streckverband mit anschließendem Siechtum und Pflege. "Das ist nicht nur furchtbar", so der Ärzte-Boss, "das ist auch teurer als jedes Hüftgelenk."
Montgomery weiß aber auch: Im Einzelfall sind es trotz allem oft die Alten, die zunehmend mit einer Art Secondhand-Medizin vorlieb nehmen müssen. Beispiel Hüftgelenke: Da müsse man schon die Frage stellen, ob für einen 80-Jährigen nicht billiger Stahl genauso gut sei wie das teure Titan. Der Stahl halte immerhin auch 15 Jahre. Die medizinische Begründung liefert Klinikleiter Haas nach: Titan werde "zementlos" implantiert, brauche mithin länger, sich mit den Knochen zu verbinden - dagegen sei es doch für einen 80-Jährigen "das Beste, wenn er schnell wieder auf die Beine kommt".

Beispiel Herzkranzgefäße: Seit etwa einem Jahr gibt es Gefäßstützen, so genannte Stents, die mit Medikamenten beschichtet sind. Ihr Vorteil gegenüber herkömmlichen Stents: Die Gefahr, dass sie sich wieder schließen, liegt bei null bis fünf Prozent. Ihr Nachteil: Sie sind dreimal teurer als die alten. "Wenn man nur ein bestimmtes Kontingent der beschichteten Stents hat, überlegt man dann schon, wem man die einsetzt", sagt ein Karlsruher Mediziner, der lieber ungenannt bleiben will - "das geht dann meistens auf Kosten der Älteren." Nicht wenige der im Marburger Bund zusammengeschlossenen Ärzte empfänden "große Bauchschmerzen" angesichts solcher Entscheidungen, sagt Montgomery. So lange jedoch medizinische Erwägungen dabei dominierten und nicht finanzielle, "ist das in Ordnung".

Ein ethischer Balanceakt. Und einer, der künftig noch schwieriger werden wird. Denn nicht nur das Geld wird weniger, auch die Alten werden mehr - zumal diejenigen, die sich, weil noch rüstig, alle möglichen Verletzungen zuziehen. Erst kürzlich wurde auf Haas' Station ein 87-jähriger Bauer eingeliefert, der seinen Hof noch bewirtschaftet, dabei aber von einem Ochsen aufs Horn genommen wurde. Oberärztin Tempka wiederum weiß von 90-Jährigen, die ins Krankenhaus kommen und tags zuvor noch auf Segeltörn waren.

Nicht immer ist es für die Helfer in Weiß dabei einfach, das Machbare und das Sinnvolle auseinander zu halten - schon gar nicht, wenn der Sparzwang immer größer wird. Eines jedoch verspricht Medizin-Lobbyist Montgomery: Mit einer x-beliebigen Altersgrenze à la Mißfelder werde sich seine Klientel nicht anfreunden. "Wir Ärzte", so Montgomery, "werden nicht diejenigen sein, die letztlich am Krankenbett stehen und sagen, tja, Pech gehabt, du bist eben im falschen Jahr geboren."


 

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