Anmerkung für Schröder, Merkel und Konsorten


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Neuester Beitrag: 18.09.03 14:32
Eröffnet am:18.09.03 14:26von: Happy EndAnzahl Beiträge:2
Neuester Beitrag:18.09.03 14:32von: lutzhutzlefut.Leser gesamt:356
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95441 Postings, 8543 Tage Happy EndAnmerkung für Schröder, Merkel und Konsorten

 
  
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18.09.03 14:26
Wer liest noch die Schlagzeilen mit der Sorgfalt eines Studienrates? Gesundheit, Rente, Steuern, was den Hinterbänklern so einfällt, um 15 Minuten Aufmerksamkeit zu ergattern – die Parolen versinken im Schwall der Worte. Denn das Hirn arbeitet ökonomisch. Es muss sich nicht merken, was morgen nicht mehr gilt. Der gewitzte Wähler hat gelernt, dass die „schwatzende Klasse“, Politiker wie Medien, keinen verbindlichen Diskurs führt; kaum gefunden, gerät jeder Entwurf zur Einladung, ihn wieder zu kippen.

Unverbindlich? Ja, aber nicht unverändert. Eine mentale Revolution greift Platz, das Bewusstsein der Deutschen wandelt sich – zugunsten des Wandels. In ihrer just veröffentlichten Studie Das aktuelle Reformklima spricht Renate Köcher vom Institut für Demoskopie von der „wehmütigen Kapitulation“. Die Deutschen finden sich damit ab, dass der generöse Sozialstaat von ehedem nicht mehr zu halten ist. Der Bürger, das zeigt die Erhebung, begreift, was die Regierenden ihm so lange nicht zumuten wollten: All die schönen Dinge, die ihm der Staat in einem fünfzigjährigen Leben, seit 1949, „geschenkt“ hat, von der Kur bis zum Kindergarten, ist nicht mehr Verteilungs-, sondern Verhandlungsmasse. Anrechte werden nun abgerechnet.

Den Wandel messen am besten die Antworten auf die Frage, ob das Wörtchen „Reformen“ sympathisch sei. Vor zehn Jahren bekundeten 48 Prozent derlei Wohlgefühl, jetzt sind es schon 63. Doch ist diese Meldung von der Bewusstseinsfront zu abstrakt. Wie sieht es im Konkreten aus?

Der Reformeifer wallt über, wo das Prinzip aufscheint: „Den Gürtel enger schnallen, aber bitte beim anderen.“ Folglich sind fast zwei Drittel dafür, die „Sozialhilfe auf wirklich Bedürftige zu beschränken“. Interessanter ist, dass immerhin drei Fünftel „flexiblere Arbeitszeiten“ wünschen, was nicht jeden Gewerkschafter erfreuen wird. „Verkürzung der Genehmigungsverfahren“? Dafür votiert mehr als die Hälfte, und selbst für die Lockerung der Handwerksordnung, die Kaiser, Weimar und Hitler überlebt hat, kommen 45 Prozent zusammen. Langsam macht sich also Unvertrautes breit: dass verbriefte Vorrechte wettbewerbsfeindlich und somit preistreibend sind.

Noch interessanter aber wird es, wo das drohende Desaster den Realismus zeugt. Wozu wäre der Einzelne bereit, wenn der Arbeitsplatz wankt? „Mehr arbeiten ohne mehr Lohn“, eine De-facto-Lohnkürzung? Dafür optieren 71 Prozent. Verzicht auf Sonderleistungen wie Weihnachtsgeld? Ebenfalls 71 Prozent Zustimmung. Lohnkürzung, um den Arbeitsplatz zu retten? 53 Prozent. Der bis dato unverrückbare Kündigungsschutz steht nicht mehr so festgemauert in der Erde. In sechs Jahren ist die Zustimmung zur Lockerung von 27 auf 38 Prozent gewachsen, zu innerbetrieblichen Lohnabschlüssen allein in den letzten Monaten von 37 auf 45 Prozent.

Was mögen Parteien und Gewerkschaften (mit ihrem rasanten Mitgliederschwund) aus solchen Daten schließen? Ein Wort der Vorsicht vorweg: Derweil sich der Sinn für die Realitäten schärft, bleibt deren Akzeptanz begrenzt. Ein hübsches Abbild dieser Schere liefert das Thema Lebensarbeitszeit. Eine solide Mehrheit von 62 Prozent hält die Verlängerung für unumgänglich, doch nur ein Fünftel für „zumutbar“. Auch die Kürzung von Renten und Gesundheitsleistungen verweigert ein Fünftel. Die Sympathie für „Reform“ verkehrt sich in puren Widerwillen, wo mehr Selbstverantwortung oder weniger Wohltaten auf dem Programm stehen. Lieber wollen die Leute höhere Beiträge zahlen als auf staatlich garantierte Gesundheitsangebote verzichten.

Und die andere, die hellere Seite der Medaille? Der deutsche Mensch ist nicht so verstockt und vergangenheitsverliebt, wie die Politiker fürchten. Gehen wir einen Schritt weiter: Die Gewählten haben mehr Einfluss auf die Köpfe der Wähler, als sie in ihrer panischen Angst vor Stimmenverlust wähnen. Auch in Zeiten postmoderner Beliebigkeit steht das Wort „Führung“ noch im Duden. Im Gegenteil darf man unterstellen, dass der Diskurs-Wechsel der Regierung Schröder – weg vom Lafontainismus im Wahlkampf 98 hin zur Agenda 2010 – den Bewusstseinswandel mehr befördert hat als jede Arbeitslosenstatistik. Kanzler und Kandidaten sind nicht willenlose Sklaven der Wahlforschung, sondern Takt-Geber und agenda-setters.

Das haben die Damen und Herren von der Opposition noch nicht erkannt. Sie sonnen sich wieder im demoskopischen Zuspruch (45 Prozent für die Union, 30 für die SPD) und freuen sich auf den leichten Machtwechsel. Dieser Traum aber ist schon 2002 nicht aufgegangen, und das nächste Hochwasser oder America-bashing kommt ganz bestimmt. In der Haushaltsdebatte vorige Woche offerierte Angela Merkel kaum mehr als Textbausteine zum Thema: „Wie mache ich Opposition ohne Konzeption?“ Warum sie dann wählen?

Etwas mehr Verantwortung für die Nation sollte schon sein – und vor allem ein deutliches Kontrastangebot. Beide Lager leben derzeit in einem „Verkäufermarkt“, in dem ein aufgerautes, aber realitätssensibles Wahlvolk für Kurs und Kompass nur allzu empfänglich ist. Das jüngste Meinungsbild zeigt, wohin die Route führen muss. Gewiss, die meisten Reformen müssen noch immer gegen die Mehrheit der Bevölkerung organisiert werden; zu viele glauben, dass sie am Ende als Verlierer dastehen. Die Chance aber beschreibt Renate Köcher anhand der Umfragen: Was heute noch als „Opferdebatte“ geführt wird, muss in eine „Zukunftsdiskussion mit positivem Tenor“ gedreht werden.

Dies ist der Regierung, geschweige denn der Union, bisher nicht gelungen. Sie murmeln verhalten von Schweiß und Tränen, verheißen aber nichts, was den Einsatz lohnen würde. Wenn aber Moses den Kindern Israels nur von 40 Jahren Wüste erzählt hätte, wären sie Festangestellte beim pharaonischen Städtebau geblieben. Die Kunst der politischen Führung liegt darin, Selbstverantwortung nicht mit „Besitzstand-minus“ gleichzusetzen, sondern mit „Freiheit-plus“.

Wir kaufen Versicherungen gegen allerlei Unbill, vom Hagel bis zum Unfall; warum nicht auch bei der Gesundheitsvorsorge jenseits eines garantierten Sockels? Es dürfte nicht so schwer sein, dem Wahlvolk zu erklären, dass jegliche Zwangsversicherung im Tandem mit kartellisierten Anbietern seine Freiheit wie auch seinen Geldbeutel schmälert. Es dürfte auch nicht so schwer sein, einen verqueren Wohlfahrtsstaat auszuleuchten, der in der Hauptsache nicht von oben nach unten verteilt, sondern seitwärts – innerhalb einer riesigen Mittelschicht, deren Taschen rechts gefüllt, aber links geleert werden. Der Preis: eine Sozialtransfer-Quote von 34 Prozent des Inlandsproduktes (doppelt so hoch wie zu Beginn der Republik), steigende Lohnnebenkosten, schwindende Arbeitsplätze.

Wenn nur Opfer gezählt werden, gibt es keine Sieger mehr. Sieger aber könnten alle sein, die Mittelschicht, die um ihre Zukunft bangt, und all jene, die keine Zukunft haben, weil sie keine Arbeit finden. An den lange verdrängten Realitäten kommt dieses Land nicht mehr vorbei. Besser ein Zukunftsprojekt aus ihnen zu schmieden, als den staatlichen Fleischtöpfen von vorgestern nachzutrauern. Anmerkung für Schröder, Merkel und Kollegen: Der Bewusstseinsschub ist schon da; ihn zu befördern ist gut für den eigenen Ruhm und das ganze Land.  

4561 Postings, 7937 Tage lutzhutzlefutzBin mal gespannt,

 
  
    #2
18.09.03 14:32
wann die nächste K-Frage erwähnt wird, im Herbst wieder der Nachtragshaushalt kommt, und welche Kommission als nächstes berufen wird...  

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