Analyse - Der Sozial-Störfall


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Neuester Beitrag: 24.08.03 18:13
Eröffnet am:24.08.03 14:51von: JoBarAnzahl Beiträge:6
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3010 Postings, 7898 Tage JoBarAnalyse - Der Sozial-Störfall

 
  
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24.08.03 14:51
Analyse - Der Sozial-Störfall

Betrüger sehen anders aus. Und doch bewegt die Geschichte die Gemüter: Unsere Woche mit "Florida-Rolf" – ein Fehler im System?
Von Tobias Kniebe

(SZ vom 23.08.2003) — Er schaut direkt in die Kamera. Ein wenig trotzig vielleicht, weil er mit Zuneigung nicht rechnen kann – aber auch kämpferisch-selbstbewusst, weil er starke Verbündete an seiner Seite weiß: die höchsten Gerichte des Landes. Betrüger sehen anders aus – die sieht man höchstens auf Paparazzi-Bildern, auf der Flucht erwischt, mit gehetztem Blick.

Hier aber tritt ein selbsterklärter Sieger auf. Und dem Wunsch der Fotografen, die Attribute des schönen Lebens zu präsentieren, kommt er gerne nach. "Florida-Rolf" ist braun gebrannt. Er trägt eine lässige Baseballkappe. Er führt seine Wohnung mit Meerblick vor, und im Hintergrund scheint die Sonne von Miami. Oder "Viagra-Kalle": Der hängt zwar momentan im hessischen Bad Soden fest, aber im Vorgriff auf 21 Tage Urlaub, die ihm zustehen, zieht er schon mal ein Hawaii-Hemd an.

Auch die Wohnzimmerpalme im Hintergrund verweist zeichenhaft auf das kommende Schlaraffenland. Genau wie die jüngere Ehefrau an seiner Seite, mit der er von nun an – das Sozialamt zahlt die Potenzpille – jeden Tag Sex haben will.


In dieser Woche ist er nachhaltig in unser Bewusstsein getreten: der Sozial-Störfall. Nicht nur vom Titel der Bild-Zeitung kam er uns entgegen, auch aus den Seiten des Spiegel und aus dem Kommentar der Welt trat er in unsere Welt. Zuletzt nötigte er sogar Ulla Schmidt, die Bundesministerin für Gesundheit und Soziale Sicherung, zu energischen Statements.

Quer durch die Gesellschaft löste er eine große Wut aus: Nicht durch eine offene Verletzung des Systems, die man ahnden könnte, sondern gerade deshalb, weil er bestehende Möglichkeiten, gestützt von Gerichtsurteilen, bis an ihr konsequentes Ende ausreizte. Nur so konnte aus Rolf J., 64, dem schwerbehinderten Ex-Bankier mit "Deutschland-Allergie", der in Miami leben darf und dort 1906,20 Euro Sozialhilfe bezieht, "Florida-Rolf" werden.

Seine Vorgänger, Aufreger für einen Tag, waren einfach nur Betrüger: Wilfried E. aus Hannover, der trotz dreier Villen Sozialhilfe bekam, schaffte es eben nicht zu "Villen-Willi"; Dietrich M., der auf zwei Ämtern gleichzeitig kassierte, blieb der "Doppel-Didi" verwehrt, und Knut F. aus Hamburg, der ein Anwesen in der Karibik vor dem Sozialamt verschwieg, wurde nie zum "Karibik-Knut" geadelt.


Der Moment der Wut

Gerade weil er als Teil des Systems legitimiert ist, kann der Sozial-Störfall das Funktionieren dieses Systems beleuchten. So könnte die Wut, die er auslöst, in ein Nachdenken verwandelt werden, das nicht nur darauf zielt, ein paar Sonderregelungen abzuschaffen, sondern die Entwicklung als Ganzes in den Blick nimmt.

Ein Analytiker der Sozialsysteme, der mit dem Florida-Fall sogar persönliche Berührung hatte, ist Albrecht Brühl, Professor für Sozialrecht an der Fachhochschule Darmstadt. Er geriet, als Autor des Standardwerks "Mein Recht auf Sozialhilfe", Anfang der Woche gleich mit unter Medienbeschuss. In seinem Buch verrate er "alle Tricks, mit denen sich der moderne Wohlfahrtsstaat plündern lässt", tönte der Spiegel – was den Verfasser der juristisch präzisen Fallsammlung dann doch verletzt hat.

Brühl fühlt sich aufgerufen, an ein paar Tatsachen zu erinnern: Die weitaus überwiegende Zahl der Sozialhilfeempfänger reize das System gerade nicht bis zum Letzten aus, sondern verzichte im Gegenteil aus Scham auf Leistungen.

Und muss man es nicht als Errungenschaft der Demokratie betrachten, dass selbst ein Mittelloser heutzutage Rechtssubjekt sei – im Gegensatz zu früheren Zeiten, wo er als Objekt behandelt wurde, das auf Almosen angewiesen war? Albrecht Brühl jedenfalls billigt dem Sozial-Störfall einen Erkenntniswert zu – weil er den Staat beim Wort nimmt und eine gewisse Hybris der Gesetzgebung aufdeckt: "Wenn Sie den ersten Paragraphen des Sozialgesetzbuchs lesen, müssen Sie meinen, Ihnen würde das Paradies versprochen", sagt er.

"Nur im Detail fehlt dann jede Präzision – was zwangsläufig in ein juristisches Chaos mündet."


"Kultur des Maßhaltens"
Dass eine gesetzliche Regelung nicht allein tragfähig ist, sondern auf einem kulturellen Fundament ruht, ist das Thema von Stephan Leibfried, Professor für Sozialpolitik an der Universität Bremen. Insofern könne man die Sozialgesetzgebung als eine Maschinerie verstehen, die auf einer "Kultur des Maßhaltens" aufbaue.

"Florida-Rolf" tritt exemplarisch an, um diesen Konsens aufzukündigen. "Schwachstellen, die auf diese Weise öffentlich gemacht werden, wird der Gesetzgeber mechanisch korrigieren. Die Folge aber ist, dass wir in einen Zustand der Übermechanisierung eintreten. Das Gesetz wird unempfindlicher gegen Missbrauch, aber auch unflexibler angesichts wahrer Not."

Fälle wie "Florida-Rolf" seien neu in der bundesdeutschen Sozialgeschichte, sagt Leibfried. "Florida-Rolf" ist das Fanal einer Zeit im Umbruch. Die Politik ringt um die Grundprinzipien eines neuen Gesellschaftsvertrags, aber dieses Ringen gleicht bisher einem Stochern im Nebel. Dem Sozial-Störfall steht die Sozial-Unfähigkeit der Individualgesellschaft gegenüber, positive Kriterien zu benennen: Was ist das rechte Maß?

"Trotz aller Probleme", sagt Leibfried, "waren wir noch nie so reich – und so unfähig, zu teilen."

Noch grundlegender geht der Theologe und Philosophieprofessor in Witten-Herdecke, Jürgen Werner, an das Thema heran. Er erinnert an den Hegelschen Grundsatz, dass jedes System, das konsequent zu Ende gedacht und damit verabsolutiert werde, sich selbst zu Grunde richte – genau dies werde im Sozial-Störfall sichtbar.


Notwendige Unschärfen werden nicht zugelassen
Das grundlegende Merkmal dieser Entwicklung ist, dass notwendige Unschärfen nicht mehr zugelassen werden – die Tatsache beispielsweise, dass man Exzesse einkalkulieren und im Einzelfall tolerieren muss, um allgemein sinnvollen Gebrauch erst möglich zu machen. Die Bild-Zeitung, in ihrer akribischen Auflistung der Sozialhilfe-Bezüge von Rolf J., arbeitet sich demnach an der Beseitigung von gesellschaftlichen Unschärfen ab.

Damit übernimmt sie eine Funktion, die in der Wirtschaft dem Controlling zufällt - und Werner, der auch als Managerberater arbeitet, sieht in der allgemeinen Dominanz des Controlling-Gedankens eine fatale Entwicklung. "Die Controller haben die Macht, alles, was man messen kann, ans Licht zu zerren", sagt er. "Aber in einer Firma, die nur vom Geist des Controlling regiert wird, ist ein sinnvolles Arbeiten kaum möglich. Wir brauchen ein neues Bewusstsein für den Wert der Unschärfe und des Unmessbaren."


In der Tat wird "Florida-Rolf" erst in dem Moment wirklich zum Störfall, in dem er öffentlich sichtbar wird, indem die Inszenierung seiner Siege über den Staat ein Publikum findet. Er taugt weder als Rezept, noch sind seine "Erfolge", infolge ihrer Komplexität, überhaupt wiederholbar. Er kann braun gebrannt von den Titelseiten lächeln, so lang er will – seine Bedeutung gewinnt er erst in dem Moment, in dem wir wütend zurückstarren, die Politik zu Stellungnahmen nötigen, seinetwegen Gesetze ändern.

Sollte der Staat hier vielleicht von anderen Systemen lernen, die ebenfalls ständig auf ihre Schwachstellen getestet werden? Einem Betrüger wird sein Wissen in der Wirtschaft schon mal abgekauft, wenn er im Gegenzug Schweigen garantiert; und einen Hacker, der Sicherheitssysteme der Computerwelt geknackt hat, heuert die betroffene Firma als Berater an.

Vermutlich ist Lärm tatsächlich das Gefährlichste: Nur dann entfaltet der Sozial-Störfall seine ganze Symbolkraft – und vermutlich bekämpft man ihn in Zukunft am Wirkungsvollsten, indem man ihm die Öffentlichkeit einfach aberkennt. Auf die Bestrafung seiner Dreistigkeit, auf den öffentlichen Pranger und die Ächtung seiner Taten, die unser Blut zum Kochen bringen – darauf müssten wir verzichten

 

179550 Postings, 8244 Tage GrinchAusserdem zu lang,

 
  
    #3
24.08.03 15:10
und zu flach. Ganz nach dem Motto: "Hauptsache mal was gesagt!"  

3010 Postings, 7898 Tage JoBarNein, zu anstrengend das doch so einfache Schwarz-

 
  
    #4
24.08.03 15:17
/Weiß-Universum zu Verlassen und über sich die möglichen Zwischentöne den Kopf zu zerbrechen. Deutschland eben :(

J

PS Grinch tue mir einen Gefallen und schwachsinniere nicht in meinen Threads herum. Falls Du auch mal wieder anders posten kannst, dann bist Du natürlich herzlich eingeladen.

 

1135 Postings, 7741 Tage StiefelfrauWußte gar nicht, daß Du so anspruchsvolle Seiten

 
  
    #5
24.08.03 15:59
in der SZ liest. Hatte Dich eigentlich mehr woanders verortet, siehe Coba-Chat.  

3010 Postings, 7898 Tage JoBarStiefel: Bist Du bei der CoBa? Weshalb

 
  
    #6
24.08.03 18:13
reagierst Du denn da so empfindlich?
Wenns Dein Naturell ist immer gleich zuzuschnappen, dann schlage ich vor wir gehen uns einfach aus dem Weg.

J  

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